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Industrie 4.0: Maschinen entscheiden?

06.01.2016: Arbeitsbedingungen der Zukunft über Tarifverträge gestalten

  
 

Forum Wissenschaft 4/2015; Foto: saster / Photocase.de

Technik verändert die Arbeitsabläufe und Arbeitsbedingungen. Industrie 4.0 wird als Schlagwort immer geläufiger. Dabei ist Industrie 4.0 kein betrieblicher Begriff, sondern der Name eines von der Bundesregierung geförderten Forschungsprogramms. Welche Auswirkungen die neuen Produktionstechnologien auf die Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten haben, erläutert Marcus Schwarzbach.

Computer gibt es in der Produktion bereits heute. Jede computergesteuerte Maschine hat ihr Programm. Soll sie ein anderes Produkt herstellen, muss sie umprogrammiert und umgerüstet werden. In der Industrie 4.0 soll es diese Brüche nicht mehr geben, weil alle Komponenten in ein Netzwerk eingebettet sind.

"Eine - stark vereinfachte - Definition für Industrie 4.0 lautet, es sei die ›Verheiratung von Internet- und Produktions-Technologien‹. Sie ist nützlich, weil sie beinhaltet dass beide Technologiebereiche einer fortlaufenden Entwicklung unterliegen", betont die Hans-Böckler-Stiftung in einer Untersuchung. "So wird klar, dass es auch keine abschließende Gestalt einer ›neuen Welt‹ der Fertigung geben wird, sondern Phasen, und dass von daher immer nur ein Status in diesem Prozess der Konvergenz zu sehen ist, der beschrieben werden kann."1

Heute finden Smartphones vielfältigen Einsatz im privaten und geschäftlichen Umfeld. Sie dienen als Navigationsgerät, Spielkonsole, Kommunikationsplattform und Informationsquelle. Thomas Feld, Vice President der Scheer Group GmbH, sieht den Nutzen der Technik im Betrieb vor allem in der "Vernetzung der Mitarbeiter untereinander über mobile Technologien"2. Über diese zusätzliche Vernetzung meint er "sind wir auch in der Lage, Mitarbeiter entsprechend ganz anders einzusetzen, ganz anders miteinander zu vernetzen, um neue Arbeitstechniken in der Produktion entsprechend realisieren zu können". Heute kann man auf mobilen Endgeräten alle relevanten Informationen, Anwendungen und Geschäftsdaten in hoher Qualität und Geschwindigkeit abrufen. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten in einer mobilen Arbeitswelt.

"Die fortschreitende Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) hat dafür gesorgt, dass mittlerweile auch im Bereich der Produktion leistungsstarke und günstige Sensoren zur Verfügung stehen. Diese rücken den Einsatz von Echtzeitinformationen wieder ins Blickfeld der Produktion", ist das Resümee des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Kernstück ist eine rundum vernetzte und voll automatisiert gesteuerte Produktion. Sie beruht auf technologischer Intelligenz, die in Produkten und Maschinen eingebunden wird. In einem von der Bundesregierung geförderten Forschungsbericht wird verdeutlicht: "Möglich gemacht wird die Vernetzung dieser dezentralen intelligenten Systeme durch die flächendeckende und bezahlbare Verfügbarkeit der technischen Infrastruktur in Form von industriell einsetzbaren (Funk-)Internetverbindungen. Logisch werden die Systeme durch die konsequente Anwendung von dezentralen Steuerungsprinzipien wie Multiagentensystemen gekoppelt, die sich am schon lange propagierten ›Internet der Dinge‹ orientieren. Dies ermöglicht die Integration von realer und virtueller Welt. Produkte, Geräte und Objekte mit eingebetteter Software wachsen zu verteilten, funktionsintegrierten und rückgekoppelten Systemen zusammen."3

So verstanden bedeutet Industrie 4.0 nichts weniger als den Abschied von bisherigen Schwerpunkten der industriellen Produktion. Zentrale Steuerung verliert an Bedeutung. Entscheidungen darüber, was zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort und mit welchen Werkzeugen gefertigt wird, fallen künftig technologisch automatisiert an vielen Stellen direkt in der Produktion. ArbeitnehmerInnen braucht diese Fabrik in erster Linie für die Systemgestaltung, Überwachung, Wartung, Störungsbeseitigung sowie für nicht automatisierbare Fertigungsaufgaben.

Auswirkungen auf die ArbeitnehmerInnen

Bislang ist die Rolle des Menschen in der Industrie 4.0 eher vage beschrieben. Das zeigen auch die aktuellen Forschungsberichte, die in dieser Kernfrage unklar sind. Einerseits heißt es, der Mensch wird als kreativer Planer, Steuerer und Entscheider das Maß aller Dinge bleiben. Gleichzeitig sollen Assistenzsysteme die Anforderungen an die Beschäftigten soweit reduzieren, dass ein kurzes Anlernen ausreicht und niedrige Entlohnung die Folge ist.

"Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir bei der Digitalisierung der Arbeitswelt allenfalls erahnen, wohin die Reise geht. Dementsprechend ist es schwer, belastbare politische Handlungsoptionen zu entwickeln", vermeidet Thorben Albrecht, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, klare politische Aussagen.4

Zusammenstöße mit Robotern

Einige Handlungsfelder sind aber bereits heute absehbar. Denn Industrie 4.0 hält heute schon Einzug in viele Betriebe. In der Praxis zeigt sich dies durch Roboter, die nicht mehr innerhalb von Schutzkäfigen eingesetzt werden. Zunehmend arbeiten ArbeitnehmerInnen gemeinsam mit diesen Leichtbaurobotern an Arbeitsplätzen. Diese sogenannten kollaborierenden Roboter können Quetschungen oder Zusammenstöße verursachen. Die Vermeidung derartiger Unfälle ist eine wichtige Aufgabe des Arbeitsschutzes und muss über Gefährdungsbeurteilungen vorausschauend angegangen werden. Wichtig ist dabei auch, dass sich dort, wo Menschen vom Roboter berührt werden können, keine scharfen, spitzen, scherenden oder schneidenden Kanten und Konstruktionsteile oder raue Oberflächen befinden.

Auch die Rahmenbedingungen sind zu regeln: Nicht jeder darf den Arbeitsbereich der kollaborierenden Roboter betreten. Wo sie in Aktion treten, gelten Zutrittsbeschränkungen. Wichtig ist für ein unfallfreies Nebeneinander auch die regelmäßige Unterweisung. Wer mit kollaborierenden Robotern arbeitet, wird über die Risiken und notwendigen Schutzmaßnahmen aufgeklärt und geschult, wie er im Notfall richtig reagiert.

Wer steuert - Mensch oder Maschine?

Die Veränderungen gehen aber weiter: Hybride Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass neben den Beschäftigten auch die Technologie Prozesse steuert. Bekannt ist die Zusammenarbeit von Mensch und automatisierter Steuerung etwa durch die Arbeit von PilotInnen. Für das Unternehmen hat die Technik zweifellos Vorteile. Sie kann Daten, Diagnosen und Arbeitsanweisungen präsentieren. Die Beschäftigten können weit weniger Daten verarbeiten und weniger Komplexität berücksichtigen als Maschinen. Gleichzeitig tragen Menschen in hybriden Systemen eine hohe Verantwortung, während sie zugleich der Technologie unterlegen sind. Es geht um die entscheidende Frage, dass die letztendliche Entscheidung beim Menschen bleibt. "Unsere qualifizierten Mitarbeiter schließen sensorische Lücken, die immer bestehen werden. Sie verfügen über langjährige Erfahrung zur Beurteilung und Lösung von Ausnahmesituationen. Und sie bringen als Arbeitskraft ihre Kreativität und Flexibilität in die Prozesse ein", schätzt Professor Dieter Spath, Institutsleiter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO).5

Durch Industrie 4.0 verändern sich Arbeitsfelder, es gibt häufig radikale Neuerungen der Arbeitsabläufe. Die Beschäftigten müssen deshalb unterstützt werden, sich mit diesen Neuerungen vertraut zu machen und Zeit zum Lernen zu haben. "In der Produktionsarbeit der Zukunft sind die Menschen stärker die Dirigenten und Koordinatoren der Fabrik. Die harte Muskelarbeit und auch einen Teil der Denkarbeit übernehmen die Maschinen", schildert Professor Gunther Reinhart, Institutsleiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) der Technischen Universität München, seine Sicht zur Rolle des Menschen bei der Produktionssteuerung der Zukunft.6

Nach Reinhart wird die mobile Assistenz zunehmen, damit der Mensch mit der Produktionssteuerung interagieren kann und Daten effizienter und schneller ausgewertet werden können. Ein solches System soll die Menschen bei der Entscheidung unterstützen. Er prognostiziert: "Damit der Mensch mit der Produktionssteuerung oder der Maschine interagieren kann, muss die mobile Assistenz zunehmen. Bei einer Fehlermeldung einer Maschine kann sich das ›iProductionPad‹ vor Ort vernetzen und den Fehlerspeicher auslesen und interpretieren. Das ›iProductionPad‹ kann Temperaturen oder Frequenzen der Maschine messen, Anweisungen geben und deren Zustand sehr schnell analysieren und diagnostizieren."

Arbeitsbedingungen vermehrt Thema in Tarifverträgen

Diese Beispiele zeigen, dass gravierende Veränderungen auf die Beschäftigten zukommen. Arbeitsbedingungen ändern sich radikal. Zwei bahnbrechende Tarifabschlüsse der letzten Zeit zeigen, dass Arbeitsbedingungen wieder Thema in Tarifverträgen werden. Zunehmend geht es auch in Arbeitskämpfen nicht nur um Lohnrunden - es geht um die Arbeitsbedingungen, es geht um die Gestaltung der Arbeit. Beim Streik der Lokführergewerkschaft GDL war die zunehmende Arbeitsbelastung der Beschäftigten wichtiges Thema. Auch deshalb ist die GDL mit Forderungen nach Tarifverträgen nicht nur für die Lokführer auf erbitterten Widerstand von Bahnvorstand und Regierungspolitikern gestoßen. "Ein wichtiger Erfolg ist die Senkung der Belastung des Zugpersonals", betont der GDL-Vorsitzende Weselsky zu Recht. "Diese Tarifabschlüsse sind wegweisend für faire Lohn- und Arbeitszeitbedingungen für das Zugpersonal in ganz Deutschland."7 Überstunden werden begrenzt, ab 2018 die Arbeitszeit verkürzt und 300 Lokomotivführer zusätzlich eingestellt.

Wenig beachtet von der Öffentlichkeit haben die Beschäftigten der Charité in Berlin einen vorbildlichen Tarifvertrag erkämpft. Thema sind die Arbeitsbedingungen. Nach dem Eckpunktepapier zum Tarifvertrag "Gesundheit und Demographie" werden Arbeitsbedingungen gewerkschaftlich mitgestaltet, es gelten tarifliche Mindestbesetzungsstandards. Es soll mehr Personal eingestellt werden - als Ergebnis des Streiks, es gibt Schlüssel für die Besetzung einzelner Schichten, die verbindlich durchsetzbar sind und vom Betriebsrat kontrolliert werden können.

Arbeitsbedingungen und digitale Arbeit

Die Vereinbarung von ver.di in der Charité und der GDL-Abschluss zeigen: Es geht wieder um den Inhalt der Arbeit. Das knüpft an eine große Tradition an. Denn Tarifpolitik ist immer auch ein Instrument zur Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen. So in den 80er Jahren der Lohnrahmentarifvertrag II der IG Metall in Nordwürttemberg-Nordbaden. Bezahlte Erholungspause oder Taktzeitbeschränkung am Fließband beugten Stress am Arbeitsplatz vor.

Die Arbeitsbedingungen werden auch zukünftig ein wichtiges Thema bleiben - Industrie 4.0 verdeutlicht mögliche Entwicklungen. Bedeutsam in der Praxis sind cyber-physische Systeme (CPS). Dabei steuern sich intelligente Maschinen, Betriebsmittel und Lagersysteme in der Produktion eigenständig. Während die Bundesregierung das Thema nur als Frage der Wirtschaftsförderung sieht, ändern sich Arbeitsplätze und die Arbeitsorganisation radikal. Für die Belegschaften bedeutet dies zunehmende Kontrolle und verstärkten Leistungsdruck.

Gewerkschaften und Betriebsräte sind gefordert, die Arbeitsbedingungen der Industrie 4.0 über Tarifverträge zu regeln und Mindeststandards - etwa Mindestanzahl der Beschäftigten oder die Letztentscheidung der ArbeiterInnen beim Verhältnis Mensch-Maschine - sicherzustellen. Ein Positionspapier der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung fordert "überbetriebliche Arbeitskreise", um konkrete Forderungen der Gewerkschaften zu erarbeiten.8

In der digitalen Arbeit der Zukunft werden durch verstärkten Technikeinsatz Arbeitsplätze abgebaut - und der Leistungsdruck für die weiterhin Beschäftigten zunehmen. So wird auch Arbeitszeitverkürzung wieder ein Thema werden müssen.

"Die Zukunft der Arbeit zu gestalten heißt für die IG Metall, die Potenziale zu realisieren und die Risiken zu minimieren. Denn die Digitalisierung hat auch Schattenseiten: Wenn Beschäftigte ihre beruflichen Ziele künftig nur dann erreichen können, wenn sie immer erreichbar sind, schafft das Smartphone keine Freiheit, sondern eine neue Abhängigkeit. Wenn Beschäftigte in Zukunft nicht mehr die Wahl haben, zu Hause oder im Büro zu arbeiten, weil der Arbeitgeber den Schreibtisch mit den dazugehörigen acht Quadratmetern eingespart hat, dann ist das keine Freiheit, sondern Zwang zur Heimarbeit", kritisiert IG-Metall-Vorstandsmitglied Christiane Benner und fordert: "Die IG Metall kann zum Teil auf Bewährtes zurückgreifen: Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung sind Instrumente, die keinesfalls überflüssig sind. Mitbestimmung kann Selbstbestimmung ermöglichen. Aber wir sind auch herausgefordert, uns auf neue Formen der Mitbestimmung und Beteiligung einzulassen."9

Die aktuellen Beispiele GDL und Charité zeigen aber: Erfolgreich werden die Gewerkschaften aber nur sein, wenn sie zu Streiks bereit sind und die Beschäftigten an Streikplanungen und Strategieentscheidungen beteiligt werden.

Anmerkungen

1) Siehe Hans-Böckler-Stiftung: "Industrie 4.0 im Aufbruch?", in: Report Nr. 5, Januar 2015, im Internet: www.boeckler.de/pdf/p_ mbf_report_2015_5.pdf: 6.

2) Siehe Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO): Produktionsarbeit der Zukunft - Industrie 4.0, Studie: 57.

3) Siehe Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO): Produktionsarbeit der Zukunft - Industrie 4.0, Studie: 22, www.produktionsarbeit.de/content/dam/produktionsarbeit/de/documents /Fraunhofer-IAO-Studie_Produktionsarbeit_ der_Zukunft-Industrie_4_0.pdf.

4) Siehe "Gute Arbeit im digitalen Zeitalter", www.gegenblende.de/++co++7b6358d2-6992-11e4-b4e8-52540066f352. GEGENBLENDE ist das Online- Debatten-Magazin des DGB.

5) Siehe Fn. 3: 2.

6) Ebd.: 48.

7) Siehe Pressemitteilung der GDL vom 01.07. 2015, www.gdl.de/Aktuell-2015/Pressemitteilung-1435739158.

8) Kleinhempel / Satzer / Steinberger 2015: Industrie 4.0 im Aufbruch? Report Nr. 5 der Hans-Böckler-Stiftung, siehe www. boeckler.de/pdf/p_mbf_report_2015_5.pdf.

9) Siehe Christiane Benner 2015: "Das Büro im Taschenformat", in: Neues Deutschland vom 22.05.2015.


Marcus Schwarzbach ist Berater in Mitbestimmungsfragen und lebt in Kaufungen. Mail: br-beratung-schwarzbach@ web.de.

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