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Häufig beschworen, falsch konstruiert

15.12.2005: Alter und Gesundheitskosten im Kontext

  
 

Forum Wissenschaft 4/2005; Titelbild: Hermine Oberück

Jahrelang wurden immer wieder öffentliche Debatten über einen angeblich unverhältnismäßig hohen Verbrauch von Gesundheitsleistungen von Menschen höheren Alters vom Zaun gebrochen. Besonders scharfe Vorstöße - etwa der Ex-Olympionikin und Medizinerin Heidi Schöller, die forderte, Alten auch das Wahlrecht zu entziehen - scheinen verebbt zu sein. Dennoch herrscht weithin der Irrglaube, v.a. das Alter der PatientInnen entscheide über die Kosten ihrer Gesundheitsversorgung. Eine genauere Untersuchung, erstellt von der Soziologin und Gesundheitsforscherin Hilke Brockmann, rief Aufsehen hervor. Ulrike Baureithel sprach mit ihr über Realität und empirische Kontexte von Gesundheitskosten und demografischen Merkmalen.

Ulrike Baureithel: Im Herbst 2004 erregte Herr Mißfelder von der Jungen Union Unmut, als er öffentlich darüber nachdachte, ob alte Menschen künftig noch ein neues Hüftgelenk benötigen. Damit hat er viel Kritik auf sich gezogen. Ist das Zukunftsmusik oder gehört die Rationierung von Leistungen längst zum medizinischen Alltag?

Hilke Brockmann: Das ist ein umstrittenes Thema, das sachlicher angegangen werden sollte. Rationierung gibt es natürlich in jedem System, das nicht unbegrenzte Mittel zur Verfügung hat. Wollen wir stabile Beiträge, dann deckeln wir die Kosten, was dazu führt, dass bestimmte Geräte nicht gekauft, bestimmte Therapien nicht angeboten oder bestimmte Medikamente nicht verschrieben werden. Man muss offen darüber diskutieren, wie viel Geld uns Gesundheit wert ist und was an Gesundheit wir haben wollen und schließlich, was davon solidarisch bezahlt werden kann.

U.B: Ihre Untersuchung hat aber ergeben, dass ältere Menschen von der Rationierung besonders betroffen sind.

H.B.: Die von mir erhobenen Daten aus dem Krankenhaus1 zeigen, dass Rationierung auch ein alterspezifisches Phänomen ist: Mit dem Alter sinken die Aufwendungen in der klinischen Versorgung, soweit man sie auf ein individuelles Lebensjahr bezieht und zwischen versterbenden und überlebenden PatientInnen unterscheidet. Generell sind PatientInnen in ihrem letzten Lebensjahr immer teurer; die Todesnähe ist also eine entscheidendere Determinante für die Krankheitskosten als das chronologische Alter. Menschen, die im Krankenhaus versterben - und das sind immerhin auch heute noch fast 50 Prozent - kosten in jungen Jahren sehr viel. Mit steigendem Alter, ab 60 Jahren etwa, sinken die Kosten linear. Bei den Überlebenden steigen die Kosten bis zu einem Alter von etwa Mitte 70 an und fallen dann ab. Ich habe mir diese PatientInnengruppe noch einmal genauer angeschaut und sie mit weiteren Variablen, die sich auf die Kosten auswirken können - zum Beispiel Geschlecht, Art des Krankenhauses oder Art der Erkrankung - ins Verhältnis gesetzt. Auch dann gibt es immer noch einen deutlichen Zusammenhang zwischen steigendem Alter und sinkenden Kosten.

U.B.: Sie haben Daten der AOK Thüringen und der AOK Westfalen-Lippe analysiert. Gibt es auch Unterschiede zwischen Ost und West?

H.B.: Nein, Unterschiede gibt es höchstens im Hinblick auf die Arbeitskosten im Krankenhaus, ansonsten ist das Bild in West und Ost ähnlich.

U.B.: Aber es gibt geschlechtsspezifische Verteilungen?

H.B.: Geschlechtsspezifische Effekte werden insofern deutlich, als Frauen durchschnittlich sechs Jahre älter werden als Männer und an anderen Krankheiten leiden. Sie leben im hohen Alter zunehmend alleine und haben immer seltener pflegende Familienangehörige in der Nähe. Deshalb werden ältere Frauen häufiger ins Krankenhaus eingewiesen und verursachen so höhere Kosten.

U.B.: In der Literatur wird einmal sarkastisch vermerkt, es sei besser, jung an Krebs zu erkranken als alt an Demenz, wenn man klinisch gut versorgt sein wolle.

H.B.: Ich glaube, so kann man es nicht sagen. Wer will schon jung an Krebs sterben? Wie gut die Versorgungsqualität von Demenzkranken ist, kann ich aufgrund meiner Daten nicht aufschlüsseln, ich kann nur sehen, wie viel Aufwand betrieben wird und wie teuer eine Behandlung ist. Wahrscheinlich wird bei einem jungen Krebspatienten eine ganze Menge unternommen und es werden auch teure, invasive Therapien eingesetzt, um sein Leben zu retten.

U.B.: Aber es gibt doch einen Zusammenhang zwischen der Kostenkurve, der Art der Erkrankung und dem Alter?

H.B.: Jüngere PatientInnen sterben häufiger an Krebs als hochaltrige, die vor allem an Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden und auch relativ oft an den Folgen von Unfällen und Stürzen sterben. Das hat Auswirkungen auf die Kostenhöhe.

U.B.: Müssen wir annehmen, dass Ärzte und Ärztinnen älteren Patienten bewusst oder unbewusst bestimmte aufwändige Behandlungen vorenthalten?

H.B.: Mit meinen Massendaten konnte ich die Einzelentscheidungen der ÄrztInnen natürlich nicht rekonstruieren. Genauer habe ich mir das beim Herzinfarkt angeschaut, also eine akute Erkrankung, bei der ÄrztInnen schnell reagieren müssen und PatientInnen so stark in Mitleidenschaft gezogen sind, dass sie bei der Therapieentscheidung nicht wirklich aktiv mitwirken können. Und hier ist ein alters- und übrigens auch geschlechtsspezifischer Unterschied festzustellen: Ältere und auch Frauen erhalten eine weniger aufwändige Therapie als Männer. Das ist für mich ein Indikator dafür, dass ÄrztInnen ganz deutlich nach Alter und Geschlecht unterscheiden. Internationale Studien belegen, dass MedizinstudentInnen, denen identische Krankenakten, die nur in Bezug auf Alter und Geschlecht variieren, vorgelegt werden, dennoch unterschiedlich entscheiden. Auf der anderen Seite ist Alter natürlich auch ein Faktor für eine gewisse Fragilität, die Ärzte davon absehen lässt, stark invasive Therapien einzusetzen.

U.B.: Könnte es auch sein, dass ältere und alte PatientInnen einfach nur bescheidener in ihren Forderungen sind oder sich im medizinischen Betrieb nicht durchsetzen können?

H.B.: Es gibt tatsächlich auch Hinweise dafür, dass PatientInnen selbst rationierend entscheiden, indem sie eine aggressive Therapie ablehnen. In Patientenverfügungen machen ja auch viele davon Gebrauch und legen fest, welche Therapie sie unter bestimmten Umständen haben wollen und welche nicht. Dennoch fällt der behandelnde Arzt/die Ärztin die Therapieentscheidung. Denn nur sie können diese näheren Umstände, also die Krankheit des Patienten/der Patientin beurteilen. Dadurch haben die ÄrztInnen die Möglichkeit, PatientInnen auch auf eine Therapie einzustimmen, die sie, diese vielleicht aber nicht für richtig halten.

U.B.: Sie haben ausschließlich den Kostenverlauf im Krankenhaus untersucht. Lassen sich daraus Rückschlüsse auch für die ambulante Versorgung ziehen? Gleichen sich hier die Ausgaben wieder aus, weil alte Menschen häufiger zum Arzt gehen und mehr Medikamente benötigen?

H.B.: Das ist schwer zu sagen, dafür fehlen die Daten. Ich würde das gerne miteinander vernetzen, doch die Kassenärztlichen Vereinigungen geben individuenbezogene Daten nicht heraus. Sicher ist es möglich, dass sich ältere Menschen, wenn sie aus dem Krankenhaus kommen, im ambulanten Sektor Hilfe suchen. Es gibt Studien, die besagen, dass sie öfters den Arzt aufsuchen. Es gibt aber auch Hinweise dafür, dass hochaltrige Leute eine gewisse Robustheit erreicht haben, die es ihnen erlaubt, den Arzt zu meiden.

U.B.: Kann man aus Ihrer Untersuchung schließen, dass Rationierung im Gesundheitswesen auch eine Folge des Wohlfahrtsstaates ist und in Systemen, in denen sich die Menschen privat versichern, weniger auftritt?

H.B.: Nein, das kann man nicht sagen. Das Muster, dass die Kosten im hohen Alter sinken, gilt beispielsweise auch für die USA, wenn auch auf höherem Niveau.

U.B.: Gehen Sie davon aus, dass Ihre Befunde AOK-spezifisch sind und für die Ersatzkassen weniger gelten?

H.B.: Auch hier gilt: Es kann sich im Niveau anders darstellen, aber nicht im generellen Verlauf. Die verfügbaren amerikanischen Medicare-Daten bilden ja nicht die Situation der Unterschicht ab, sondern die der Mittelschicht; ähnliches ist auch in Kanada und in der Schweiz zu beobachten.

U.B.: Welche Konsequenzen leiten Sie aus Ihrer Untersuchung ab?

H.B.: Zunächst benötigen wir mehr längsschnittbezogene Daten, um Gesundheitsverläufe zu analysieren, weil diese viel aufschlussreicher sind als Querschnittsuntersuchungen, auf denen gewöhnlich Prognosen beruhen. Wenn sich dabei nun zeigen würde, dass das

chronologische Alter für die Gesundheitsausgaben nicht so durchschlagend ist, dann würde das der Diskussion um die älter werdende Gesellschaft die Dramatik nehmen. Wir würden sehen, dass auch 95-Jährige nicht zwingend multi-morbid sind und deshalb viel kosteten.

Zum zweiten zeigt die Studie, dass die letzte Lebenszeit sehr viel kostet. Das heißt, wir müssen uns überlegen, ob wir im Krankenhaus sterben wollen, wie es momentan der Fall ist. Wir, die Nutznießer- und FinanziererInnen des Systems, müssen darüber diskutieren, wohin unsere Gesundheitsversorgung gehen soll und wie wir Sterbende versorgen wollen. Also: Wir müssen darüber nachdenken, was das demografische Altern bedeutet und wie Gesundheitspolitik für ältere PatientInnen zukünftig aussehen soll.


Anmerkungen

1) Why is less money spent on health care for the elderly than for the rest of the population? Health care rationing in German hospitals, in: Social Science & Medicine, 55, 2002, 593-608. Die Studie analysiert Krankenhausdaten von über 430 000 AOK-Patienten in Westfalen-Lippe und Thüringen. Sie wurde im Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock erstellt. Vgl. auch www.aok-bv.de/bundesverband/presse/presseservice/psgpolitik/index_00563.html (Zugriff: 11.10.05)


Prof. Dr. Hilke Brockmann ist Soziologin und lehrt an der Graduate School of Social Sciences (GSSS) der Universität Bremen. - Ulrike Baureithel führte das Gespräch mit Prof. Brockmann; sie ist Redakteurin des Freitag (Berlin) und freie Autorin.

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