BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Nebenprodukt Erkenntnis

28.10.2008: Die neoliberale Reorganisation der Hochschulen und Perspektiven kritischer Wissenschaft. Von Alex Demirovic

Heute vor 40 Jahren gründeten neben anderen der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth und der Ökonom Werner Hofmann den "Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler" (bdwi.de). Über 1000 Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftler eint heute ein "gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen Wissenschafts- und Bildungspolitik". Anläßlich des heutigen Feiertages erschien im BdWi-Verlag das Heft "Hochschule und Demokratie. Debattenbeiträge zu 40 Jahren Studentenbewegung, Hochschulreform und außerparlamentarischer Opposition" (Bestellung über verlag@bdwi.de). Unser Autor Alex Demirovic ist Privatdozent für Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der Universität Frankfurt/Main und gehört zum Vorstand des BdWi.

Die Produktionsbedingungen kritischen Wissens an den Hochschulen in Deutschland sind in den vergangenen Jahren erheblich geschwächt worden. Die Abwicklung von Wissenschaftlern an den ostdeutschen Universitäten hat nicht nur konservative Seilschaften in den Wissenschaftsverbänden und in politischen Wissenschaftsgremien gestärkt. Mehr als in anderen vergleichbaren Ländern wird in Deutschland radikalen, materialistisch-kritischen Ansätzen mit Feindseligkeit begegnet. Deutschland sei wieder ein "normales" Land; mit den Theorien, die doch nur Ideologien seien, müsse einmal Schluß sein.

Diese wissenschaftsfeindliche Haltung gewinnt praktische Bedeutung, weil in den vergangenen Jahren in den Hochschulen ein Generationswechsel stattgefunden hat und viele Stellen neu besetzt werden müssen. Die Generation derjenigen, die um 1968 herum eine Professur bekamen, scheidet aus Altersgründen aus, darunter auch diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten die Kontinuität kritischer wissenschaftlicher Forschung und Lehre repräsentierten. Daß sie dies taten, ist nicht selbstverständlich. Kritische Forschung gab es in den 70er Jahren, vielleicht noch in den 80ern in vielen wissenschaftlichen Disziplinen. In den meisten Fächern ist davon wenig oder gar nichts übriggeblieben. Die Produktion kritischen Wissens schrumpfte auf wenige sozialwissenschaftliche Fachgebiete und spielt auch hier eine zumeist marginale Rolle.

Von den Verteidigern des Status quo wird die Gelegenheit genutzt, die Hochschulen technokratisch derart zu reorganisieren, daß kritische Wissenschaft an ihnen keinen Ort mehr finden können soll. Die in Gang gesetzten Veränderungen bedrohen aber darüber hinaus auch die traditionellen Formen von Wissenschaftlichkeit. Es handelt sich um einen Umbau, der durch mehrere Strukturelemente gekennzeichnet werden kann. Das, was alles zusammenhält, ist das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Sinn werden die Hochschulen als ökonomische Unternehmen auf dem Wissensmarkt verstanden, Bildung als eine Investition, Studierende als Kunden. Wissen und Wissenschaften werden in Wert gesetzt.

Wirtschaftsstrukturen an der Uni

Im Namen der Autonomie der Hochschulen entläßt die Politik die Hochschulen aus der öffentlichen Kontrolle. Sie verweigert damit, die Verantwortung für die Misere zu tragen, die sie mit angerichtet hat, indem sie die Hochschulen nicht ausreichend mit finanziellen Mitteln und Personal ausgestattet hat, um die Zunahme der Studierendenzahlen und die Forschungsanforderungen zu bewältigen. Autonomie heißt jedoch nicht: Autonomie der Wissenschaftler, sondern die der Hochschulleitungen. Die Rektoren und Präsidenten leiten die Hochschulen wie Manager Wirtschaftsunternehmen. Sie sind dem akademischen Senat und einem personell kleinen Hochschul- oder Universitätsrat gegenüber verantwortlich, in dem überwiegend Vertreter der regionalen Wirtschaft sitzen. Doch die Mitglieder des Rates, die für das Ehrenamt wenig Zeit haben, werden ihrerseits auf Vorschlag der Hochschulleitung ausgewählt, und was den Senat betrifft, so hat er den Hochschulleiter gewählt. Mit anderen Worten: Es handelt sich um einen geschlossenen Machtkreislauf. Beide Gremien sind den Rektoren oder Präsidenten verpflichtet und kontrollieren sie nicht, sondern unterstützen ihre Handlungsweise gegenüber dem Unmut vieler Hochschullehrer und Studierender, die als "Reformblockierer" gelten.

Die Hochschulleiter entscheiden an den Kollegen und der eigenen Verwaltung vorbei, ihr Handeln nimmt oftmals autoritäre, cäsaristische und wahnhafte Züge an. Sie entscheiden über die Verteilung der finanziellen Mittel, über Studiengänge und die Denomination von Professuren; sie haben die Macht, direkt oder indirekt mitzubestimmen, wer Dekan wird und wer in einer Berufungskommission sitzt. Sie bestimmen auch externe Mitglieder in diese Einrichtung und entscheiden am Ende über die Besetzungen von Stellen. Mit den neu Berufenen schließen sie Zielvereinbarungen, die erfüllt werden müssen: Einwerbung von Drittmitteln, Veröffentlichungen, Zahl der Abschlüsse und Promotionen - während Lehre trotz aller Rhetorik eine marginale Rolle spielt.

Studierende sind an Evaluationen des Studiums nicht beteiligt; sie können nur durch die Wahl des Studienorts mitentscheiden, und diese hängt oft von wissenschaftsexternen Gesichtspunkten wie Partnerschaft oder Freizeitwert der Universitätsstadt ab. So wie die Hochschullehrer in ihren Mitspracherechten eingeschränkt werden, gilt dies auch für Studierende, deren Vertretungsorgane beseitigt, ignoriert oder durch finanzielle und rechtsaufsichtliche Auflagen stranguliert werden. Ausscheiden aus dem Tarifvertrag, Privatisierung der Hochschulen, Auslagerung von nichtwissenschaftlichen Dienstleistungen schwächt die Personalvertretung und die gewerkschaftliche Einflußnahme.

Kunst des Antragstellens

Ein wesentliches Mittel der neuen autoritären Führung der Hochschulen ist das Instrument der Marktsteuerung. Dazu gehört die Einwerbung von Drittmitteln. Formal sollen sie dazu dienen, Forschung zu ermöglichen. Doch bedeuten sie real etwas anderes. Die formelle Reputation, die Ausstattung und das Gehalt der Hochschullehrer richten sich - oder sollen sich zukünftig vermehrt richten - nach den eingeworbenen Drittmitteln. Verstärkt wird der Druck symbolisch dadurch, daß Drittmittel als Ausweis von Wissenschaftlichkeit gelten. Da die Förderung von eigenem Nachwuchs in einem hohen Maß an Drittmitteln hängt, sind damit auch andere Aspekte verbunden: längerfristige Absicherung der eigenen Forschung, Fürsorge gegenüber Jüngeren, denen man einen Arbeitsplatz ermöglichen will, paternalistische Mentalität, Eitelkeit, über jüngere Mitarbeiter zu verfügen, Konkurrenz unter Kollegen.

Die Arbeit an den Anträgen hat Konsequenzen. Die Wissenschaftler werden zu Bittsteller von finanziellen Mitteln. Ihre Arbeit als solche, also Lehre und Forschung, ist nicht mehr anerkannt; vielmehr müssen sie immerzu Extraleistungen nachweisen und sich Leistungskontrollen unterziehen. Das verpflichtet sie, die sie interessierenden Fragen in die Gestalt von antragsfähigen Problemen umformulieren, also in ein Format, das ihnen abverlangt, daß es sich in einem Zeitraum von zwei Jahren bearbeiten läßt - auch wenn alle Beteiligten wissen, daß das nicht geht. Oder sie müssen, um Geld für Forschung und Mitarbeiterentlohnung zu erhalten, Fragen suchen oder erfinden, obwohl ihre Forschungsinteressen in eine ganz andere Richtung gehen.

Die Anträge erfordern viel Arbeitszeit. Da die Ablehnungsquoten sehr hoch sind - bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft über 70 Prozent -, wird in die Erstellung der Anträge die Arbeitszeit von oftmals mehreren Monaten investiert (wohlgemerkt: für eine Projektförderung von einer Person für zwei Jahre), die im Falle einer Absage zumeist verloren ist. Dazu kommt, daß Kontakte gepflegt werden müssen, um zu den bei der Verteilung der Mittel zu berücksichtigenden Mitgliedern des Fachs zu gehören oder um die Auswahl der Gutachter informell mitzubestimmen oder um bei diesen als einflußreich zu gelten, so daß man als "gut" gilt und den Netzwerken der Gutachter eine Ablehnung des Projekts schwerfällt.

Die Anträge müssen bestimmten Regeln entsprechen. Sie dürfen nicht zu avanciert, innovativ, unkonventionell und kritisch sein, sondern müssen "anschlußfähig" bleiben, um nicht auf Ablehnung bei den Gutachtern zu stoßen, die zumeist zum Mainstream eines Fachs gehören und neuere Debatten nicht oder nur unzureichend kennen. Verlangt werden operationalisierbare Hypothesen, die sich in kleinen Schritten bearbeiten lassen, keine eigensinnige Thesen oder große Theorien. Die Anträge dürfen nicht zu viel Wissen anzeigen, da sonst eine Förderung überflüssig wäre, aber auch nicht zu wenig, weil sie dann der Förderung nicht wert wären. Das alles fordert Taktik und Zurückhaltung, die am Ende in eine wirkliche Zensur mündet, denn es muß antizipiert werden, woran die Gutachter Anstoß nehmen könnten.

Da viel Arbeit an diesen Anträgen hängt und es immer auch um eine Fortsetzung der Finanzierungen geht, beugen sich die Jüngeren dem inhaltlichen Druck, aber auch dem Arbeitsdruck, den die Hochschullehrer an sie weitergeben, die Sorge tragen müssen, daß das Projekt erfolgreich zu Ende geführt wird, damit sie Anschluß- oder Folgeprojekte beantragen können.

Neofeudale Arbeitsbeziehungen

Marktförmig sollen auch die Einkommen der Wissenschaftler festgelegt werden. Noch sind in Deutschland die Gehälter weitgehend politisch vorgegeben. Doch es gibt die Tendenz, stärkere Leistungsakzente zu setzen, indem besonders leistungsstarken Hochschullehrern Gehaltsaufschläge gezahlt werden - die vor dem Hintergrund von Kostenneutralität an anderer Stelle eingespart werden müssen. Es gibt an Hochschulen Pläne, die Leistungen der Dozenten in einem Ranking zu vergleichen und den besten zehn Prozent einen Gehaltsanteil zu geben, der den schlechtesten zehn Prozent genommen wird. Mit der Öffnung und Spreizung der Gehälter zieht neben die akademische auch die ökonomische Konkurrenz in die Hochschulen, letztere verstärkt erstere. Das ist erwünscht und soll Anreize vermitteln. Werden die Hochschulen in private Einrichtungen umgewandelt, wird es möglich werden, in individuellen Verträgen Entgelte oder Arbeitszeiten von Hochschullehrern außertariflich festzulegen. Dies soll den Spielraum schaffen, Wissenschaftlern mit großer Reputation zu verpflichten, damit sie dazu beitragen, daß die jeweiligen Hochschulen in nationalen und internationalen Rankings höher eingestuft werden und größeren Erfolg bei der Zuteilung von öffentlichen Mitteln, beim Einwerben von Stiftungsgeldern, bei der Bewilligung von Drittmitteln oder schließlich bei Studiengebühren erlangen.

Solche Leistungsanreize sind auch in der Ökonomie ruinös, doch in kreativen Prozessen, die auf Diskussion und Kooperation angewiesen sind, schadet diese Art außerwissenschaftlichen Anreizes. Es kommt zu Hierarchiebildung: Die einen verdienen mehr, gleichzeitig lehren und prüfen sie weniger und haben mehr Mitarbeiter. Es werden schlecht bezahlte Stellen ausschließlich für die Lehre mit Lehrdeputaten von zwölf bis 18 Stunden eingerichtet. Von der Forschung getrennt, reduziert sich die Lehre damit auf die Vermittlung von standardisiertem Wissen. Die Ausrichtung auf Gratifikationen trägt dazu bei, daß alle Beteiligten darauf achten werden, ihr Wissen möglichst für sich zu behalten und mit anderen nur dann zu kooperieren, wenn es sich für auch "rechnet". Im Verhältnis zu jüngeren Mitarbeitern entstehen auf diese Weise neofeudale Arbeitsbeziehungen. Jene werden oftmals als bloße Sachbearbeiter gesehen, die ein von oben vorgegebenes Projekt durchführen. Die Ergebnisse gehören dem Professor, der sie unter eigenem Namen vermarktet. Dies fördert wissenschaftlichen Opportunismus. Da die Hochschullehrer eher Manager als Wissenschaftler sind, übernehmen sie die Ergebnisse der Forschung auch dann, wenn sie ihren sonstigen Ansichten nicht entsprechen; und ebenso passen sie die Ergebnisse dem Ziel an, in Medien oder politischen und wissenschaftlichen Gremien nicht anstößig zu wirken.

Ökonomisierung des Studiums

Dem neuen Steuerungsmodell entspricht die Reorganisation des Studiums. Das Studium soll als Investition begriffen werden. Mit anderen Worten: Es wird ökonomisiert und soll Geld kosten. Die Hochschulen bieten das Studium als eine Ware für eine zahlungskräftige Kundschaft an. Diese Ware, also weniger das Wissen als der verliehene Titel, muß, damit er zu einem gewinnträchtigen Beruf führt, ein knappes, also teures Gut sein und ein hohes Prestige besitzen. Die besten Professoren, das beste Ranking, eine hohe Reputation sollen gewährleisten, daß es sich um eine Elite-, nicht um eine Massenuniversität handelt. Wissenschaftliche Erkenntnis ist nur ein gelegentlich sich einstellendes Nebenprodukt des Geschäfts.

Die Hochschulen können in Deutschland nur in einzelnen Bundesländern und nur bis zu einer begrenzten Höhe Gebühren erheben. Dies soll sich ändern. Die Einführung hoher Studiengebühren sind ein wesentliches Element des gegenwärtigen Umbaus - und deswegen ist die Abschaffung dieser Gebühren in Hessen ein bedeutsamer Vorgang. Mit Markt hat das nichts zu tun. Denn die Hochschulen wollen sich vorbehalten, ihre Studierenden leistungs- und vor allem zahlungsorientiert auszuwählen. Die Studiengänge selbst werden nicht aus innerwissenschaftlichen Gesichtspunkten geschaffen, sondern sind ein Geschäft. Studiengänge sollen zahlungsfähige Nachfrage erzeugen, sie werden als Exportartikel auf dem Weltmarkt angeboten und verkauft. Damit sie als gute Ware gelten, werden sie nach internationalen Standards bewertet, also akkreditiert und evaluiert. Sinkt die Nachfrage nach ihnen und werden sie negativ evaluiert, dann können sie geschlossen werden. Hochschulen werden also mit solchen Instrumenten ausgestattet, um sich mit neuen Studiengängen sehr flexibel auf neue Bedürfnisse der Wirtschaft einzustellen.

Ein Flexibilitätshindernis sind die Wissenschaftler. Doch auch in diesem Bereich zeichnet sich ein Anpassungsprozeß ab. Der Stamm der teuren Forschungsprofessuren ist klein und wird durch eine Vielzahl von geringer bezahlten Lehrprofessuren und prekären Lehrkräften ergänzt. In Österreich ist es bereits möglich, Hochschullehrern nach einer zweimaligen negativen Evaluation zu kündigen. Da die Evaluatoren von den Hochschulleitungen eingesetzt werden, können diese den Prozeß ihrerseits in einem gewissen Maße steuern. Langfristige Beschäftigungsverhältnisse, gar der Beamtenstatus für Wissenschaftler, werden systemfremd und vermutlich bald abgeschafft.

Für die Studierenden selbst haben diese Veränderungen Konsequenzen. Zunächst finanzielle: Sie müssen, wie in Baden-Württemberg, gebührenpflichtige Aufnahmegespräche führen, um zu einem Studienfach zugelassen zu werden; sie müssen Studiengebühren zahlen. Für die Finanzwirtschaft sind Bildungskredite ein Milliardengeschäft. Für die Studierenden bedeutet dies, daß sie sich verschulden und ihre zukünftige Lebensplanung erheblich belasten. Zudem verschärft sich der Zeitdruck, der sie hindert, angemessen nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu studieren. Sie werden den gegenwärtigen bildungspolitischen Plänen zufolge zukünftig bei der Immatrikulation jünger sein (zwischen 16 und 18 Jahren), ihr Studium wird je nach Fach und Hochschule sechs oder acht Semester bis zum ersten Hochschulabschluß, dem Bachelor, umfassen; der Zugang zum weiterführenden Masterstudiengang wird durch Quoten begrenzt.

Die Auswahl der Lehrveranstaltungen ist über große Strecken, wenn überhaupt, nicht mehr frei, da die Studienordnungen Studienjahre vorsehen, in denen bestimmte Module belegt werden müssen. Die Lehrveranstaltungen müssen besucht werden, egal, ob das Thema oder die Hochschullehrer interessant erscheinen. Da zudem der Zugang zu den Lehrveranstaltungen begrenzt ist, müssen die Studierenden im voraus viele Lehrveranstaltungen belegen, weil sie nicht wissen können, in welchen sie angenommen werden. Unter dem finanziellen und studienorganisatorischen Druck bleibt den Studierenden also kaum die Möglichkeit, ihren Interessen folgend zu studieren und Bildungserfahrungen zu machen, denn die Möglichkeiten, in freien Arbeitsgruppen selbstbestimmt und mit Muße zu studieren, sind erheblich eingeschränkt. Der Bachelor wird zu einer Art besserem Abitur. Für alle Beteiligten, die Lehrenden wie die Studierenden, wird die Möglichkeit, Wissenschaft zu erfahren, beseitigt. Was bedeutet das für kritische Wissenschaft? Wofür sollen sich kritische, die Wissenschaft und ihre Freiheit vertretende Kräfte engagieren?

Demokratische Wissenschaft

Es gibt in der Linken seit langem eine Diskussion darüber, welchen Schwerpunkt die hochschulische Ausbildung haben soll. Wird der Schwerpunkt auf Wissenschaft gelegt, besteht die Gefahr, eine elitäre und undemokratische Bildungsmentalität zu fördern; wird umgekehrt die berufspraktische Ausbildung favorisiert, besteht die Gefahr, konformistisch den Funktionsanforderungen des Arbeitsmarktes zu dienen. Da heute von Neoliberalen die langzeitorientierte wissenschaftliche Fachqualifikation zugunsten einer kurzlebigen Verwendung in Frage gestellt wird, da mit der Vermarktlichung der Hochschulen die sozialen Zugangsbarrieren wieder höher werden, wird zu Recht die soziale und demokratische Hochschule gefordert. Diese soll den sozialen Zugang, die Mitspracherechte der Statusgruppen in demokratischen Gremien und die seriöse Berufsausbildung sicherstellen. Das alles ist dringend geboten.

Allerdings muß auch dem Charakter der Wissenschaftlichkeit der Qualifikation, vor allem dem kritischen Aspekt der Bildungserfahrung von Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Damit ist zweierlei gemeint: Zum einen geht es in den vorhandenen Disziplinen um die Installierung kritischer Inhalte, um Forschungen, die an Aufgaben des Friedens, der Beseitigung der Armut und der nachhaltigen Entwicklung orientiert sind. Es soll Wissenschaft betrieben werden, die enger mit den Problemen verbunden ist, die die meisten Menschen in ihrer Alltagspraxis beschäftigen. Doch die Grenze ist da, wo es sich um Disziplinen handelt, die sich voneinander ebenso wie von den Praktiken der Gesellschaft abgrenzen und sich nicht als Bereich einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung sehen, in der sie ein fragwürdiges Privileg genießen.

Es geht deswegen zweitens noch um etwas Radikaleres, um die Erfahrung der Wissenschaft für die eigene Person und das eigene Leben, also um Bildung. Bildung ist nichts diffuses, es handelt sich um die konkrete Erfahrung, daß die Begriffe, die in der Theorie ausgearbeitet werden, auf die praktischen Erfahrungen und das Wissen vieler Menschen zurückgehen. Wir leben in diesen Begriffen und ändern in der Arbeit an ihnen uns und unsere Verhältnisse. Begriffe sind keine beliebigen Erfindungen von genialen Einzelpersonen, sondern sind kollektive Produktionsmittel des Denkens, der Art und Weise, die Welt zu erschließen und auf sie einzuwirken. Sie sind objektive Denkformen, die den Wissenshorizont unseres Lebens begrenzen. Deswegen ist es niemals gleichgültig, wie diese Begriffe beschaffen sind, wie sie verwendet werden, in welchen Zusammenhängen sie stehen, in welche Praktiken sie eingeschrieben sind, welche Macht sich mit ihnen verbindet. Die Erfahrung und kritische Aneignung der Begriffe, ihres Zusammenhangs und ihrer praktischen Bedeutung befähigt dazu, sich im Denken frei und autonom zu bewegen, die vermeintliche Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft, ihre epistemologische Ordnung in Frage zu stellen und alternative Zukünfte im Gedankenspiel mit anderen zu erschließen. Bestehende Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung können durch neuartige Wissenspraktiken derart verändert werden, daß neue Erkenntnisgegenstände, neue Methoden kreativ entwickelt werden, daß alle an den Erkenntnispraktiken und an den Entscheidungen über das Wissenswerte und die Formen des Wissens teilhaben können. Ob für einen solchen Demokratisierungsschub des Wissens und der Produktion des Wissens die Hochschulen schließlich noch die geeignete Organisationsform sind? Die Antwort wird eine freiere Zukunft geben, die wir durch einen vorbehaltlosen Mut zum Wissen vorbereiten helfen sollten.

Erstveröffentlichung in der junge welt vom 28.10.2008. Wir danken der Redaktion für ihre Erlaubnis zum Abdruck.

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