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»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Das Phänomen PEGIDA

08.10.2015: Vortragsmanuskript für den Themenschwerpunkt der BdWi-Mitgliederversammlung am 25.4.2015 in Berlin

  
 

Forum Wissenschaft 3/2015; Foto: Torbz – fotolia.com

Am 25.04.2015 fand in Berlin die 46. Mitgliederversammlung des BdWi statt. Als inhaltlicher Themenschwerpunkt war eine Diskussion über "Das Phänomen PEGIDA und der (angebliche) ›Kampf der Kulturen‹" vorgesehen, die leider aufgrund einer kurzfristigen krankheitsbedingten Absage des Referenten Frieder Otto Wolf entfallen musste. Das Manuskript des geplanten Vortrags dokumentieren wir an dieser Stelle.1

Wir diskutieren heute ein Thema, das schon wieder fast aus dem Aufmerksamkeitshorizont der Öffentlichkeit verschwunden ist. Die Zeit der großen Demonstrationen von PEGIDA ist ebenso vorbei wie das Gewese der "PEGIDA-Versteher" aus dem Mainstream, denen das "Phänomen PEGIDA" wie gerufen kam, um einen Ausbau der repressiven Seite des neoliberalen Krisenmanagements - aktuell sichtbar in neuen Mauer-Phantasien in der Flüchtlingsdebatte oder in Schäubles Griechenlandpolitik - nicht nur institutionell voranzutreiben, sondern auch in breiten Massen der Bevölkerung zu verankern. Wir werden unsere Aufmerksamkeit jetzt darauf richten müssen, welche neuen Prozesse der Massenmobilisierung rechts des offiziellen Mainstream heute dazu dienen, dessen schleichende Rechtsverschiebung in Deutschland zu stützen.

Als demokratische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir durch diese Entwicklungen doppelt herausgefordert: Demokratie kann nur gelingen, wenn sie gegen derartige Entwicklungen verteidigt wird; und Wissenschaft können wir nur betreiben, indem wir rückhaltlos erkennen, was ist.

Wir diskutieren heute nicht nur deswegen noch einmal das "Phänomen PEGIDA" (und das seiner offiziellen "Versteher"), weil sich entsprechende Nachfolgephänomene finden lassen, sondern vor allem aus zwei Gründen:

  • weil nämlich dahinter ein tiefer sitzender Themenkomplex verborgen liegt, der - so bedrohlich, wie er ist - uns weiter beschäftigen muss: das Thema der großen Krise, welche die Verhältnisse seit 2008 ergriffen hat und der (wie so gesagt wird) "rechtspopulistischen" Reaktionen, welche sie in bestimmten "Schichten der Bevölkerung" auslöst. Ich denke, wir sollten auch davor nicht die Augen verschließen, dass diese Reaktionen selbst durchaus auch auf das Versagen der gesellschaftlichen Linken zurückzuführen sind, die in bedrohlichen Lagen jedenfalls für diese "Schichten" keine glaubwürdigen Alternativen anzubieten hatten. Denn diese Reaktionen sind zwar Auswirkungen bestimmter Ursachen, nach denen wir fragen müssen, aber sie sind eben auch Ergebnis einer Wahl, die wir ernst zu nehmen haben.
  • weil im Zusammenhang mit diesem Phänomen ein ganz anderes reales Phänomen aufgetreten ist: Es sind in Berlin, Sachsen und in Westdeutschland Leute gegen Pegida auf die Straße gegangen, die sonst nicht auf die Straße gehen und die das sogar von sich aus getan haben, ohne Anleitung durch Parteien oder Gewerkschaften.

    Das Phänomen PEGIDA

    Was war das für ein Phänomen, das in PEGIDA - "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" - Gestalt annahm? Was bedeutete sein vorübergehend großer Mobilisierungserfolg und wie lässt er sich erklären?

    Auch viele Stimmen in der Öffentlichkeit, die sich nicht als PEGIDA-Versteher daran machen, die Ideologie von PEGIDA in gefälligere Formen zu übersetzen und weiterzutragen, haben den Versuch gemacht, das Phänomen PEGIDA auf bloß divergierende Vorstellungen zu verharmlosen, mit denen wir in einer offenen Gesellschaft eben leben müssten. Also auf die Divergenz zwischen unvereinbaren Vorstellungen von einer Gesellschaft, in welcher das Leben lebenswert ist: Die einen wollen in einer homogenen Gesellschaft leben, die von einer gemeinsamen Tradition bestimmt ist, die anderen reizt der Unterhaltungswert einer multikulturellen Gesellschaft. Und diese Divergenz muss in modernen Gesellschaften eben ausgehalten werden. Optimisten können für diese verharmlosende Interpretation anführen, dass offenbar große Teile der befragten Meinung eher positiv zu PEGIDA stehen (30% voll und ganz, 19% eher ja, 26% teils, teils)2 - was ja wohl nicht so sein könnte, wenn PEGIDA nicht doch so harmlos wäre.

    Und wir stehen keineswegs vor dem Problem einer dogmatischen Linken, welche den Menschen "ein Recht auf ein Weltbild" bestreitet, "das in progressiv-linken Milieus als spießig empfunden wird" (so Alexander Grau am 3. Januar 2015). Es geht um etwas genauer Bestimmbares, ganz Reales und Wichtigeres.

    Wir stehen gerade hier und heute - in Deutschland als führendem EU-Land und in Zeiten, in denen vielfältige Krisenprozesse Migration und Flucht auslösen - in der Pflicht, kritisch zu bleiben. Und das bedeutet vor allem, klar zu unterscheiden zwischen

  • der inhumanen, ja antihumanen Ideologie, welche Initiativen wie PEGIDA verbreiten und
  • den von dieser Ideologie angesprochenen und z.T. auch mobilisierten Menschen.
  • Die unmittelbare Grundlage der Mobilisierung für PEGIDA bildet eine Neuauflage des "Rassismus ohne Rassen" (Balibar), wie ihn in den 1980er Jahren nicht nur in Westdeutschland, sondern auch etwa in Großbritannien und Frankreich der Neorassismus propagiert hat. Heute wie damals geht es in derartigen Mobilisierungen darum, in ihrer Identität verunsicherten Individuen und Gruppen eine aktive Stabilisierung des eigenen Selbstbildes und Zugehörigkeitsgefühls anzubieten - und zwar auf dem doppelten Wege

  • der Ausgrenzung eines Sündenbocks (also hier der Migranten und "Flüchtlinge") und

  • der Projektion eines Feindbildes ("Lügenpresse", "Politbonzen" u.ä.).

    Beide Wege dieser ideologischen Stabilisierung wirken zunächst insofern entlastend, als sie die Verantwortung für die eigene Lebensführung auf "Störungen" durch "andere Subjekte" abwälzen. Das entspricht der verbreiteten Erfahrung, dass es nicht am eigenen Handeln - etwa der Teilnahme oder der Nichtteilnahme an "Qualifizierungsmaßnahmen" - liegt, dass man "arm" und "arbeitslos" oder - noch weit öfter - von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht ist. Anstatt sich aber die Frage zu stellen, worin denn die strukturellen Ursachen dafür liegen, dass so viele Menschen in der Region keinen Arbeitsplatz finden, und diese strukturellen Ursachen (die alle mit der neoliberalen Politik der Deregulierung zu tun haben) zu thematisieren und politisch zu bekämpfen - was bekanntlich, wie seit den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Niederlagen gezeigt hat, alles andere als einfach ist - gibt man dann einfach "schmutzigen Konkurrenten" und "bösen Feinden" die Schuld für die entstandene Lage, nach deren Veränderbarkeit man dann gar nicht erst zu fragen braucht.

    Das ist klar anzusprechen und zu kritisieren. Aber es enthebt uns keineswegs von der Bemühung, herauszufinden, worin die realen Sorgen bestehen, welche diese Menschen umtreiben, wenn sie dagegen protestieren, was sie als Zumutungen "von oben" erleben - und worin ihre ebenfalls durchaus realen Grundlagen zu suchen sind. Sogar ihre ganz und gar eingebildeten Ängste sind hier als Symptome ernst zu nehmen - denn in aller Regel bilden gerade sie eine spezifische Grundlage dafür, dass die betroffenen Menschen für derartige Ideologien ansprechbar werden.

    Wir müssen diese kritische Unterscheidung dann auch weiter vertiefen: Indem wir in einem nächsten Schritt dann spezifischer unterscheiden:

  • zwischen dem berechtigten Protest der antirassistischen Gegendemonstranten, die den Anspruch verteidigen, unsere Gesellschaft demokratisch und offen zu gestalten;
  • und der praktizierten Heuchelei der offiziellen Politik von unseren Regierungen über die meisten Kommunalverwaltungen bis zu vielen politischen Parteien, welche (wohl wissend, was sie da immer noch tun) die bestehenden rassistischen Verhältnisse ignorieren und schönreden, unter denen sich die rassistischen Ressentiments und damit auch der Protest der "dummen Kerls", wie ihn schon August Bebel treffend gekennzeichnet hat, immer wieder erneuert hat und weiter erneuern wird.
  • Diese kritische Unterscheidung führt uns dann perspektivisch noch zu einer weiteren, die noch tiefer ansetzt - nämlich der zwischen den ungelösten globalen und gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit - die zu Recht als eine nicht auf eine einzige Grundlage reduzierbare Komplexkrise begriffen wird (vgl. Brangsch u.a.) - und den Krisenängsten der Menschen bzw. dem auf sie nur oberflächlich reagierenden Krisenmanagement der herrschenden Politik.

    Einerseits geht es hier also darum, sich die Komplexität der gegenwärtigen Krisenprozesse bewusst zu werden, unter denen wir uns insbesondere die folgenden vergegenwärtigen müssen:

  • die ökonomische Krise der Kapitalverwertung in ihrer ungebrochen herrschenden neoliberal-finanzkapitalistischen Gestalt,
  • die soziale Krise der Polarisierung von Armut und Reichtum, von Prekarisierung und Karrieremachen, sowie von Abschließung und Ausgrenzung,
  • die ökologischen Krisen der Menschheit und großer Menschengruppen, von der Klimakatastrophe über die Bodenkrise (des Rückgangs der landwirtschaftlich nutzbaren Böden) bis zum galoppierenden Artensterben,
  • der politischen Krise von sich schnell ausbreitendem Staatsversagen und (mehr oder minder erklärten) Kriegen,
  • der kulturellen Krise von Endzeitängsten, sich verallgemeinerndem Sinnverlust und erfahrener Alternativlosigkeit.
  • Das klingt vielleicht allzu weit weg, um für das Erleben und Handeln von Menschen spezifisch von Bedeutung zu sein. Dass es aber mehr ist als eine diffuse Angstkulisse, welcher dann gerade großstädtische Individuen ausgesetzt sind, was dann zu "irrationalen" Reaktionen führt, können wir anhand der konkret ideologiekritischen Konzepte von "Normalisierung" und "Normalismus" verdeutlichen, wie sie Jürgen Link erarbeitet hat.3

    Aber das beantwortet die Frage noch nicht, warum es in unseren Gesellschaften immer auch noch ein beträchtliches Potenzial für demokratische Gegenmobilisierungen gibt - und was getan werden kann und muss, um dieses Potenzial zu einer Gegenkraft auszubauen, die nachhaltige politische Richtungsänderungen erkämpfen kann.

    "Kampf der Kulturen" oder rassistische Zustände

    Ein Phänomen kann ein anderes verdecken. Das Phänomen PEGIDA, wie sich ganz oberflächlich als Ausdruck neuer "Kulturkämpfe" darstellt, verdeckt ein etwas tiefer liegendes und länger anhaltendes Phänomen: Dass sich nämlich - parallel zur Verunsicherung von Unterschichten und Teilen der Mittelschichten durch die Deregulierung des Statuts der Lohnarbeit - erneut "rassistische Zustände" herausgebildet haben, in denen etwa Anschläge auf künftige Flüchtlingsunterkünfte und die mörderische Abweisung von Flüchtlingen im Mittelmeer als soweit "normal" gelten, dass sie keinen politischen Handlungsbedarf mehr zu begründen scheinen.

    Blicken wir, um dies zu klären, zunächst noch einmal auf die von Huntington initiierte Debatte über den "Kampf der Kulturen" zurück. Waren Huntingtons Thesen denn mehr gewesen als ein schlauer Versuch, für den imperialen Apparat der USA nach dem Ende des Kalten Krieges einen neuen Feind zu definieren, der dessen Weiterexistenz rechtfertigte und auf der Hand liegenden Forderungen nach Stützpunktabbau und Abrüstung einen ideologischen Riegel vorschob?

    Huntingtons Feindbildkonstruktion des Islam stützt sich auf die in der Tat unglückliche Geschichte der islamischen Modernisierungsversuche im Nahen Osten seit der westeuropäischen Aufklärung: seit Muhammad Ali Pascha, den Jungtürken und Atatürk oder auch der zunächst transnationalen sozialistischen Baath-Partei sind immer wieder Modernisierungsinitiativen islamischer Erneuerer in der Falle von imperialer Abhängigkeit, bloß partiell ausgebildeter Staatlichkeit von Politik und fehlender Klassenbasis ihrer Machtübernahme gescheitert. Das hat dann Huntington zur Grundlage einer latent rassistischen These gemacht, der gemäß die - islamisch geprägten - Völker des Nahen Ostens einfach nicht dazu befähigt seien, moderne Staatlichkeit und moderne Politik auszuprägen. Dass es schon längst wieder einen "westlichen Islam" gibt, der nicht auf Feudalität, Diskriminierung und Gewaltsamkeit der Auseinandersetzungen festgelegt ist, kann offenbar Huntington nicht in seinen ideologisch bestimmten Horizont hinein lassen.

    Neorassismus und europäische Flüchtlingspolitik

    Trotz aller schrecklichen Symptome an den "Rändern" der neuen Rechten - von der NSU in Deutschland bis zur Militanz des "Rechten Sektors" in der Ukraine oder an den Rändern der "Goldenen Morgenröte" in Griechenland und entsprechender Gruppen in Italien oder in Frankreich - haben wir es heute in Deutschland und in Europa nicht mit einer Wiederkehr des historischen, dezidiert konterrevolutionären Faschismus (mit seinen korporatistischen und staatsinterventionistischen Strukturen) zu tun, sondern mit einer historisch neuen Dimension der Beschränkung der politischen Möglichkeiten einer emanzipatorischen Linken durch eine durchgängige und tiefgreifende Verschiebung des politischen Raums nach rechts, d.h. im Sinne einer umfassenden, mehr oder minder resignativ oder aber identifikatorisch unterfütterten Herrschaftsaffirmation.

    Diese stützt sich - nicht nur in ihren extremen Gestalten und an den Rändern des politischen Spektrums - darauf, vielfältige Ressentiments zu mobilisieren, um Unterstützung für die Behauptung der Alternativlosigkeit der immer noch herrschenden neoliberalen Politik zu gewinnen.

    Der grundlegende Mechanismus dieser Mobilisierung besteht darin, aus den vielfältigen Erfahrungen mit der großen und komplexen Krise unserer Gegenwart Ängste zu erzeugen. Es handelt sich also um eine politische Strategie die grundlegend - auch außerhalb des militärischen Bereichs - mit "Furcht und Schrecken" operiert:

  • Die Kriege rücken näher, nicht nur im Fernsehen, sondern zunehmend auch in Gestalt von Kriegsflüchtlingen;
  • die gesellschaftliche (ökonomische, soziale, kulturelle) Polarisierung schreitet geradezu im Galopp voran;
  • die ungelösten, nur in die Zukunft verschobenen "Schuldenkrisen" beunruhigen, auch wenn sie bisher nicht real die knappen Reserven der "einfachen Leute" bedrohen;

  • die Umweltkrisen grollen gleichsam im Hintergrund - und machen sich immer wieder in Gestalt von Umweltkatastrophen bemerkbar;

  • die Krise der Herrschaftsverhältnisse im Bereich von Gender und Sex schwelt immer noch eher unterirdisch.
  • Diesen Ängsten werden dann mit erheblichem propagandistischem Aufwand zwei Phantasmata entgegengestellt, die Sicherheit durch Unterwerfung anbieten:

  • das Phantasma der "fernen Grenze", welche es "endlich dicht zu machen" gelte, sowie

  • das Phantasma der "endlich wieder gefestigten Identität", in der sich sozialer Status, patriarchale und nationale "Selbst-Behauptung" (durchaus auch von Frauen) mit rassistischen Untertönen verbinden.

    "Ausländer" und genderpolitische "Abweichler" (Lesben, Schwule, Transsexuelle) verkörpern die beiden Grenzen als zu bannende Angstobjekte - wie dies sich an den Slogans von PEGIDA geradezu überraschend klar nachvollziehen lässt.

    Das Potenzial der Gegenmobilisierung und unsere politischen Alternativen

    Wenn wir vor dem eben umrissenen Hintergrund unsere historische Lage bedenken, so sehen wir uns dazu herausgefordert, nicht nur nüchtern und illusionslos diese Lage zu erkennen, sondern zugleich herauszufinden, mit welchen Kämpfen wir uns verbinden, an welche wir anknüpfen und welche wir vielleicht auch neu aufnehmen können, um wieder eine global wirksame gesellschaftliche Alternative zu ermöglichen, die dazu in der Lage ist, eine historische Weichenstellung zu antizipieren, welche mit der Kontinuität der gesellschaftlichen Neoliberalisierung der Welt brechen kann, die in der Krise zu einer rein "sachzwanglogischen" Austeritätspolitik ohne reale politische Entscheidungsmöglichkeiten mutiert ist, wie sie gerade exemplarisch an Griechenland exekutiert wird (vgl. das nd-Dossier #ThisIsACoup#, August 2015).

    Die Gegenmobilisierungen gegen PEGIDA haben gezeigt, dass eine nichtsektiererische Bündnispolitik linker Kräfte durchaus beträchtliche Erfolge erzielen kann. Selbst in den Kernorten der PEGIDA-Mobilisierung wurde sie deutlich von den demokratischen Gegenmobilisierungen übertroffen.

    Die strategische Herausforderung für alle linken Kräfte liegt darin, dieses Potenzial nicht nur zur Abwehr rechtspopulistischer Initiativen zu mobilisieren, sondern tatsächlich für linke, emanzipative politische Alternativen. Das ist, angesichts der diffusen und strittigen Konzeptionen einer linken Transformationsstrategie, eher eine positive Überraschung - und es sollte dazu motivieren, die linke Strategiedebatte mit sehr viel mehr Energie voranzutreiben.

    Diese strategische Herausforderung anzunehmen, kann hier und heute mit praktischer Solidarisierung beginnen - mit der Menge der vielen Betroffenen, aber auch mit der Menge derjenigen, die sich gegen die schleichende Rechtsverschiebung zu wehren begonnen haben, d.h.:

  • mit den wachsenden Mengen von Individuen, die an den Peripherien Europas und der globalen Weltkonstellation von Gewalt, Krieg und Verelendung bedroht sind - und zwar ohne dass wir das Recht dazu hätten, hier unsere Prioritäten zu setzen: Wir stehen hier in der Pflicht, auf allen Ebenen gegen die Ursachen und gegen die Verursacher dieser destruktiven Entfaltung der globalen Krise zu kämpfen;

  • mit der Menge der Vielen, die es geschafft haben, über menschenfeindliche Grenzen hinweg nach Deutschland oder in die EU zu kommen;
  • mit allen denjenigen, die sich hierzulande - und da geht es nicht nur um deutsche, sondern zunehmend auch um europäische Handlungszusammenhänge - individuell und organisiert den rassistischen Verhältnissen entgegenstellen und rassistische Vorstöße abwehren - wie die "Protestdemonstrationen" von PEGIDA es eindeutig gewesen sind.

    Diese Solidarisierung kann sich nicht auf Demonstrationen, Hilfeleistung und politische Initiativen beschränken: Gerade wir als WissenschaftlerInnen sollten wissen, dass eine erfolgreiche Praxis auch immer wieder der Unterstützung durch die theoretische Untersuchung von Lagen und Projekten bedarf, welche alle diejenigen, die in konkreten Auseinandersetzungen stehen, dringend brauchen, um den Realitäten unserer Gesellschaft wirklich auf der Höhe der Zeit ins Auge zu sehen und realitätstüchtig agieren zu können. Die Herausforderung, vor der wir stehen, müssen wir daher gerade als WissenschaftlerInnen immer auch auf unsere eigene Arbeit beziehen: Engagierte theoretische, empirische und historische Arbeit kann zwar nicht die "konkrete Analyse der konkreten Situation" ersetzen, wie sie die in ihr Agierenden immer wieder selber leisten müssen - sie muss aber wesentliche Beiträge dazu liefern, dass dies den Agierenden gelingen kann.

    Sicherlich ist gerade kritische Wissenschaft auf den Feldern von Gesellschaft und Geschichte unserer Zeit immer - wie Klaus Holzkamp dies prägnant formuliert hat - "ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen". Aber hier geht es ganz konkret darum, durch Theoriebildung und konkrete Analysen gegenzuhalten: mit dem Ziel, nicht nur den unmittelbaren Brandstiftern wirksam begegnen zu können, sondern auch die Doppelstrategie der Heuchler unwirksam zu machen, die zugleich gegen den offenen Rassismus protestieren und die ihn produzierenden rassistischen Verhältnisse - vom juristisch verankerten und institutionellen bis zum gelebten Alltagsrassismus - doch immer wieder ganz entscheidend reproduzieren. Auch wenn diese Art von Wissenschaft beständig bekämpft wird, kommt es darauf an, sie mit Sorgfalt und Umsicht zu betreiben - und sich selber eben dabei keine parteiischen, in falscher Weise kämpferischen Kurzschlüsse zu gestatten (während man in der Tat kämpferisch allen Versuchen widersteht, derartige kritische Ansätze aus der institutionalisierten Wissenschaft auszugrenzen).

    Demokratische Wissenschaft ist immer auch kritische Wissenschaft in dem gerade angesprochenen unvermeidlich radikalen Sinne. Angesichts des Phänomens PEGIDA kann sie sich bewähren - indem sie rückhaltlos untersucht, was ist und daraus Kriterien nicht nur dafür gewinnt, was überhaupt sein kann - sondern wo wir ansetzen können, um die Kräfte zu aktivieren, die unsere Gesellschaften wieder in Richtung von Aufklärung und Befreiung transformieren können.

    Und menschliche Freiheit existiert nur als praktizierte Autonomie unter materiellen Voraussetzungen, inneren wie äußeren. Das gilt in der kritischen Wissenschaft ebenso wie in einer demokratischen Politik. Arbeiten wir in diesem Sinne daran, spezifisch zu begreifen, was in unserer gegenwärtigen Lage getan werden kann!

    Anmerkungen

    1) Geplant als Rede auf der Mitgliederversammlung des BdWi am 25.04.2015; konnte wg. Erkrankung nicht gehalten werden.

    2) Der ARD-DeutschlandTrend vom Januar 2015 weist allerdings auch aus, dass den 21% (West: 19 /Ost: 31), welche für die Protestmärsche der PEGIDA-Bewegung großes bzw. sehr großes Verständnis haben, immerhin 76% (West: 78 /Ost: 67) gegenüberstehen, die dafür wenig bzw. gar kein Verständnis haben.

    3) Hier können wir uns produktiv auf die von Jürgen Link vorgelegten Untersuchungen zum "Normalismus" stützen.


    Frieder Otto Wolf ist Honorarprofessor für Philosophie an der FU Berlin und war von 1994-1999 Abgeordneter des Europaparlaments für die Grünen. Er ist Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschland.

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