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Klaus Holzkamp

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Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?

15.12.2004: Über den Geschlechterdeterminismus in der Hirnforschung und Ansätze zu seiner Dekonstruktion

  
 

Forum Wissenschaft 4/2004; Titelbild: Karl Blossfeldt (Herr und Frau Wilde)

Als proklamierte Leitwissenschaften erleben die Lebenswissenschaften gegenwärtig einen Boom. Die Hirnforschung ist dabei eines der Zugpferde, wenn es darum geht, gesellschaftliche oder soziale Fragestellungen und Probleme auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Sigrid Schmitz analysiert die immanenten Widersprüche dieser Verkehrung und zeigt, dass genau sie in populärwissenschaftlichen Medien Vorzug genießt.

Nicht nur im Bildungsbereich - Stichwort Pisa - werden Intelligenz und Lernfähigkeit neurobiologisch begründet. Auch wenn es (wieder einmal) darum geht, Differenzen zwischen Männern und Frauen im Verhalten, in Fähigkeiten und Einstellungen zu erklären, sind die modernen Neurowissenschaften nicht weit. Denn mit ihren neuen Methoden des »Brain Imaging« versprechen sie den »Blick ins lebende und arbeitende Gehirn«. Mit Hilfe der Bild gebenden Verfahren der Computertomographie werden Daten in Bilder umgesetzt, die Hirnstrukturen und Aktivierungsmuster visualisieren sollen. Machen wir uns nichts vor - diese Bilder sind faszinierend. Sie sind bunt, sie wirken überaus lebendig und sie vermitteln Eindeutigkeit. Ein roter Fleck im linken Hirnlappen impliziert demnach beispielsweise, dass genau an dieser Stelle das Sprachareal liege und es bei Frauen anders ausgebildet sei als bei Männern.

Seit mehr als 100 Jahren werden Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Gehirn gesucht - und angeblich gefunden. War es anfangs die Schädelform, zu anderen Zeiten das Volumen, die Größe oder das Gewicht des Gehirns, so steht heute die Asymmetrie der Hirnhälften im Mittelpunkt der Geschlechterdifferenzforschung. Männerhirne sollen asymmetrischer (lateraler) arbeiten, also je nach Aufgabe vorwiegend die rechte (Raumorientierung) oder die linke (Sprache) Hemisphäre einsetzen. Frauenhirne sollen symmetrischer (bilateraler), also mit beiden Hirnhälften zusammen arbeiten.

Wenn wir die Geschichte der Geschlechterdifferenzforschung Revue passieren lassen, dann werden einige wiederkehrende Schemata deutlich. Die Studien und Befunde sind in vielen Bereichen enorm widersprüchlich. In den Hirnbildern und in der gesellschaftlichen Verbreitung der neurowissenschaftlichen »Erkenntnisse« tauchen jedoch solche gegensätzlichen Befunde nicht mehr auf. Warum scheint es so wichtig, so verkaufsträchtig - nicht nur für Science-Magazine - und so äußerst attraktiv zu sein, Geschlechterunterschiede im Gehirn binär und eindeutig festzuschreiben und biologisch zu begründen?

Ich analysiere im Folgenden mit dem methodischen Instrumentarium der Genderforschung das Fassetten reiche Netzwerk zu Geschlecht und Gehirn. Ich möchte die methodischen und theoretischen Kritikpunkte an einer einseitig biologisch-deterministischen Forschung aufzeigen und fragen, wie unsere heutigen Vorstellungen über Strukturen und Funktionen des Gehirns durch die digitalen Hirnbilder beeinflusst werden und wie sich geschlechtliche Körperkonzepte als vorgegeben, ursächlich und unveränderlich darin manifestieren. Mit Hilfe des Embodiment-Ansatzes werde ich einen differenzierteren Blick auf die Vielfalt und Konstituierung körperlicher Materialität werfen, um die Dichotomie von Natur/Kultur, Körper/Geist und nicht zuletzt Sex/Gender in den Neurowissenschaften zu dekonstruieren. Unser Projekt GERDA (GEndeRed Digital brain Atlas), ein in der Konzeption befindliches Informationssystem zu Geschlecht und Gehirn, soll diese Aspekte der kritischen Öffentlichkeit zugänglich machen.1

Dimensionen der Genderforschung in den Naturwissenschaften

Als wissenschaftskritische Methode befasst sich die Genderforschung sowohl mit der Historie, der Forschungspraxis und der Theoriebildung innerhalb der Naturwissenschaften als auch mit den wechselseitigen Einflüssen zwischen ihr und den gesellschaftlich-kulturellen Disziplinen. Evelyn Fox Keller hat 1995 drei Dimensionen der Analyse als Instrumentarium der Genderforschung systematisiert: »Women in Science« - Frauen in den Naturwissenschaften, »Science of Gender« - biologisch-medizinische Konstruktion von Geschlechterdifferenzen und »Gender in Science« - Geschlechterideologie in wissenschaftlicher Methodik und Theoriebildung.2 Die letzten beiden sind für eine Analyse der Hirnforschung grundlegend und sollen daher an dieser Stelle kurz ausgeführt werden.3

Mit der Analysedimension »Science of Gender« haben Forscherinnen beispielsweise in Biologie und Medizin androgene Verzerrungen, Ausschlüsse weiblicher Perspektiven und die häufig unreflektierte Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen aufgedeckt. Sie hinterfragen die angeblich objektiven und neutralen Methoden der Analyse, zeigen Geschlechtereinflüsse in der Ergebnisinterpretation und kritisieren unzulässige Verallgemeinerungen von Tieren auf den Menschen sowie von Einzelbeispielen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Bis heute finden wir in biomedizinischen Lehrbüchern und Texten häufig Darstellungen, die eine »Normierung des Männlichen« unter »Ignoranz des Weiblichen« implizieren. So sind viele Hirnschemata mit Konturen eines männlichen Kopfes unterlegt. Implizit trägt diese Auswahl die Botschaft: das Männliche sei die Norm des Menschlichen. Wir könnten daraus ableiten, dass Unterschiede zwischen Männern und Frauen als nicht relevant angesehen würden. Gleichzeitig zeichnet sich jedoch in den letzten 10 Jahren eine Renaissance der Biologismen und Essentialismen zur Erklärung von Geschlechterunterschieden bezüglich der Entwicklung, des Verhaltens, der Leistungen bis hin zur sexuellen Orientierungen von Frauen und Männern ab. Wir stehen also vor einem Widerspruch, der nicht offen gelegt wird. Als Ergebnis werden (wieder einmal) Geschlechterzuschreibungen und Geschlechterbeziehungen in der menschlichen Gesellschaft als natürliche Ordnungen unreflektiert festgeschrieben und gleichzeitig wird das Weibliche in Abgrenzung zur männlich-menschlichen Norm als Abweichung oder sogar als Mangelgeschlecht interpretierbar.

»Gender in Science« tritt aus dem fachimmanenten Diskurs heraus und analysiert die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlich-kulturellen Geschlechterverhältnissen und den Konstellationen, unter denen Wissenschaft betrieben wird. Naturwissenschaften sind, ebenso wie alle anderen Wissenschaftszweige, gesellschaftliche Unternehmungen. Die Naturwissenschaft ist nicht objektiver als andere Wissenschaften, nur weil sie ihre Befunde in einem quantitativ-experimentellen Design reproduziert. Denn auch dieses Design ist von bestimmten theoretischen Vorannahmen geleitet, welche die Auswahl der Daten, ihre Einschlüsse und Auslassungen und die Interpretationen der Befunde beeinflussen. Die Dekonstruktion des Objektivitätsmythos wurde von der Genderforschung um die quer liegende Kategorie des Geschlechts erweitert. In einer Gesellschaft, die von Geschlechterkonstruktionen weit reichend und tief greifend geprägt ist, wirkt Geschlecht auch auf Erkenntnis- und Gestaltungsprozesse in den angeblich neutralen Naturwissenschaften. Soziale Werte und Normen, unterschiedliche gesellschaftliche Interessen, Schwerpunktsetzungen, Sichtweisen und methodische Orientierungen nehmen Einfluss auf die wissenschaftliche Theoriebildung, die Untersuchungsmethodik und die Ergebnisinterpretation. Gefordert wird von Seiten der Genderforschung zumindest die Offenlegung und Reflexion des eigenen Standpunktes und die Transparenz der Entscheidungsschritte im Forschungsprozess, um die präsentierten Befunde in einem Netz von Argumentationen, Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen auch nach außen sichtbar zu machen. Donna Haraway nennt die Ergebnisse einer solchen Offenlegung »situiertes Wissen«.4

Von der Sex-Gender-Dichotomie zum Embodiment-Ansatz

In den Neurowissenschaften wird Geschlecht nahezu ausschließlich als biologische Kategorie »Sex« verstanden (auch wenn manche Publikationen der Hirnforschung fälschlich den Begriff Gender im Titel führen). Die Trennung der Kategorien Sex und Gender hat für die Argumentationen gegen einen Alleinerklärungsanspruch der Kategorie Geschlecht durch die biologische Determination des Sex enorme Vorteile gebracht. Denn sie deckte Geschlechterzuschreibungen, Geschlechterrollen, Bewertungen, Hierarchisierungen, Verhaltensweisen, Selbstbilder usf. auf, deren Ausbildung im Sinne des sozialen Geschlechts (Gender) weitestgehend gesellschaftlichen Strukturierungen, Aushandlungen und Bedeutungszuschreibungen entspringen. Sex als biologische Kategorie und die körperliche Materialität des Geschlechts wurden im Rahmen dieser Dekonstruktionsansätze im Weiteren aus der Analyse ausgeklammert. Damit hat sich der Diskurs aber auch Probleme eingehandelt, die uns heute einholen. Die aktuellen, naturwissenschaftlich begründeten Differenzansätze bewerten körperlich unterscheidbare Strukturen erneut als Beweis für einen biologischen Essentialismus von Geschlecht im Sinne von Sex, der allen Genderphänomenen ursächlich zu Grunde liegen soll. Wie kann die kritische Genderforschung mit diesem erneuten Siegeszug des determinierenden Sex, begründet auf körperliche Materialität, umgehen?

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass m.E. nur transdisziplinäre Ansätze unter Einbezug sowohl der naturwissenschaftlichen als auch der gesellschaftswissenschaftlichen Genderforschung die kulturellen Konstruktionen von Geschlecht aufzudecken vermögen. Wir kommen jedoch nicht umhin, uns mit der unheilvollen, weil unreflektierten Allianz von Materialität und Essentialismus genauer zu beschäftigen. Ein Ansatz ist es zu hinterfragen, ob die Gleichsetzung von Körper mit Natur, von Biologie mit Sex und von Materialität mit vordiskursiver/ahistorischer/ursächlicher Existenz wirklich so einfach zu ziehen ist. Unter dem Begriff des »Embodiment« verstehe ich die Konstituierung des individuellen Körpers, seiner Strukturen und Funktionen in einem Netzwerk gesellschaftlicher und kultureller Praxen.5 Denn dem Körper werden nicht nur geschlechtliche Bedeutungen zugeschrieben, er wird in seiner Materialität selber durch geschlechtlich geprägte Erfahrungen geformt, und die Wahrnehmung dieses Körpers beeinflusst umgekehrt wiederum Denken und Handeln. Damit sind Sex und Gender, Körper und Kultur, untrennbar miteinander verwoben. Sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und unterliegen beständig wechselseitigen Veränderungsprozessen. Wenn wir den Begriff des Embodiment in seiner radikalen Bedeutung auf die Einschreibung von Erfahrungen in die Materialität des Körpers anwenden, kann eine Brücke zwischen den kulturellen Konstruktionen und den Konstituierungen der Körperrealitäten von Geschlecht geschlagen werden, ohne einseitige Ursachenzuweisungen vorzunehmen.

Hirnplastizität - Beispiel für Embodiment

Wie kann der Ansatz des Embodiment für die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterdeterminationen in der modernen Hirnforschung nutzbar gemacht werden? Selbst innerhalb der Neurowissenschaften zeigt die Plastizitätsforschung inzwischen, wie dynamisch sich unser Gehirn beständig an Erfahrungen anpasst. Netzwerke aus Nervenzellen und Synapsen im Gehirn, und hier insbesondere in der Hirnrinde (Cortex) werden stabilisiert, ab- und umgebaut, immer abhängig von den eingehenden Umweltinformationen und den individuellen Verarbeitungsprozessen. Nerven-Netzwerke »erlernen« wiederholte Muster an Informationen und bilden sie in der körperlichen Materie des Gehirns ab. Erkennen, Entscheiden, Denken und Verhaltensregulation erfolgen im Gehirn dann durch selektive Aktivierung solcher Netzwerke. Der Cortex ist also weder in seiner Verschaltung noch in seinen Aktivierungsmustern von vornherein festgelegt. Statt dessen verändert sich seine Materialität beständig in der eigenen Entwicklung in Auseinandersetzung mit bestimmten sozialen und kulturellen Bedingungen. Dies erklärt möglicherweise die Vielfalt von Hirnstrukturen und Funktionen bei verschiedenen Personen (interindividuelle Variabilität) und deren Veränderungen im Verlauf des Lebens (intraindividuelle Variabilität). Damit ist aber auch ein neurowissenschaftlicher Befund zur Hirnaktivierung bei der Lösung bestimmter Aufgaben, oder zur Größe bestimmter Hirnareale, der zu einem bestimmten Lebenszeitpunkt von einer Person erhoben wird (im Brain-Imaging werden vorwiegend Erwachsene untersucht), nur eine Momentaufnahme der körperlichen Realität. Sie sagt noch nichts über die Historie der Konstituierungsprozesse aus, die zu dieser Struktur oder zu jener Aktivierung geführt haben. Noch weniger lässt sie Rückschlüsse dahingehend zu, inwieweit die gemessenen Phänomene auf eine biologische Determination zurück zu führen sind oder in welchem Ausmaß sie Ergebnis von Erfahrungen, Lernen und individuellem Handeln widerspiegeln.

Über Unterschiede, die gar keine sind

Ich möchte die beschriebenen Ansätze der Genderforschung auf eine Befundanalyse, eine methodische Kritik und eine Reflexion der zu Grunde liegenden theoretischen Konzepte anwenden, um das prominente Bild der angeblich bewiesenen Hirnunterschiede zwischen Frauen und Männern und seine Implikationen für gesellschaftliche Geschlechtszuschreibungen zu hinterfragen.

Mit Hilfe der Computertomographie (u.a. funktionelles Magnetresonanzimaging, fMRI oder Positronenemissionstomographie, PET) werden Aktivierungsmuster in bestimmten Hirnarealen bei der Lösung spezifischer Aufgaben gemessen.6 Diese Befunde werden dann zur Erklärung von Leistungsunterschieden in diesen Aufgaben herangezogen. Die Highlights der Geschlechterdifferenzforschung im Gehirn sind Sprachverarbeitung (mit postulierten generellen Vorteilen der Frauen), Raumorientierung (mit dem Stereotyp besserer männlicher Fähigkeiten) und die Frage nach der Dicke des Faserbalkens, des Corpus Callosum, der die beiden Hirnhälften verbindet. Denn im Grunde genommen dreht es sich immer um die schon eingangs erwähnte Frage, wessen Gehirn asymmetrischer (Lateralität) und wessen Gehirn symmetrischer (Bilateralität) arbeitet.

Die Hirnareale, die am komplexen Netzwerk der Sprachverarbeitung beteiligt sind, werden bei rechtshändigen Personen vor allem in der linken Gehirnhälfte aktiviert. Die aktuelle Forschungsfrage ist also, ob bei Männern diese linksseitige Lateralität stärker ausgeprägt ist als bei Frauen. 1995 schaffte es eine der ersten fMRI-Studien auf die Titelseite von Nature. Das Ehepaar Shaywitz und KollegInnen erhoben u.a. die Aktivierung im vorderen Hirnlappen bei der Reimerkennung.7 Sie berichteten von 19 männlichen Probanden mit eindeutiger linksseitiger Aktivierung, wohingegen sie bei 11 von 19 getesteten Frauen Aktivierung in beiden vorderen Hirnhälften feststellten. In der Publikation wird ein deutlicher Schwerpunkt auf diese 11 »bilateralen« Frauen gelegt. Die anderen 8 Frauen (also nahezu die Hälfte von ihnen) werden nicht weiter beschrieben. Methodische Kritik an der Studie benennt die geringe Versuchspersonenzahl, fehlende Angaben zu Effektstärken und eingeschränkt ausgewählte Hirnareale. Trotz der vielfältigen Kritik wird die Untersuchung allerdings in populärwissenschaftlichen Zeitschriften oder im Internet bis heute fast ausschließlich als Beleg für stärkere Bilateralität der generellen (!) Sprachverarbeitung bei Frauen gegenüber Männern zitiert. Innerhalb der Neurowissenschaften gibt es jedoch auch widersprüchliche Befunde. Julie Frost und KollegInnen konnten 1999 in einer fMRI-Untersuchung mit 50 Frauen und 50 Männern bei einer Wortpaarerkennung keine Unterschiede in der Asymmetrie der Hirnaktivierung feststellen.8 Auch eine neue Metastudie von Iris Sommer und Kolleginnen zur derzeitigen Befundlage stützte die Asymmetrieaussage zugunsten der Männer nicht.9 Die Variabilität innerhalb der Geschlechtergruppen ist weitaus höher als die Unterschiede zwischen ihnen.

Ein weiterer Aspekt wird im Vergleich der Präsentationsformen der Ergebnisse beider Studien deutlich. Während die Shaywitz-Studie klassischerweise die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Mittelpunkt stellt, präsentieren Frost und KollegInnen ihre Befunde in einer Bildserie, die Ähnlichkeiten hervorhebt. Denn bei zufälliger Einteilung in zwei Gruppen, ebenso wie bei Aufteilung in Frauen und Männer, lässt sich in den bunten Bildern der Aktivierungen kein Unterschied erkennen. Gleichheiten sind als Ergebnis jedoch in der naturwissenschaftlichen Publikationspraxis unüblich, und so zeigen detaillierte Analysen der Forschungslandschaft, dass viele festgestellte Nicht-Unterschiede höchstens am Rande erwähnt werden, aber selten im Mittelpunkt einer Publikation stehen. Noch weniger finden sie den Weg in die populärwissenschaftliche Presse. Die Frost-Studie wird, obwohl sie in dem renommierten Journal Brain erschienen ist, kaum zitiert, vielleicht weil sie dem erwarteten Muster der Geschlechterdifferenzforschung eben nicht entspricht.

Eine Reihe von neueren Untersuchungen zeigt inzwischen, wie plastisch sich der Cortex auf individuelle Spracherfahrung einstellt. Die Arbeitsgruppe um Prof. Cordula Nitsch an der Universität Basel konnte zeigen, dass Sprachareale im Gehirn überlappen, wenn eine Person sehr früh zwei Sprachen gleichzeitig erlernt. Wird die zweite Sprache dagegen erst später erworben, bilden sich getrennte Sprachareale aus.10 Diese Ergebnisse sind inzwischen auch von anderen Forschungsgruppen nachvollzogen worden. Die Plastizität der Sprachareale im Gehirn ist ein Beispiel für das Embodiment der Erfahrung im Gehirn. Es gibt allerdings bisher noch keine Untersuchungen darüber, inwieweit unterschiedliche Sprachsozialisation von Mädchen und Jungen die Ausbildung ihrer Sprachareale oder die Symmetrie/Asymmetrie der Hirnhälften bei der Bearbeitung von Sprachaufgaben beeinflusst.

Eine analoge Analyse lässt sich für das Forschungsfeld »Raumorientierung und Geschlecht« durchführen. Auch hier werden mit Bild gebenden Verfahren räumliche Leistungen mit Aktivierungen in bestimmten Hirnarealen in Zusammenhang gestellt. Beim Drehen von geometrischen Figuren im Kopf, der so genannten Mentalen Rotation, sind beispielsweise Zentren im rechten Schläfenlappen beteiligt. Bei der Richtungsnavigation spielt der rechte Hippocampus (eine Region am Innenrand der Hirnrinde) eine wichtige Rolle. Und wieder finden wir widersprüchliche Ergebnisse dahingehend, ob bei Männern die Hirnhälften asymmetrischer arbeiten als bei Frauen oder nicht. Die Varianz der Ergebnisse beruht nicht zuletzt darauf, dass sich die Raumorientierung aus einer Vielzahl von Strategien zusammen setzt, die erlernt werden. In einem transdisziplinären Projekt aus Biologinnen, Psychologinnen und Soziologinnen konnten wir einige Fassetten des Netzwerkes der Raumorientierung untersuchen. Die individuelle Erfahrung in Kindheit und Jugend spielt für die Ausbildung von räumlichen Strategien ebenso eine Rolle, wie die Verbindung mit Sicherheits- und Angstgefühlen. Auch in diesem Forschungsbereich liegen erste Studien vor, die auf eine erfahrungsabhängige Ausbildung beispielsweise der Größe des Hippocampus hinweisen. Doch wiederum finden vorwiegend nur solche Befunde den Weg in die Öffentlichkeit, die Unterschiede festschreiben. Prägnantes Beispiel hierfür sind die pseudowissenschaftlichen Bücher von Allen und Barbara Pease, die eingeschränkt und teilweise sogar verfälscht angebliche Wahrheiten der Neurowissenschaften über Raumareale im Gehirn von Männern (bei Frauen fehlen sie hier ganz) verkünden.11

Als letzter Protagonist in dieser Beispielsreihe steht das Corpus Callosum, der Faserbalken, der die beiden Hirnhälften verbindet. Wenn das Gehirn von Frauen bilateraler arbeitet, so die Prämisse, dann sollte ihr Balken zumindest teilweise größer sein als bei Männern, um den vermehrten Informationsaustausch zu bewältigen. Zu jeder Studie, die einen Geschlechterunterschied in Teilen des Corpus Callosum beschreibt, können wir inzwischen aber Ergebnisse finden, die keine Unterschiede aufweisen oder gegenteilige Aussagen machen.

»Aber man sieht es doch!«

Andere Studien zeigen auf, dass selbst diese Hirnstruktur sich je nach Art der Erfahrung verändert. Beidhändige Musiker entwickeln beispielsweise dann einen größeren Balken, wenn sie frühzeitig mit dem symmetrischen Handtraining beginnen. Die Vielzahl von Befundwidersprüchen und methodischen Variationen sowie die Ergebnisse der Plastizitätsforschung haben auch innerhalb der Neurowissenschaften dazu geführt, dass Geschlechterzuschreibungen inzwischen verworfen werden. Der Balken findet sich aber nach wie vor und unhinterfragt in der populärwissenschaftlichen Presse an prominenter Stelle, wenn es darum geht, Geschlecht im Gehirn biologisch zu verorten.

Wie kommt es dazu, dass in der Öffentlichkeit die Manifestation von Geschlechterdifferenzen im Gehirn einen Siegeszug beschreitet, wenn doch die Ergebnisse der Hirnforschung so uneindeutig sind? Hier spielen die neuen Bilder aus dem »Innern des lebenden Gehirns bei der Arbeit« und ihre rasante Verbreitung über Zeitschriften und das Internet eine wichtige Rolle.

Doch was zeigen uns diese Bilder wirklich? Zunächst einmal sind sie keine direkten Abbilder aus dem Innern des Gehirns, denn erst mit Hilfe von informationstechnischen Berechnungen und computergraphischen Verfahrensschritten werden aus den Daten des Scanners Bilder konstruiert. Zur Bildrekonstruktion aus Streudaten, zur Bereinigung der Daten von Rauscheffekten, zur Segmentierung und zur 3D-Bildrekonstruktion wird eine inzwischen fast unüberschaubare Menge von Berechnungsverfahren eingesetzt, um die Einzelbilder dem Vergleich zugänglich zu machen. Diese Verfahren werden von unterschiedlichen Laboratorien in unterschiedlichen Kombinationen angewandt, und dies stellt eines der größten Probleme für die vergleichende Analyse dar. Denn im Verlauf der Konstruktionsprozesse wird eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen, was ins Bild hineinkommt, was weggelassen wird, was hervorgehoben wird oder in den Hintergrund tritt. Forscher und Forscherinnen aus einem bestimmten kulturellen Umfeld, geprägt durch bestimmte Vorstellungen von Geschlecht oder Geschlechterdifferenzen, treffen diese Entscheidungen. So konnte beispielsweise Anelis Kaiser zeigen, dass Geschlechterunterschiede in der Asymmetrie der Sprachareale auftauchen oder verschwinden, je nachdem welche (wissenschaftliche anerkannte) statistische Schwelle bei der Berechnung von Gruppenbildern eingestellt wird.12

Die Bild gebenden Verfahren der Computertomographie haben zweifelsohne viele Vorteile für die neuromedizinische Diagnose und Behandlung von IndividualpatientInnen. Sie bergen aber Gefahren unreflektierter Determinationen, wenn sie Gruppen spezifische Aussagen generalisieren und den Blick in das reale Normgehirn versprechen. Denn dem Gruppenbild »der Frau« oder »des Mannes« sind die Variabilität, die zeitliche Dynamik und auch die Widersprüche der zugrunde liegenden Einzelbefunde nicht mehr anzusehen. Zu fordern ist hier Transparenz in der Methodik, um die Entscheidungen im Konstruktionsprozess der Bilderstellung deutlich zu machen. Hier müsste die Neurowissenschaft einen entscheidenden Schritt wagen. Sie müsste die scheinbare Objektivität und technische Neutralität ihrer Verfahren enttarnen und öffentlich diskutieren, dass auch die einprägsamen, bunten Hirnbilder nur eine Form situierten Wissens darstellen und nur ausgewählte Fassetten des Netzwerkes von Gehirn, Denken, Verhalten, Geist und nicht zuletzt Geschlecht malen. Erst auf dieser Grundlage könnte sie ihrer Aufgabe gerecht werden, zum gesellschaftlichen Diskurs über Gehirn und Geschlecht beizutragen.


Anmerkungen

1) GERDA stellt in einer Datenbank bibliografische, demografische und methodische Daten von Studien zu Geschlecht und Gehirn zur Verfügung und ermöglicht einen Einblick in die Vielfalt, Komplexität, die Präsentation und das Wissensmanagement über wissenschaftliche und/oder populäre Medien. Begleitende Module bieten Grundwissen zu Makro- und Mikrostruktur des Gehirns, zur funktionellen Organisation und Hirnphysiologie, zu hormonellen und umweltbedingten Einflüssen auf die Entwicklung, Dynamik und Plastizität des Gehirns. GERDA soll interessierten NutzerInnen helfen, widersprüchliche Befunde innerhalb der Hirnforschung vor dem Hintergrund verschiedener Erklärungskonzepte einzuordnen.

2) Vgl. Evelyn Fox Keller (1995): Origin, history, and politics of the subject called ,Gender and Science‘ - A first person account. In: Sheila Jasanoff et. al. (ed.): Handbook of Science and Technology Studies. Thousand Oaks: Sage, S. 80-95.

3) Ausführlich sind die Dimensionen mit vielen Literaturhinweisen behandelt in: Sigrid Schmitz (2002): Hirnforschung und Geschlecht. Eine kritische Analyse im Rahmen der Genderforschung in den Naturwissenschaften. In: Ingrid Bauer / Julia Neissl (Hrsg.): Gender Studies. Denkachsen und Perspektiven der Geschlechterforschung. Studienverlag: Innsbruck, Wien, München, Basel, S. 109-125.

4) Vgl. Donna Haraway (1995): Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Campus: Frankfurt, S. 73-97.

5) Ich verwende den Begriff »Embodiment« explizit in Bezug auf körperliche Materialität mit Referenz auf Anne Fausto Sterling’s Eingangskapitel "Dueling Dualisms", vgl. dies. (2000): Sexing the Body. Basic Books: N.Y., S. 1-29. In der Genderforschung wird »Embodiment« jedoch auch anders verwendet, beispielsweise in Zusammenhang mit der Wahrnehmung von und Bedeutungszuschreibung an Körperlichkeit.

6) Im Brain-Imaging liegen die Personen in einem Scanner und erhalten über Videobildschirme eine visuelle oder über Kopfhörer eine auditive Aufgabenstellung (Erkennungs- und Unterscheidungsaufgaben). Bei der Lösung der Aufgabe müssen sie z.B. einen Knopf drücken. Zur Datenaufnahme über den Scanner ist es nötig, dass die Personen sehr ruhig liegen, komplexes Verhalten kann hierüber also nicht analysiert werden.

7) Bennet A. Shaywitz, Sally E. Shaywitz, et al. (1995): Sex differences in the functional organization of the brain for language. Nature 373, S. 607-609.

8) Julie Frost et al. (1999): Language processing in strongly left lateralized in both sexes: Evidence from functional MRI. Brain 122, S. 199-208.

9) Iris Sommer et al. (2004): Do women really have more bilateral language representation than men? A meta-analysis of functional imaging studies. Brain 127, S. 1845-1852.

10) Wattendorf, Elise et al. (2001): Different languages activate different subfields in Broca’s area. NeuroImage 13 (6), S. 624.

11) Als sehr gutes Buch, das die Frage nach Geschlecht und Raumorientierung differenzierter behandelt, empfehle ich: Claudia Quaiser-Pohl & Kirsten Jordan (2004): Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken - und Männer ihnen Recht geben. Über Schwächen, die gar keine sind. Eine Antwort auf A. & B. Pease. Beck: München.

12) Anelis Kaiser et al. (2004): Does sex/gender influence language processing? Poster: HBM conference 2004.


HD Dr. Sigrid Schmitz hat Biologie studiert und in Zoologie promoviert. Sie ist Hochschuldozentin an der Universität Freiburg, leitet zusammen mit Prof. Dr. Britta Schinzel das Kompetenzforum Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften und arbeitet u.a. am Projekt GERDA (gendered digital brain atlas).

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