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Klaus Holzkamp

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Studienreform, Qualitätssicherung und ihre Folgen

15.03.2005: Thesen zu strategischen Suchprozessen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2005; Titelbild: Museum der Arbeit/Reemtsa Fotoarchiv

Das neue gestufte Studiensystem, sein Evaluations- und Qualitätsmanagement und seine Durchsetzung haben strukturelle Wurzeln. Schon vorliegende Kritik ebenso wie aktuelle Suchpfade und Ansätze zu Widerstand und Alternativen fächert Wolfgang Nitsch auf. Anknüpfungen an Erfahrungen, die Studierende in früheren historischen Epochen und Phasen mit Konflikten und alternativen Praxisansätzen gemacht haben, geraten nicht zufällig in seinen Blick.

Die Einführung der neuen gestuften Studiengänge und der damit verbundenen Evaluations-, Qualitätssicherungs- und Akkreditierungsverfahren in der BRD und ihre Folgen stehen schon jetzt einer vorab bilanzierbaren kritischen Auseinandersetzung von fsz, BdWi, ABS und GEW1 gegenüber. Deren Argumentation lässt sich komprimiert formulieren (der Verf. teilt sie im Wesentlichen): Die mit dieser Reform einher gehende einschneidende Transformation fast des gesamten Studiensystems (und damit z.T. auch der Lehrpersonalstruktur) wird von unzureichend legitimierten politischen Akteuren - Ministerien und Hochschul-Leitungen - von außen und von oben nach unten durchgesetzt und in wenig professioneller Weise gestaltet. Sie ist ein weiterer Schritt in der Ersetzung der Selbstverwaltungsprozesse der Gruppen-Universität durch ein quasi unternehmerisches Management, ohne Mitentscheidungsmöglichkeiten für die Studierenden und jungen WissenschaftlerInnen, deren Zukunft damit geprägt wird.

Überwiegend aufgrund der chronisch-unzureichenden personellen und materiellenAusstattung der Hochschullehre, aber auch durchaus politisch gewollt, werden die Bachelor-Studiengänge kaum mehr ein wissenschaftliches Studieren und forschendes Lernen ermöglichen, sondern teils eine gleichermaßen berufspraxis- und forschungsferne Fachwissensvermittlung, teils eine improvisierte Vorbereitung auf z.T. neue und erst zu erschliessende Tätigkeitsfelder. Damit könnten sie sowohl hinter das Niveau eines guten wissenschaftspropädeutischen Obesrtufenunterrichts als auch hinter das Niveau vorbildlicher dualer Berufsausbildungsgänge zurückfallen.

Das Master-Studium, zu dem nur noch eine willkürlich abgegrenzte Minderheit zugelassen werden soll, wird nur eine sehr verkürzte wissenschaftliche Studienmöglichkeit bieten oder der Wissensvermittlung in zusätzlichen Fachgebieten dienen - so im Studium mit dem Berufsziel Lehramt. Beides reicht jedoch für eine fachwissenschaftliche oder wissenschaftlich-professionelle Sozialisation und Habitusbildung nicht aus. Eine Fortsetzung eines wissenschaftlichen Studierens in späteren Weiterbildungsstudiengängen ist eher unwahrscheinlich. Im Promotionsstudium muss ein erheblicher Anteil wissenschaftlichen Studierens nachgeholt werden, was auf Kosten der Intensität und Qualität der Promotionsvorhaben gehen wird. Deshalb wird dann die Habilitation als Promotion II wieder legitimiert werden.

Die fehlenden bundesweiten Rahmenvorgaben von Fach-Gesellschaften und Fakultätentagen werden die inhaltliche Ausfüllung und Abgrenzung der neuen Studiengänge an den einzelnen Hochschulen sehr unterschiedlich, undurchsichtig, wechselhaft und schwer vergleichbar ausfallen lassen; das dürfte die Mobilität von Studierenden und jungen WissenschaftlerInnen zwischen Hochschulen und Bundesländern und zwischen deutschen und ausländischen Hochschulen sehr erschweren. Auch die Sanktionsmöglichkeiten von Akkreditierungsgremien werden hier auf ihre Grenzen stoßen und von Professoren-Kartellen unterlaufen werden.

Die ebenfalls unzureichend legitimierte und intransparente Arbeit von Agenturen zur Evaluation, Qualitätssicherung und Akkreditierung der Studiengänge konzentriert sich offenbar auf formale Systemelemente und quantitative Effizienzindikatoren, die zugleich Sanktions- und Steuerungsinstrumente sind, und klammert pädagogische und wissenschaftliche Struktur-, Prozess- und Effektivitätsqualität ebenso aus wie absolute und relative Qualitätsveränderungen. Sie orientiert sich auch nicht an Methoden, theoretischen Konzepten und empirischen Befunden interdisziplinärer Hochschulausbildungs- und Wissenschaftsforschung, sondern fungiert eher als oberflächliches Legitimationsritual, als verdecktes (oligo)politisches Steuerungsinstrument privilegierter Gutachterkartelle und als institutionaler Abwehrmechanismus gegen die Untersuchung, Offenlegung und Interpretation realer Qualitätsverringerung oder qualitativ einseitiger Ausrichtung von Studiengängen.

Die nunmehr explizite und sichtbar werdende Absenkung der Studienqualität in den Bachelorstudiengängen - ein Prozess, der sicherlich schon in weiten Teilen des bisherigen Studiensystems schleichend begonnen hatte - auf eher fachschulartige Lehr- und Lernformen wird auch zu einer entsprechenden Veränderung des Berufsbildes der Mehrheit der Hochschullehrer führen, die überwiegend oder nur im Bachelor-Sytem unterrichten werden. Diese weitere Hierarchisierung innerhalb des Hochschullehrkörpers wird auch den Trend zur Herausbildung von privilegierten Master- und Promotions-orientierten Fakultäten oder Universitäten bestärken.

Durch die beschleunigte und flächendeckende Einführung des neuen Systems bei sich verschlechternder Ausstattung der Hochschulen und bei noch kaum entwickelten didaktischen Fähigkeiten und Motivationen der Masse der Lehrenden, ergänzt durch die Rekrutierung eines prekär beschäftigten Spezial-Lehrkörpers für gesonderte Berufsfeld-Kompetenztrainings, wird wissenschaftliches Studieren und forschendes Lernen in der Regel im Bacherlor-System nicht stattfinden- trotz aller Reformlyrik. Für eine alternativ vorstellbare didaktisch qualitativ anspruchsvolle höhere Berufsausbildung in Fortsetzung der technischen und ökonomischen Gymnasialbildung oder von Ausbildungen an Berufsbildungsakademien und guten Fachoberschulen fehlt aber an den Hochschulen die Qualifizierung und Motivierung der Lehrenden. Auch die Curriculumentwickler, Evaluations- und Qualitätsmanager und -gutachter an den Hochschulen sind für eine solche, nur z.T. wissenschaftsorientierte höhere Berufsausbildung für neuartige oder ihnen unbekannte Semi-Professionen nicht qualifiziert. (Unter Umständen könnten aus anglophonen Ländern mit entsprechenden Junior-, Community- und State Colleges Fachleute angeworben werden?)

Strukturveränderungen und -faktoren

Was sind die tieferen Strukturveränderungen und -faktoren im Beschäftigungs- und Ausbildungssystem, die diese einschneidenden Studiensystem-Transformationen bewirken oder sich durchsetzen lassen?

Sie sind wohl nicht nur in den international-wirtschaftspolitisch bedingten Finanzkrisen von Bund und Ländern zu finden, die eine strikte Begrenzung der Hochschuletats erfordern, sondern in den bisher oft unterschätzten neuen Grundstrukturen der post-fordistischen und globalisierten kommunikationstechnologie- und wissensbasierten Ökonomie angelegt. Diese neueste kapitalistische Wirtschaftsformation erfordert offenbar weniger hochqualifizierte und wissenschaftlich Ausgebildete als oft prognostiziert. Sondern ihre spezifische kapitalistische Verwertungslogik erzwingt sogar eine stärkere Substitution hochqualifizierter und teurer Arbeitskräfte (insbes. in Hochlohn-Ländern) durch kommunikations- und informationstechnologische Hard- und Software und damit kombiniertes, gering qualifiziertes Service-Personal. Außerdem erzwingt sie eine Begrenzung und einseitige Lenkung von wissensbasierten Innovationsprozessen durch die für kurzfristige Kapitalverwertung (unter shareholder-Druck) erforderliche Aneignung und Kontrolle des Wissens durch die Großunternehmen. Hinzu kommt die neo-liberale Politik des Abbaus vieler (nicht militärischer) staatlicher und anderer öffentlicher Dienstleistungsbereiche sowie zur intensiven Rationalisierung, Ökonomisierung, Teilprivatisierung der verbleibenden Dienste.

Diese Prozesse der Rationalisierung, Substituierung und Dequalifizierung von qualifizierten Dienstleistungstätigkeiten auch in vielen akademischen Berufen bedrohen massiv weite Teile der Mittelschichten und verstärken deren Orientierung auf Elite-Schulen und Elite-Hochschulbereiche (für den Statuserhalt ihrer Kinder oder zur ergänzenden Absicherung der eigenen Berufsposition).Diese Elite-Institutionen sind aber in Deutschland bisher weniger eindeutig und sicher etabliert. Mit den Bachelor-Studiengängen wird somit ein bisher fehlendes deutlicheres Statusabgrenzungssystem zwischen unteren und höheren Mittelschichten verspätet installiert. Damit lässt sich auch vorhersehen, dass sich eine kleine Zahl von wissenschaftlichen, elitären Bachelor-Studiengängen herausbilden wird, wenn nicht elitäre private Kollegstufen als Aufstockung privater Gymnasien oder der Besuch ausländischer Elite-Colleges diese Funktion übernehmen wird.

Eine spezifische deutsche Problematik ergibt sich daraus, dass das bislang wenig hierarchisierte Studiensystem - im Gegensatz zum viergliedrigen sozial selektiven Schulsystem - die z.T. seit der Nazi-Zeit ausgeprägten sozialdarwinistischen Mentalitäten und Begabungsideologien in den Mittelschichten überdeckt und gemäßigt hat. Es ist zu befürchten, dass diese sozial-rassistische Mentalität sich bald auch an den Hochschulen stärker ausbreiten wird, parallel zu den stärker werdenden Status- und Existenz-Ängsten in vielen Mittelschichtmilieus.

Gegenstrategien, Alternativen … - Widerstand?

Was könnte zum Aufkommen von Widerstand und zur Suche nach Gegenstrategien und Alternativen zu dem neuen Studiensystem beitragen?

Wie gezeigt, setzt sich das gestufte und selektierende Studiensystem auch aufgrund realer politisch-ökonomischer Strukturzwänge innerhalb des gegenwärtigen post-fordistischen globalisierten kapitalistischen Regimes durch - und nicht primär als Teil einer

politisch-ideologisch fundierten reaktionären Eliten-Politik. Es wird weite Teile des Hochschulbereichs auf längere Zeit prägen, und es ist offen, ob sich teilweise davon abweichende institutionelle Sektoren oder nur sozio-kulturelle Gegenmilieus herausbilden werden, die diesem System entgegenarbeiten, was zu einer Spaltung oder Fraktionierung des Hochschulraums führen könnte.

Andererseits verlaufen auch die Transformationsprozesse innerhalb dieser post-fordistischen Wissens- und Informationstechnologie-Ökonomie nicht ohne innere Widersprüche und Interessen-Konflikte, insbesondere zwischen zentralen ökonomischen Systemstrukturen und den ebenfalls ökonomisch wichtigen Potenzialen, Ansprüchen, Erwartungen lebendiger Arbeitskräfte, auf deren Fähigkeiten und von ihnen erzeugte Gebrauchswerte dieses ökonomische System mehr denn je angewiesen bleibt. Hier zeigen sich drei analytisch trennbare Widerspruchsmomente:

1) Der Druck auf extrem intensive Einsaugung oder ‚Subsumption’aller menschlichen Lebensäußerungen in die kapitalistische Verwertung gerade bei hochqualifizierten Arbeitskräften erzeugt bei einem Teil dieser Schicht Spannungen und Gegenwehr in Form von informellen Gegenmilieus und Ausstiegstendenzen und -experimenten.

2) Die zunehmende Absenkung, Unsicherheit und Diskontinuität von Einkommen auch bei gut Ausgebildeten, nicht zuletzt durch Zunahme der Ausbildungskosten und Selbstfinanzierung/Verschuldung bei Existenzgründungen, erzwingt eine stärkere Interessenorganisation und Gegenwehr innerhalb dieser neuen, z.T. prekarisierten Massenintelligenz. So ist in den USA eine neuartige gewerkschaftliche Organisierung von prekär oder scheinselbständig be-schäftigten WissenschaftlerInnen und Lehrkräften zu beobachten.

3) Die in einer wissenschafts- und kommunikationstechnologie-abhängigen kapitalistischen Ökonomie notwendige Innovationspraxis insbesondere jüngerer Wissens- und KulturproduzentInnen bei gleichzeitigem Zwang der großen Unternehmen und multinationalen Konzerne, sich deren Produkte und Methoden anzueignen und für die Kapitalverwertung zu kontrollieren, verbunden mit praktischen und technischen Schwierigkeiten, dies durchzusetzen, muss zu Widerstands- und Alternativpraxen führen, wie sie bereits in der Freien Software Bewegung und Gründung von ersten Cyber-Genossenschaften sichtbar werden.

Da sich diese drei Widerspruchsmomente auch innerhalb des Hochschulraums und während der Studien- und Berufseinstiegsphasen ausdrücken werden, ist zu erwarten, dass sich hier informelle und formelle neue Organisationsformen herausbilden werden. Oberstufen-SchülerInnen, Studierende ebenso wie prekär beschäftigte jüngere WissenschaftlerInnen und Kultur- und MedienproduzentInnen, die zunehmend über komplexe und kreative kommunikationstechnologische Wege und Formen zur selbständigen Vermittlung und Kommunikation für forschendes Lernen und Gestalten verfügen, werden das antiquiert verschulte und durch e-learning ergänzte Oberstufen- und Bachelor-Unterrichtssystem teils unterlaufen und sabotieren, etwa durch ‚intellektuelle Schwarzarbeit‘, teils direkt zu verändern versuchen.

Sie müssen z.B. ein Interesse entwickeln, einen Teil der Tutoren-, Lehrauftrags- und Ausbilder-Tätigkeiten selber in die Hand zu bekommen und sich dafür honorieren zu lassen, um den absurden Zustand zu begrenzen, in dem sie für ihre weitgehend selbständige Studien- und Ausbildungstätigkeit auch noch Gebühren nach dem Muster von "Lehrgeld" zahlen müssen, ohne jedoch den Status von wirklichen Dienstleistungskunden gegenüber dem verschulten Anstaltssystem und den das e-learning kontrollierenden Konzernen zu erreichen.

Sie werden ein Interesse (zum Teil gegen sich selbst und gegen einander) daran entwickeln müssen, einen wichtigen Teil ihrer Lebenszeit dem permanenten, sich intensivierenden, fremdgesteuerten Arbeitskraftverwertungsdruck zu entziehen und in selbst organisierten Praxen, Beziehungen und Gruppen zu gestalten.

Sie müssen ein Interesse entwickeln, einen großen Teil ihrer intellektuellen und kulturellen Praxen und Produkte insbesondere über das Internet frei untereinander zu teilen, sie für andere und die Allgemeinheit offen zu halten und damit der Aneignung und Kontrolle durch kapitalistische Unternehmen zu entziehen.

D.h.: sie werden versuchen, gegenüber der Degradierung und Infantilisierung zum abhängigen Schüler und Lehrgeld zahlenden Lehrling in allen drei Widerspruchs- und Konfliktzonen einen ProduzentInnen-Status als selbständige und assoziierte geistige ArbeiterInnen zu gewinnen: als Teil des ausbildenden und forschenden Personals, als Akteure und Gestalter ihrer Eigenarbeit und Lebenspraxis außerhalb kapitalistischer Verwertung und als vernetzte genossenschaftliche Träger ihrer Gebrauchswertproduktion in vielfältigen Tätigkeitsfeldern.

Differenzierte Wirkungswahrnehmungen …

Für die Einschätzung der Chancen von Gegenstrategien gegen die schematische Durchsetzung des neuen Studiensystems ist es wichtig, dass die einzelnen Fachrichtungen und korrespondierenden Berufsfelder unterschiedlich stark und in verschiedener Weise von den genannten Widersprüchen und Konflikten betroffen zu sein scheinen. In Fachrichtungen, deren Ausbildung von jeher oder schon länger stark strukturierende Curricula und Prüfungssysteme haben und/oder schon mit privatwirtschaftlich verwertungsorientierter Berufspraxis und Forschungs- und Entwicklungsarbeit verflochten waren, werden die neuen Studien- und Prüfungssysteme als weniger massive Systemveränderung wahrgenommen gegenüber den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. In diesen sind rivalisierende und sich verändernde Theorierichtungen und Praxisbezüge bedeutsam, über die sich Studierende und Lehrende kritisch vergleichend orientieren müssen und die weniger auf bekannte Tätigkeitsfelder vorbereiten.

Daher scheint eine Programmatik zur gesonderten, auch überregionalen Interessenorganisation nach Fachrichtungen und Fakultäten und ihren studentischen Fachschaftsverbänden vordringlich, von denen aus unterschiedliche Selbstverwaltungsmodelle, Formen der Beteiligung und Kooperation mit gesellschaftlichen Gruppen, fächerspezifische Evaluations-, Qualitätssicherungs- und Akkreditierungsprozesse gefordert und entworfen werden.

So könnten auf bestimmte Fächergruppen und Berufsfelder bezogene Evaluations- und Qualitätssicherungsprogramme entwickelt werden, die stärker inhaltliche, Struktur-, Prozess- und Relevanz-Qualitäten und nicht primär quantitative Effizienzkriterien einbeziehen und die stärker kooperativ unddialogisch sowie diskursiv unter breiterer Beteiligung von Studierenden, BerufspraxisvertreterInnen und relevanten gesellschaftlichen Gruppen gestaltet werden.

In diesem Zusammenhang ist es dringlich, in allen Fachrichtungen die Fachschaften und andere fachbezogene Vereinigungen von Studierenden und TutorInnen auch als Mitträger und Veranstalter von ergänzenden kooperativen Studienveranstaltungen, Studienprojekten, Studienberatungsformen zu stärken und dafür Mittel aus den Hochschuletats sowie Drittmittel aus anderen Quellen einzufordern. Gerade wenn im offiziellen Lehr- und Prüfungsbetrieb die Studierenden zu SchülerInnen und zahlenden Kunden degradiert werden, könnten solche Kontrast-Studienprogramme, die ein selbständiges Studieren und kritische, selbst bestimmte Praxisbezüge ermöglichen, besondere Attraktivität gewinnen. Dadurch wiederum kann ggfls. erkämpft werden, dass solche Programme als Ersatz für offizielle Module anerkannt werden.

In Verbindung damit könnten studentische Fachschaftsverbände zumindest exemplarisch, in bestimmten Schlüssel-Gebieten oder kontroversen Bereichen von Fachrichtungen oder Fakultäten alternative Evaluations- und Qualitätsbeurteilungsprogramme organisieren und dafür jüngere und non-konforme WissenschaftlerInnen, BerufspraktikerInnen, WissenschaftsjournalistInnen, unabhängige ExpertInnen, ExpertInnen aus Nichtregierungsorganisationen gewinnen. Auch hier würden weniger die mikro-ökonomische Effizienz und eine einseitige Effektivität für wirtschaftliche Verwertungsinteressen im Vordergrund stehen, sondern die komplexe Qualität von Kommunikations- und Diskursprozessen, die sozialen und pädagogischen Beziehungsstrukturen und die inhaltliche wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz und Effektivität von Forschung und Ausbildung aus der Sicht unterschiedlicher Erkenntnis-, Bildungs- und Anwendungsinteressen.

… und geschichtliche Sichthilfe

Zu den skizzierten Widerspruchs- und Konfliktzonen und möglichen Widerstands- und Alternativprogrammen zum verschulten Studiensystem lohnt sich trotz aller berechtigten methodischen Skepsis gegenüber "Lehren aus der Geschichte" ein vorsichtiger historischer Rückblick auf scheinbar ähnliche Konflikte zwischen Studierendenbewegungen bzw. junger radikaler Intelligenz und etablierten Universitäten. Und sei es nur, um sozial-utopische Phantasie für die Suche nach experimentellen Alternativen wieder zu beleben.

Wenn wir die Forschungen über die Geschichte von studentischen Unruhen und Gegenmilieus seit ihren beiden maßgeblichen und verschiedenen Modell-Gründungen in Bologna - 1088, als paritätische Doppel-Genossenschaften der patrizischen Studierenden und der Gelehrten - und in Paris - 1231, als Professoren-Korporation - verfolgen, so zeigt sich immer wieder eine Konfliktursache bzw. ein Auslöser von Konflikten, vor allem an den dem Pariser Modell folgenden Universitäten. Es handelte sich dabei um Konflikte zwischen einem in loco parentis wahrgenommenen Erziehungsanspruch der universitären Autoritäten - unter der Aufsicht des multi-nationalen Konzerns Vatikan und später auch von fürstlichen Kirchenherren - und dem Emanzipationsdrang der Studenten, die sich nicht immer wie unmündige Kinder behandeln lassen wollten, zumal wenn sie nicht aus den Oberschichten stammten und ihren Lebensunterhalt und die beträchtlichen Gebühren durch Jobs, Verschuldung und Bettelei aufbringen mussten, oder wenn sie freiwillig oder unfreiwillig in Kriege und Bürgerkriege verwickelt wurden. Da kam es auch gelegentlich vor, dass neben den materiellen Bedingungen auch die miserable Qualität eines rituell erstarrten Lehrbetriebs zum Gegenstand von Unruhen oder Abwanderungen wurden. Dies lässt sich für viele Studentenunruhen in den europäischen und, seit dem 19. Jahrhundert, auch in den neuen süd- und nordamerikanischen Universitäten nachweisen: es geschah in den USA zu Zeiten des Bürgerkriegs, in dessen Gefolge die ersten modernen Staatshochschulen, die land-grant colleges, gegründet wurden; sodann nach dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg; während der Höhepunkte des Kalten Krieges und der nuklearen Vernichtungsdrohung; in Frankreich während des Algerienkrieges und schließlich als internationale Unruhewelle während des Vietnam-Krieges. An vielen dieser historischen Zäsuren oder Wendepunkte, in die Studierende teils als Soldaten und Veteranen, teils als Deserteure und PazifistInnen und mit zivilem Ungehorsam verwickelt waren, entwickelten einige von ihnen auch radikal-kritische Angriffe und alternative experimentelle Lebensweisen gegen einen antiquierten, sterilen und opportunistischen Lehrbetrieb im Dienste von Militär und Konzernen. Diese selbstorganisierten Alternativen umfassten Studentenclubs, Studienselbsthilfeeinrichtungen, autonome Seminare, Studenten- und Tutoren-Gewerkschaften, eine radikale und angriffslustige Studentenpresse und kritische Seminar-Rezensionen und Gegen-Studienhandbücher.

Auch die linken und radikaldemokratischen Studierendenbewegungen in den 60er und 70er Jahren in der BRD und in westeuropäischen Ländern haben in erheblichem Maße Vorbilder und Anregungen aus Nord- und Südamerika rezipiert. Das reichte von der Stärkung autonomer Fachschaften wie in Lateinamerika über Experimente mit einem paritätischem Co-Government von Studentenvertretungen und Dozentenkollegien in einigen radikal-liberalen Colleges in der Tradition von sozialreformerischem Pragmatismus und Progressive Education, die Aktivitäten einer radikaldemokratischen sozialistischen Studentenbewegung - Students for a Democratic Society, gegründet 1905 - bis hin zu den Sit-Ins und Teach-Ins zu Zeiten der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Vietnam-Bewegung, zur Organisierung von Teaching Assistants, aus denen dann vielfach in vielen Ländern Free Universities oder Gegen-Universitäten mit autonomen Seminaren hervorgegangen sind.2

Parallel dazu sind in der BRD damals die ersten spektakulären öffentlichen Evaluations- und Qualitätssicherungsprogramme entstanden: die Welle von kritischen Vorlesungsrezensionen in AStA-Zeitschriften,3 für die im Handbuch zur Demokratisierung der Hochschulen von 1967 eine systematische Anleitung und Begründung erschien,4 sowie die radikal-konstruktive Studienkritik in den Handbüchern der Kritischen Universität in Berlin.5

Aber auch einige wenige non-konforme Professoren wie zuerst der Philosoph und Pragmatismus-Forscher Eduard Baumgarten6 haben bereits zu Beginn der 60iger Jahre Impulse aus der demokratischen Hochschulreformgeschichte in den USA in die (west)deutsche Ordinarienuniversität transferiert, so etwa ein Programm zur Einrichtung unabhängiger Arbeitsstellen für vergleichende Hochschulforschung oder die Gründung von paritätisch selbstverwalteten Clubs von Studierenden und DozentInnen. Solche Modelle wurden im Übrigen auch über die damaligen internationalen Konferenzen von Studentenverbänden verbreitet und fanden explizit z.B. Eingang in die Hochschulreform-Programme von SDS7 und VDS8.


Anmerkungen

1) Vgl. Perspektiven einer qualitativen Studienreform", 18.bis 21.März 2004, Kassel (www.fzs-online.org/ )

2) Vgl. Wolfgang Nitsch: Studentenbewegungen - studentische Politik, S. 713-721, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 11, Stuttgart 1983; Philip G.Altbach: Student Politics in America, a Historical Analysis, New York, McGraw-Hill 1974.

3) Zuerst im FU-Spiegel, H. 50, Februar 1966.

4) Wolfgang Nitsch: Vorlesungsrezensionen als Hochschulkritik. Mit einem Vorwort von Ernst Elitz, S. 220-264, in: Stephan Leibfried (Hrsg.): Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule, Köln, Pahl-Rugenstein 1967.

5) AStA der Freien Universität Berlin: Kritische Universität, Bd.1: Provisorisches Semesterverzeichnis 1967, Bd. 2: Wintersemester 1967/68, Bd. 3: Sommersemester 1968.

6) Vgl. Eduard Baumgarten: Zustand und Zukunft der deutschen Universität, Tübingen, Mohr 1963.

7) Sozialistischer deutscher Studentenbund, Bundesvorstand: Hochschule in der Demokratie. Denkschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes zur Hochschulreform, Frankfurt/M. o.J. (1961) (Nachdruck Frankfurt/M., Verlag Neue Kritik 1974); sowie Nitsch, Wolfgang, Gerhardt, Uta, Offe, Claus, Preuß, Ulrich K. mit einem Vorwort von Jürgen Habermas: Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Berlin und Neuwied, Luchterhand 1965.

8) Studenten und die neue Universität. Gutachten einer Kommission des Verbandes Deutscher Studentenschaften zur Neugründung von wissenschaftlichen Hochschulen, Bonn, VDS 1962; vgl. ferner: Henning Luther: Hochschule und Bildung. Für ein Geschichtsbewusstsein in der Hochschuldidaktik, Hamburg, AHD 1979.


Prof. Dr. Wolfgang Nitsch lehrt Wissenschaftstheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist Mitglied im Bundesvorstand des BdWi.

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