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Falsche Anthropologie der Differenz

15.12.2004: Biologismus unter dem Label von Nicht-Sexismus

  
 

Forum Wissenschaft 4/2004; Titelbild: Karl Blossfeldt (Herr und Frau Wilde)

In seinem Buch "Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn"1 stellt Simon Baron-Cohen, Professor für Psychologie und Psychiatrie, die These auf, männliche Gehirne seien mehr auf das Begreifen von Systemen ausgerichtet, während weibliche Gehirne überwiegend empathische Fähigkeiten hätten. Die Behauptung, Männer seien mehr an Logik und Frauen mehr an Gefühlen interessiert, ist keinesfalls neu. Christine Zunke schnürt die aufgepeppte Verpackung eines alten Pakets auf und analysiert seinen Inhalt.

Keine menschliche Eigenheit wurde in den letzten sechzig Jahren häufiger durch Studien belegt als der soziale Unterschied der Geschlechter. Auch die Biologisierung dieses Unterschiedes ist nicht neu - sie hat allerdings durch die rasanten Fortschritte der Neurowissenschaften an Ansehen gewonnen. Neu ist, dass die These, menschliches Handeln werde weitgehend von biologischen Faktoren bestimmt, weitgehend unwidersprochen bleibt. Die Anlage-Umwelt-Debatte, die einst so heftig tobte, hat endlich einen friedvollen Konsens gefunden. Niemand will heute leugnen, dass die sozialen Umweltbedingungen entscheidenden Einfluss auf die Psyche nehmen, so wie keiner daran zweifeln will, dass biologische Dispositionen in vielerlei Hinsicht determinierend oder zumindest wegweisend für unser Verhalten sind. Beide Faktoren seien bestimmend, wobei der Schwerpunkt gerade des geschlechtsbedingten Verhaltens auf den biologischen Ursachen liege. Der Sexismus, der hieraus entspringt, scheint alle Aggression verloren zu haben: Er will die Frauen nicht an den Rand der Gesellschaft drängen, sondern sie gemäß ihrer Fähigkeiten fördern und ihnen so helfen, ihren natürlichen Ort einzunehmen. Es heißt nicht länger: »Frauen an den Herd!« - vielmehr hat es die Form des neidlosen Zugeständnisses bekommen, dass Frauen am Herd einfach besser sind als Männer.

Zeitgemäßer roll back

Biologismus ist einer der wirksamsten Ideologieträger unserer Zeit. Seine zentrale These lautet, menschliches Handeln sei - analog zum tierischen Verhalten - ganz oder teilweise durch unsere Natur vorgegeben. Auch bei der Erklärung geschlechtsspezifischen Sozialverhaltens wird die noch in den 80er Jahren recht verbreitete Theorie, Männer und Frauen würden allein aufgrund gesellschaftlich transportierter Geschlechterrollen zu unterschiedlichen Verhaltensweisen erzogen, zur Rarität. Von wissenschaftlichen Publikationen über die unterschiedliche, hormongesteuerte Hirnentwicklung bei Frauen und Männern bis hin zu den neuesten Flirt-Tipps der Bravo Girl, in denen die aktuelle Frauenmode als seit der Steinzeit wirksamer Schlüsselreiz zur Verpaarung gepriesen wird, sollen Evolution, Hormone, Gen und Hirn die maßgeblichen Faktoren zur Bestimmung des sozialen Geschlechts sein. Die implizite Botschaft jedes Biologismus lautet, die gesellschaftliche Wirklichkeit sei nicht nur normal - sie sei natürlich. Was aber jeweils als natürliches menschliches Verhalten postuliert wird, ändert sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung. So ist z. B. Homosexualität, die früher gerne als »widernatürlich« kritisiert wurde, mittlerweile auch umfassend im Tierreich belegt und anerkannt, was sicherlich seinen Grund in einer liberaleren Haltung der Gesellschaft gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe hat. Argumentiert wird allerdings oft umgekehrt: Wenn es auch schwule Bartgeierpärchen gebe, die zusammen liebevoll den adoptierten Nachwuchs aufziehen, dann müsse Homosexualität beim Menschen wohl auch als natürliches Phänomen toleriert werden. Dass Menschen auf eine bestimmte Weise leben wollen, scheint Biologisten weniger zu gelten als die Vorstellung, dass Menschen zu einem bestimmten Leben geschaffen seien.

Über diese Biologisierung gesellschaftlicher Normen funktioniert auch der moderne Sexismus. Die

alte Vorstellung, Frauen seien für die Nestpflege und Männer zum Jagen respektive dafür geschaffen, arbeiten zu gehen, die in den 60er und 70er Jahren durch die Frauenbewegung zurückgedrängt wurde, erlebt zur Zeit einen roll back, der sich auf neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung stützt. Dieser neue Sexismus ist zeitgemäß modifiziert. An die Stelle der bloßen Behauptung, Kinderbetreuung sei Frauensache, tritt der Hinweis auf die große Emotivität und Sprachkompetenz der Frau, die sie für soziale Berufe von Natur aus höher qualifiziere als den Mann, der mehr in abstrakten Systemen denke und darum eher ein Händchen für Computer habe, als für Kinder. Nach diversen populärwissenschaftlichen Werken wie "Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus" oder "Warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können" ist jetzt ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch erschienen, das dieses Jahr auch ins Deutsche übersetzt wurde: "Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn" von Simon Baron-Cohen, Professor für Psychologie und Psychiatrie am Trinity College der University of Cambridge. Es soll hier exemplarisch für einen neuen Trend im Geschlechterkampf diskutiert werden.

Simon Baron-Cohen will vor allem eines sein: kein Sexist. Und sein Buch, so schreibt er ausdrücklich, sei nicht sexistisch, weder in der Fragestellung noch im Resultat. Er schätze im Gegenteil die Qualitäten und Fähigkeiten des weiblichen Gehirns sehr, und sein Buch handele von der »wertfreien« Beschreibung der Differenz zwischen Männern und Frauen als statistischer Durchschnittsgröße - also weder davon, dass alle Männer und Frauen die aufgeführten Eigenschaften aufwiesen, noch von einem wertenden Urteil über »bessere« oder »schlechtere« Gehirne des einen oder anderen Geschlechts. Wir werden sehen.

Die Eigenschaften, in denen Männer- und Frauenhirne sich durchschnittlich unterscheiden sollen, sind das Systematisierungsvermögen und die Fähigkeit zur Empathie. "Unter Empathie versteht man das Vermögen, die Gefühle und Gedanken eines anderen Menschen zu erkennen und darauf mit angemessenen eigenen Gefühlen zu reagieren. Empathie

oder Einfühlungsvermögen bedeutet nicht nur, dass man kühl berechnet, was eine andere Person denkt oder fühlt. Das können auch Psychopathen."2 Vielmehr gehe es bei der Empathie um "eine angemessene emotionale Reaktion im eigenen Innern", um den "Wunsch […] sofort zu helfen", sowie den "natürlichen Wunsch, sich um andere zu kümmern."3 Für seine Forschungsarbeiten haben Baron-Cohen und seine MitarbeiterInnen einen Test entwickelt, mit dem sie die empathischen Fähigkeiten eines Menschen als Empathie-Quotient (EQ) messen. Bei diesem Test geht es im ersten Teil darum, aufgrund von Fotos, welche die Augenpartie von Schauspielern zeigen, zu sagen, welche Stimmung das Gesicht ausdrückt. Abgesehen davon, dass es sich bei professionell dargestellten Stimmungen nicht um »echte« Gefühlszustände handelt, welche empathische Personen angeblich besser wahrnehmen können als Systematiker, kann mit diesem Test nur die Fähigkeit des Erkennens von Gefühlen festgestellt werden, nicht, ob eine "angemessene emotionale Reaktion im eigenen Innern" ausgelöst wurde. Eine Differenz zwischen empathischen Menschen und beispielsweise Psychopathen, die Baron-Cohen als nicht-empathisch einstuft, lässt sich auf Grundlage dieses Tests also nicht feststellen. Vielleicht soll hierzu der zweite Teil des EQ-Tests beitragen: In vier Stufen soll man angeben, ob bestimmte Aussagen auf einen selbst zutreffen oder nicht. Sätze wie "Ich versuche, mit der Mode zu gehen und mich über aktuelle Trends auf dem Laufenden zu halten."4 scheinen allerdings eher auf eine geschlechtsspezifische Stereotype als auf besondere Empathie gemünzt zu sein. In gleicher Weise ist der Test für den Systematisierungs-Quotienten (SQ) aufgebaut. Und auch hier lassen Sätze wie "Wenn ich mir einen Computer kaufe, informiere ich mich genau über alle Details der Festplattenkapazität und Verarbeitungsgeschwindigkeit."5 oder "Ich versuche, der Hausarbeit möglichst aus dem Weg zu gehen."6 wohl eher Schlüsse über die praktizierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als über besondere systematische Fähigkeiten zu.

Empathie vs. Systematik?

Doch nicht nur die EQ- und SQ-Testreihen lassen Zweifel an dem Beweisziel aufkommen, männliches und weibliches Verhalten sei das Resultat zweier differenter Hirnarten. Auch die von Baron-Cohen ausgemachten Gegensätze von Empathie und Systematisieren lassen sich nicht annähernd so eindeutig voneinander trennen, wie es zunächst den Anschein macht. Systematisieren, so der Autor, bestehe in der Fähigkeit zum Erkennen von kausalen Zusammenhängen: Wenn ich den Schalter betätige, dann geht das Licht an. Man könne alles bis zu einem gewissen Komplexitätsgrad in ein System von Ursache und Folge fassen - außer menschliches Verhalten. Dieses sei gänzlich unberechenbar und darum nur durch Empathie zugänglich. Interessant wäre es hier zu erfahren, wie der Autor sich ein weibliches Gehirn vorstellt: Als ein System neuronaler Verknüpfungen, das eine seiner eigenen kausalen Natur fremde Fähigkeit, die gänzlich unsystematische Empathie, als Materialeigenschaft enthält? Leider geht er diesem Widerspruch nicht systematisch nach.

Die These der völligen Unberechenbarkeit nur empathisch zugänglicher Phänomene blamiert Baron-Cohen selbst an einem aufschlussreichen Beispiel: Jemand wünscht sich etwas zum Geburtstag und bekommt es auch. Ein »Systematiker« würde jetzt denken, die beschenkte Person müsse glücklich sein. Aber das muss nicht zutreffen. Sie könne im Gegenteil traurig sein, zum Beispiel. wenn sie gerade sehr schlechte Nachrichten von ihrem Arzt bekommen habe. Das ist gleich doppelt gemogelt: Erstens führt der Autor hier Bedingungen ein, die von außen auf das "Experiment" einwirken, was ein anderes Ergebnis als das erwartete zur Folge hat. Auch das Betätigen des Lichtschalters aus seinem Beispiel für berechenbare Systeme kann aus vielerlei Gründen nicht zum erwarteten Resultat führen - wir alle kennen das. Zweitens gibt Baron-Cohen selber die Ursache für das Ausbleiben des erwarteten Resultats an: Die Freude des Beschenkten bleibt aus, weil sie von einer schlechten Nachricht überschattet wird. Doch auch der allerempathischste Mensch könnte das nicht vorhersehen - genauso wenig, wie der allersystematischste Denker alle Einflüsse von Randbedingungen in der Feldforschung vorhersehen könnte. Baron-Cohen selbst betrachtet Menschen in ihrem Verhalten als Systeme - ohne diese Voraussetzung wäre seine wissenschaftliche Arbeit hinfällig. Da er von einer äußeren bestimmenden Ursache des Verhaltens ausgeht, kommen willentliche Entscheidungen als Grund für gelegentliche Unberechenbarkeiten unserer Mitmenschen in seiner Theorie nicht in Betracht.

Empathie kann, nach Baron-Cohens eigenen Definitionen und entgegen seiner Intention, nicht eine vom Systematisieren unterschiedene Fähigkeit sein. Aufgrund von gelernten Anzeichen in der Mimik, der Körpersprache und auch dem Wissen um das Schicksal einer Person wird auf deren Gefühlszustand geschlossen. Auch dass dies meist in Sekundenbruchteilen und unbewusst passiert, also der Eindruck entstehen kann, jemand fühle unmittelbar, wie es dem anderen geht, stellt keine Differenz zu den Fähigkeiten begabter Systematiker dar. Denn auch diese verstehen laut Baron-Cohen "intuitiv, wie etwas funktioniert oder durch welche übergreifenden Regeln das Verhalten eines Systems gesteuert wird"7. Nimmt man seine Definitionen ernst, dann entscheidet der Gegenstand, auf den sich das Interesse richtet, darüber, ob Empathie oder Systematisierung vorliegt. Nicht Eigenschaften der Geschlechter wären dann verschieden, sondern die Interessen. Somit würde keine auf bestimmten Hirneigenschaften basierende Fähigkeit, sondern der Inhalt, auf den diese Fähigkeit angewandt wird, darüber entscheiden, ob jemand besser aus der Körpersprache auf einen Gefühlszustand oder von einer Wolkenformation auf das Wetter schließen könnte. Dass bestimmte neuronale Dispositionen die Gegenstände und Inhalte unseres Denkens determinieren würden, behauptet Baron-Cohen jedoch nicht.

Angemessenheiten

Die einzige Differenz, die sich so zwischen Empathie und Systematisieren noch aufrecht erhalten lässt, ist die, "mit angemessenen eigenen Gefühlen zu reagieren"; sie müsse laut Baron-Cohen zu der bloßen Fähigkeit des Gefühle Erkennens noch hinzutreten, damit man einen empathischen Menschen vor sich habe. »Angemessen« ist eine sehr undeutliche Kategorie. Was »angemessen« ist, kann kein biologisches Faktum sein; es erfordert eine Entscheidung. Baron-Cohen äußert sich nicht explizit dazu, was er unter »angemessenem« emotionalem Verhalten versteht. Aber seinen Beispielen für »angemessenes« Verhalten lässt sich gut entnehmen, was er meint: freundlich, defensiv, unterstützend, nicht aggressiv, einlenkend, harmonisierend, helfend - so sind »angemessen« empathische Menschen. So sind Frauen (im statistischen Durchschnitt). Männer können (im statistischen Durchschnitt) auf Nachfrage zwar auch recht gut einschätzen, wie es ihrem Gegenüber

geht, aber »angemessen« empathisch darauf reagieren tun sie deutlich seltener.

So hat Baron-Cohen nur zeigen können, was alle schon wissen: Es gibt Geschlechterrollen, nach denen sich Frauen und Männer - im Durchschnitt - verhalten. Seine Versuche, dies auf bestimmte Hirneigenschaften zurückzuführen, müssen als gescheitert gelten. Die vergleichenden Studien zur geschlechtsspezifischen Hirnanatomie, auf die er sich bezieht, gelten nicht als eindeutig. Aber auch dann, wenn sich hirnanatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachweisen ließen, läge hierin kein Beleg für Baron-Cohens These, dies sei der Grund für die von ihm festgestellte Verhaltensdifferenz: die Korrelation zwischen geschlechtsspezifischen Merkmalen im Gehirn und den Eigenschaften Empathie bzw. Systematisierungsvermögen muss gleich null sein, wenn sich nicht einmal zeigen lässt, dass es sich wirklich um verschiedene Fähigkeiten handelt, sondern vielmehr um den unterschiedlichen Gebrauch derselben Fähigkeit.

Auch wenn Baron-Cohen sich ausschließlich mit den biologischen Anlagen für geschlechtsspezifisches Verhalten beschäftigt, geht er doch zugleich davon aus, "dass die Sozialisation und kulturelle Einflüsse in der weiteren Entwicklung sehr wohl eine Rolle spielen und mitbestimmen, ob sich ein Gehirn vom männlichen Typ (stärkeres Interesse an Systemen) oder ein Gehirn vom weiblichen Typ (stärkeres Interesse an Empathie) herausbildet?8. Damit ist nicht nur gesagt, dass die Umwelteinflüsse direkt in ein biologisches Material verwandelt werden - nämlich in bestimmte Neuronenverknüpfungen im Gehirn, die über männlichen oder weiblichen Typus entscheiden - und dass Fähigkeit und Interessen ununterscheidbar zusammenfallen, da aus dem bestehenden Interesse auf die ihm zugrunde liegende Fähigkeit geschlossen wird. Interessant ist vor allem, dass Baron-Cohens Theorie, derzufolge sich die zwei verschiedenen Hirntypen für Männer und Frauen evolutionsgeschichtlich entwickelt haben und so auf unterschiedliche genetische Veranlagung zurückzuführen sind, zugleich den Gedanken einer prägenden Umwelt braucht. Denn nur im Bezug auf verschiedene Umwelteinflüsse lässt sich zeigen, dass dasjenige, was nicht beeinflusst wird, einen genetischen Grund haben müsse.

Der Nachweis, mit dem sowohl das Wirken einer genetischen Anlage auf das Verhalten als auch der Einfluss der Umwelt belegt werden soll, wird in beiden Fällen über einen negativen Beweis geführt: Durch das Ausschließen des einen Faktors soll die Wirksamkeit des anderen bewiesen werden können. Wie viele vor ihm, stützt sich auch Baron-Cohen hierbei auf die Ergebnisse der Zwillingsforschung mit ein- bzw. zweieiigen Zwillingen, die in gleichen bzw. verschiedenen sozialen Milieus aufwuchsen. Und er wiederholt den Kardinalsfehler dieser Disziplin: Bei den Untersuchungen der Zwillinge finden sich Gemeinsamkeiten, die bei unterschiedlicher Umwelt den Genen und bei unterschiedlichem Genom der Umwelt zugeschrieben werden. Ebenso werden Unterschiede zwischen den Zwillingen bei gleicher Umwelt als genetisch und bei identischem Genom als umweltbedingt angenommen. Der Einfluss der Umweltfaktoren wird also bewiesen, indem der genetische Einfluss widerlegt wird und umgekehrt. Die sich widersprechenden Thesen, unser Verhalten werde von den Genen bestimmt und unser Verhalten sei Resultat unserer Sozialisation brauchen sich so wechselseitig, indem jede These nur durch das Scheitern der anderen bewiesen werden kann. Wenn einzig diese beiden Möglichkeiten als verhaltensbestimmende Faktoren in Frage kämen, wäre ein solcher negativer Beweis - wenn es nicht das eine ist, so muss es das andere sein - zulässig. Würden weitere Faktoren als mögliche Ursache menschlichen Handelns in Betracht kommen, würden alle obigen Beweise zusammenbrechen: Es müsste entweder ein positiver Beweis gefunden oder der negative Beweis durch Ausschluss aller weiteren Faktoren als Ursache erweitert werden. Darum müssen beide Ansätze, die Milieutheorie ebenso wie die Anlagetheorie, einen freien Willen als Ursache von Handlungen ausschließen. Denn der kleine Kosmos dieser Erklärungsmuster, die sich ebenso sehr widersprechen wie sie sich wechselseitig brauchen - sowohl, um sich durch Widerlegung des anderen zu beweisen, als auch, um sich zu ergänzen, wenn eine Seite in Erklärungsnot gerät - funktioniert nur dann reibungslos, wenn der Mensch als vollständig determiniert angenommen wird. Welche Seite ihn stärker bestimmt, ob das Elternhaus oder die Gene sich im Einzelfall durchsetzen und wie zwei widersprüchliche Mechanismen überhaupt in Wechselwirkung miteinander stehen können, kann und will jenseits der Zwillingsforschung niemand mit Sicherheit sagen. Ihr Konsens ist, dass der Mensch in seinem Verhalten heterogenen Gründen unterliegt, welche eine Freiheit des Willens ausschließen.

Willenlose Individuen

Diesen Konsens greift Baron-Cohen auf: Der Mensch hat nicht die Freiheit zu entscheiden, was er will, und braucht somit auch nicht zu begründen, warum er etwas Bestimmtes tut oder unterlässt. Er ist vielmehr Resultat seines Gehirns, in dem Gene und Umwelt auf wundersame und eigenständige Weise ihre Fäden ziehen - als neuronale Verbindungen, die uns zu dem machen, was wir sind: zu Männern und Frauen, zu empathischen Helferinnen und unkommunikativen Technikfreaks und allen nur erdenklichen Abstufungen dazwischen. Dieses Schema ist so dehnbar, dass jedes Individuum bruchlos hineinpasst: Das männliche oder weibliche Gehirn muss laut Baron-Cohen nicht mit dem genitalen Geschlecht übereinstimmen. Auch auffällige Sonderformen des Verhaltens integriert er: er stellt z.B. die These auf, dass Autismus einen extrem männlichen Hirntypus darstelle. Unter dieses Schema der Hirntypen passt zwar jeder, aber dem Einzelnen lässt es zugleich keinerlei Spielraum zur persönlichen Entwicklung durch Einsichten oder Entscheidungen. Das Individuum sei Resultat seines Gehirns, welches zwar zu Veränderungen fähig sei, aber nicht aufgrund von Entscheidungen, sondern nur durch äußere Einflüsse.

Trotz der breiten empirischen Streuung der Hirntypen in unzählige Zwischenstufen und seiner These, dass das biologische Geschlecht nicht zwingend auf den entsprechenden Hirntypus verweise, hält Baron-Cohen an der Theorie von der grundlegenden Differenz der Geschlechter in ihren spezifischen Begabungen fest. Doch diese Differenz soll - im Gegensatz zu sexistischen Rollenzuschreibungen - völlig wertfrei sein. "Kein Geschlecht ist dem anderen im Hinblick auf die allgemeine Intelligenz unter- oder überlegen, doch die Profile, die relative Stärken in bestimmten Domänen widerspiegeln, weisen durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Ich gehe der Behauptung nach, dass Frauen sich besser in andere Menschen einfühlen können und Männer besser systematisieren können, aber das heißt nicht, dass ein Geschlecht generell intelligenter ist als das andere."9 Durch die Einführung des nicht näher definierten Begriffs der »allgemeinen Intelligenz«, die keine Differenz zwischen Männern und Frauen aufweisen soll10, will Baron-Cohen sich gegen den Vorwurf verwahren, er würde eine sexistische Theorie entwickeln. Die Unterschiede bezögen sich nur auf »bestimmte Domänen«, die dann gewissermaßen neben der »allgemeinen Intelligenz« stehen oder so marginal sein müssten, dass ihr Auftreten oder Fehlen keinen Einfluss auf den Wert dieser »allgemeinen Intelligenz« hätte. Die Unterschiede seien also im Hinblick auf die »allgemeine Intelligenz« egal oder zumindest marginal. Zugleich soll die geschlechtliche Differenz aber so signifikant sein, dass sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen »Berufen der Pflege, des Helfens und des Miteinander« und »Berufen, die Durchsetzungsvermögen und Dominanz erfordern«, erklären können soll. Letzteres soll angeblich wertfrei und jenseits aller Diskriminierung geschehen. Um die sexistischen Implikationen seiner Theorie zu kaschieren, tut Baron-Cohen so, als würde seine These in einem gesellschaftsfreien Raum diskutiert, in dem z. B. unterschiedliche Entlohnung in unterschiedlichen Berufsgruppen keine Rolle spielte.

Natürlich können nach Baron-Cohens Theorie einzelne Frauen mit »männlichen« Gehirnen hervorragende Pilotinnen oder Ingenieurinnen werden. Doch ebenso natürlich sei es, dass die meisten Frauen in Pflegeberufen und im Dienstleistungssektor tätig seien. Ist es nicht seltsam, dass gerade die heutige Stellung der Frau in den modernen Industriegesellschaften so exakt der genetischen Anlage ihres Hirntypus entsprechen soll? Aber vielleicht liegt gerade hierin die große Überzeugungskraft des Buches "Vom ersten Tag an anders", von der die hohen Verkaufszahlen zeugen. Die Argumente und Definitionen sind zwar widersprüchlich, aber das Resultat ist von einer Evidenz, deren Zauber sich unkritische LeserInnen wohl nur schwer entziehen können: Da schaut jemand (angeblich) nur auf die biologischen Fakten, stellt diese in exakten Tabellen und Zahlenreihen zusammen und heraus kommt - ein Spiegel unserer Gesellschaft. Dass dieses Ergebnis lediglich dasjenige reproduziert, das durch die Art der Fragestellungen schon vorgegeben war, scheint eine profane Kritik zu sein, welche oft geäußert und oft auch zur Kenntnis genommen wurde, aber selten überzeugt hat. Denn die Überzeugungskraft biologistischer Ideologien liegt nicht darin, dass sie logisch schlüssig sind. Es ist vielmehr die beruhigende Annahme, Teil einer unverrückbaren natürlichen Ordnung zu sein, und die reaktionäre Freude darüber, dass das Gegebene der gesellschaftlichen Verhältnisse Resultat einer höheren Naturmacht darstelle, an welcher der Mensch letztendlich nichts zu rütteln hat, die den Glauben an biologistische Erklärungsmuster nährt. Im modernen Sexismus ist die benachteiligte Stellung von Frauen in dieser Gesellschaft weder Folge göttlicher Ordnung noch himmelschreiender Ungerechtigkeit. Die Frau hat vielmehr durch das Besetzen von Berufen und privaten Tätigkeiten, die Sozialkompetenz und defensive Empathie verlangen, ihren natürlichen Ort gefunden - im statistischen Durchschnitt, versteht sich. Einzelne »männliche« Frauen dürfen sogar Minister werden. Freundlicher können gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen kaum vernebelt werden!


Anmerkungen

1) Simon Baron-Cohen, Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn. Walter Verlag, Düsseldorf/Zürich 2004

2) Baron-Cohen, S. 12

3) ebd.

4) ebd., S. 267

5) ebd., S. 274

6) ebd., S. 275

7) ebd., S. 14

8) ebd., S. 121

9) ebd., S. 23

10) Was der Autor übrigens durch keine Statistik belegen kann. Denn welcher von diversen gebräuchlichen Intelligenztests der »allgemeine« sein soll, daran scheiden sich die Geister. Und fast alle Studien über IQ-Tests weisen geschlechtsspezifische Differenzen auf, wenn auch in unterschiedlichem Umfang.


Christine Zunke hat einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität Hannover und promoviert über Neurophysiologie und Willensfreiheit.

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