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Klaus Holzkamp

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Studieren war noch nie so gefragt wie heute

28.07.2015: Alles bestens nach Bologna?

  
 

Forum Wissenschaft 2/2015; Foto: thomas koch / shutterstock.com

Am 14. und 15. Mai 2015 trafen sich in der armenischen Hauptstadt Jerewan die BildungsministerInnen der bis dahin 47 Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung von 1999 zu ihrer nächsten Gipfelkonferenz. Anlass genug für Andreas Keller, eine kritische Zwischenbilanz von 15 Jahren Bologna-Reformen in Deutschland zu ziehen.1

Bologna - in der hochschulpolitischen Debatte in Deutschland löst der Begriff heute ganz unterschiedliche Reflexe aus. Für die einen steht Bologna für den überfälligen Ruck, der durch die Hochschulen in Deutschland gehen musste, um die deutschen Studienstrukturen modern und international wettbewerbsfähig zu machen - gleichauf mit der Exzellenzinitiative, was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulforschung angeht. Für die anderen ist Bologna die Chiffre für die neoliberale Umstrukturierung der Hochschulen, die darauf abzielt, den gesamten Bildungsbereich der Verwertungslogik des Kapitals zu unterwerfen. Wieder andere setzen Bologna mit dem Untergang der Humboldtschen Universität gleich, in welcher sich HochschullehrerInnen noch unbehelligt - in Einsamkeit und Freiheit - der Wissenschaft widmen konnten.

Ich möchte der Versuchung widerstehen, die Bologna-Reform vorschnell in eine dieser Schubladen einzusortieren, sondern stattdessen eine nüchterne Analyse vornehmen. Welche Auswirkungen hatte die Reform für die hochschulpolitische Entwicklung in Deutschland aus der Perspektive der Studierenden, der WissenschaftlerInnen und anderen Hochschulbeschäftigten? Welche negativen, aber auch positiven Auswirkungen sind zu verzeichnen?

Bildungspolitische Topthemen

Eine positive Auswirkung des Bologna-Prozesses ist erstens, dass heute überhaupt wieder intensiv über Lehre und Studium diskutiert wird. Studienreform und Qualität der Lehre sind in den letzten 15 Jahren zum bildungspolitischen Topthema geworden. Bis Ende der neunziger Jahre spielte das Thema Studium und Lehre auf der bildungspolitischen Agenda des Bundes und der Länder, der Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen keine große Rolle. Das hat sich geändert - nicht nur, aber auch in Folge der Bologna-Reformen. Dass heute eine ernsthafte Debatte über innovative Lehrmethoden wie studierendenzentrierte Lehre (Student-Centred Learning - SCL) stattfindet, die nicht mehr die DozentInnen, sondern die Studierenden in den Mittelpunkt des Lehr- und Studienprozesses rückt, wäre ohne die Impulse des Bologna-Prozesses, auf dessen Agenda SCL seit der MinisterInnenkonferenz 2010 in Leuven steht, kaum denkbar.2

Zweitens haben die Bologna-Reformen in Deutschland wichtige Impulse für die Verbesserung der Durchlässigkeit des Hochschulwesens, ja darüber hinaus des gesamten Bildungssystems gegeben. Zugegeben, immer noch versuchen sich Universitäten von Fachhochschulen abzuschotten - dabei handelt es sich um einen der zentralen Konflikte innerhalb der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Gleichwohl haben die Bologna-Reformen dafür gesorgt, dass es zwischen einem an einer Uni und einem an einer Fachhochschule (FH) erworbenen Bachelor zumindest formal keinen Unterschied mehr gibt. Die Unterscheidung zwischen dem "Dipl.-Ing." und dem "Dipl.-Ing. (FH)" gibt es nicht mehr. Ein an einer FH erworbener Bachelor eröffnet grundsätzlich den Zugang zu einem Masterstudium an einer Uni - und umgekehrt. Auch das ist übrigens ein wesentlicher Grund für die nostalgische Sehnsucht vieler Technischer Universitäten nach dem guten alten Diplom-Ingenieur.

Zentral für den Bologna-Prozess ist die Beteiligung von "Stakeholdern" (Interessengruppen) - ein dritter positiver Impuls des Bologna-Prozesses. Zu ihnen gehören seit 2001 die Studierenden, die auf europäischer Ebene von der europäischen Dachorganisation der Studierendenvertretungen European Students' Union (ESU) vertreten werden, sowie seit 2005 auch als Pendant zur europäischen Arbeitgebervereinigung Business Europe die Bildungsgewerkschaften, die über die internationale Dachorganisation Education International (EI), der in Deutschland die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) angehört, die Hochschulbeschäftigten repräsentieren. Beide Organisationen sind Teil der hochschulpolitischen Zivilgesellschaft, die sich im Zuge des Bologna-Prozesses in Europa gebildet hat.

Hochschulpolitische Zivilgesellschaft

ESU und EI sind gemeinsam mit den anderen Stakeholdern in der Bologna-Follow-up Group (BFUG) vertreten, in der RegierungsvertreterInnen der 47 Bologna-Unterzeichnerstaaten sowie der Europäischen Kommission die wesentlichen Abstimmungen zwischen den alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Ministerkonferenzen vornehmen. Der studentische Dachverband gehört darüber hinaus mit den europäischen Dachorganisationen der Universitäten (EUA), der nichtuniversitären tertiären Bildungseinrichtungen (EURASHE) und der Qualitätssicherungsagenturen (ENQA) zur E4-Gruppe, die zentrale Aufgaben in der europäischen Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung wahrnimmt und als solche Trägerin des 2008 eingerichteten Europäischen Qualitätssicherungsregisters (EQAR) ist.

In Deutschland sind der Dachverband der Studierendenvertretungen fzs und - für die Gewerkschaften - die GEW in der Bund-Länder-AG "Fortführung des Bologna-Prozesses" vertreten. Im nationalen Team der Bologna-ExpertInnen, einem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) mit Mitteln der Europäischen Kommission durchgeführten Projekts zur Beratung und Unterstützung der Hochschulen, sind seit 2014 keine VertreterInnen der Studierenden und Gewerkschaften mehr repräsentiert. Studierende sowie die Gewerkschaften IG Metall und ver.di sind indes im Akkreditierungsrat vertreten.

Die Beteiligung der Studierenden und der Gewerkschaften an der Qualitätssicherung der neuen Studiengänge durch das Akkreditierungssystem stellt auf der einen Seite eine große Chance dar, Qualitätssicherung als staatsfernen, aber gleichwohl öffentlich und demokratisch verfassten Prozess zu organisieren und zu gestalten. Auf der anderen Seite birgt der deutsche Weg, das Akkreditierungsgeschäft einem Markt überwiegend privatrechtlich verfasster Akkreditierungsagenturen zu überlassen, die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung eine abgeschottete und intransparente Bürokratie von ExpertInnen und LobbyistInnen etabliert wird. Ob die Partizipation von Studierenden und Gewerkschaften substanziell ist und tatsächlich wirksam werden kann oder nur eine Feigenblattfunktion erfüllt, muss daher ständig reflektiert werden.

Der Beteiligung von Studierenden und Gewerkschaften ist es letztlich zu verdanken, dass wichtige Zielsetzungen in der Bologna-Agenda verankert werden konnten, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Seit der Prager Ministerkonferenz 2001 gehört die soziale Dimension des Europäischen Hochschulraums zum Bologna-Programm. Die Studierendenschaft soll die Diversität der Bevölkerung widerspiegeln - dieser Anspruch wird im Londoner Kommunikee von 2007 formuliert. Chancengleichheit beim Hochschulzugang und im Studium, eine wirksame Ausbildungsförderung, eine leistungsfähige soziale Infrastruktur an den Hochschulen - diese Themen gehören seitdem mit zum Bologna-Diskurs.

2010 ist den Bildungsgewerkschaften bei der MinisterInnenkonferenz in Wien und Budapest gelungen, das Ziel eines förderlichen Arbeitsumfelds ("supportive environment") für Hochschulbeschäftigte in die Bologna-Agenda zu bringen. Bis dahin war allenfalls von der Förderung der Mobilität von Hochschulbeschäftigten die Rede. Wie die Beschäftigten in Lehre und Forschung, Technik und Verwaltung die ehrgeizigen Reformen eigentlich umsetzen sollen und welche Unterstützung sie dafür bekommen, war kein Thema. Dabei bedeuten die Bologna-Reformen gerade für die Hochschulbeschäftigten eine enorme zusätzliche Belastung, während sich gleichzeitig ihre Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen verschlechtern, wie soeben eine europaweite Untersuchung von neun Bildungsgewerkschaften nachgewiesen hat. 3

Ein förderliches Arbeitsumfeld muss es auch für DoktorandInnen geben. Das aber setzt voraus, Promovierende nicht als Studierende in der dritten Phase des Studiums nach Bachelor und Master zu begreifen ("third cycle"), sondern als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der ersten Phase ihrer Berufsausübung - als "early-stage researchers", als welche die Promovierenden in den Empfehlungen der Europäischen Kommission von 2005 für eine "Europäische Forschercharta" und für einen "Kodex für die Einstellung von Forschern" gesehen werden.4 Der Europäische Hochschulraum ist in dieser Hinsicht weniger klar: Seit der Bergener MinisterInnenkonferenz 2005 steht die Promotion auf der Agenda des Bologna-Prozesses, doch beide Sichtweisen - "third cycle" versus "early-stage researcher" - konkurrieren.

Zweistufige Studienstruktur

Den positiven Impulsen, die die Bologna-Reformen auch für die hochschulpolitische Entwicklung in Deutschland setzen konnten, stehen Schattenseiten gegenüber. Ein Kernelement der Bologna-Reformen - die Studienstrukturreform mit dem Ziel, flächendeckend ein zweistufiges Studiensystem mit den Abschlüssen Bachelor und Master einzuführen - gehört leider dazu. Bei der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge in Deutschland wurden im Kern zwei Fehler gemacht. Zum einen wurde die Zweistufigkeit in fast allen Fächern auf Biegen und Brechen durchgesetzt - egal ob es in der jeweiligen Fachrichtung tatsächlich möglich und sinnvoll ist, einen wirklich berufsqualifizierenden Abschluss auf Bachelor-Niveau zu erwerben oder nicht.

Beispielsweise erkennt kein einziges Bundesland den Bachelor als berufsqualifizierenden Abschluss für den LehrerInnenberuf an, Voraussetzung für den Zugang zum Vorbereitungsdienst ist ein Masterabschluss oder das Staatsexamen. Dennoch hat die Mehrheit der Länder Bachelor- und Masterstudiengänge auch in der LehrerInnenbildung eingeführt - ohne befriedigend die Frage beantwortet zu haben, für welchen Beruf ein Lehramts-Bachelor eigentlich qualifiziert.

Das wäre nicht weiter dramatisch, wenn nicht gleichzeitig ein zweiter Fehler gemacht worden wäre: die Errichtung massiver Hürden beim Übergang vom Bachelor- zum Masterstudium. Dabei handelt es sich zum einen um kapazitätsbedingte Hürden: Es gibt einfach nicht genug Masterstudienplätze für alle BachelorabsolventInnen. Zum anderen haben wir es mit strukturellen Hürden zu tun: Selbst wenn es ausreichend Masterstudienplätze gäbe und kein Numerus Clausus verhängt werden müsste, wird die Zulassung zum Masterstudium vielerorts von einer Mindestnote im Bachelor-Zeugnis oder besonderen Qualifikationen abhängig gemacht.

Auch wenn die "besonderen Zugangsvoraussetzungen" fürs Masterstudium entsprechend der ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen seit 2010 nicht mehr obligatorisch sind, blieben sie als Option ausdrücklich erhalten: "In einem System mit gestuften Studienabschlüssen ist der Bachelor der Regelabschluss eines Hochschulstudiums", heißt es in den KMK-Strukturvorgaben weiterhin.5 Der freie Zugang zum Masterstudium für alle BachelorabsolventInnen gehörte daher zu den zentralen Forderungen der Bildungsproteste 2009.

Gleichwohl nehmen es Bund und Länder erstaunlicherweise hin, dass sich einige wenige, aber zahlenmäßig sehr bedeutende Fächer Bachelor und Master standhaft widersetzen: die staatlich regulierten Studiengänge Jura, Medizin, Zahnmedizin, Pharmazie. Bund und Länder müssten zunächst durch eine Reform der staatlichen Ausbildungsordnungen den Weg für die Bologna-Reformen frei machen, aber sie tun es nicht, seit 15 Jahren nicht. Die Justiz- und GesundheitsministerInnen scheinen nicht sonderlich ernst zu nehmen, was ihre KollegInnen in den Kultus- und Wissenschaftsressorts vereinbaren. Allein das zeigt aber, welchen Spielraum die Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung sich ganz selbstverständlich für eine flexible Umsetzung der Bologna-Vorgaben nehmen können - wenn sie nur wollen.

Schattenseite: Mobilität

Neben der Einführung von Bachelor- und Masterstrukturen ist die Förderung der Mobilität ein weiteres Kernelement der Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland, das zu den Schattenseiten der Bologna-Bilanz zu gezählt werden muss. "Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet" - auf diesen Begriff lässt sich bringen, was die Umsetzung der Bologna-Reformen in Sachen Mobilitätsförderung von Studierenden tatsächlich gebracht hat. So war die Auslandsmobilitätsquote von Studierenden im Erststudium insbesondere in höheren Hochschulsemestern zwar in den 1990er Jahren stark angestiegen, seitdem stagniert sie aber, entwickelt sich teilweise sogar rückläufig - der Höchststand der Mobilitätsquote wurde 2000 und damit ein Jahr nach der Bologna-Erklärung erreicht.6 Hinzu kommt, dass die Mobilität von Studierenden aus niedrigen sozialen Herkunftsgruppen noch niedriger liegt.7

Neben den sozialen und finanziellen Hürden sind es vor allem Anerkennungsprobleme, die die Mobilität im Europäischen Hochschulraum erschweren. In ihrer Empfehlung zur europäischen Studienreform von 2013 räumt die Mitgliederversammlung der HRK Probleme bei der Umsetzung der Lissabon-Konvention zur gegenseitigen Anerkennung von Hochschulqualifikationen ein.8 Die angebotenen Lösungsvorschläge sind aber defensiv: Gemeinsame Studienprogramme und -abschlüsse europäischer Hochschulen sowie curriculare Mobilitätsfenster sollen Mobilität erleichtern. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Mobilität nur noch unter ganz bestimmten Voraussetzungen reibungslos funktionieren soll, aber gerade nicht als Normalfall garantiert wird. Mit der ursprünglichen Vision der studentischen Freizügigkeit im Europäischen Hochschulraum hat das nur noch wenig zu tun.

Hinzu kommt, dass die Mobilität auch im deutschen Hochschulraum immer schwieriger wird. Der Wechsel von Berlin nach Potsdam kann für Studierende größere Anerkennungsprobleme aufwerfen als von Riga nach Lissabon. Die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge ging in Deutschland mit einem Wettbewerb um möglichst unverwechselbare Studienangebote einher. Man studiert heute nicht mehr einfach Betriebswirtschaftslehre, sondern "Technologie- und Managementorientierte BWL", "Business Administration and Economics", oder "BWL Innovativ, Integrativ, International", aber auch "BWL - Messe-, Kongress- und Eventmanagement", "BWL - Food Management" oder "BWL - Controlling & Consulting". Die Folge des Profilierungswettbewerbs ist, dass der Wechsel von einer Hochschule an die andere häufig ausgeschlossen ist oder aber voraussetzt, dass eine Reihe an Modulen nachgeholt werden müssen. Damit ist aber eine zentrale Legitimation der Studienstrukturreform - die Erleichterung der Mobilität durch ein System leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse - ad absurdum geführt worden.

Verrückte Modularisierung

Mit der Modularisierung ist schließlich ein drittes Reformelement auf der Negativliste der Zwischenbilanz zu verbuchen, das in Deutschland geradezu identitätsbildend für die Umsetzung der Bologna-Reformen ist. Die Module spielen verrückt: Bürokratisierung und Überregulierung, Verschulung und Verdichtung des Studiums, Übermaß an Workload und Prüfungslast - was 2009 in den Bildungsprotesten von Studierenden, aber auch vieler Lehrenden mit Wucht an Frust zum Ausdruck kam, hat in den KMK-Vorgaben zur Modularisierung ihre Grundlage. Das Modulhandbuch ist zum Schrecken nicht nur vieler Studierender, sondern auch Lehrender geworden.

Zwar hat die KMK 2009 unter dem Druck der Bildungsproteste nachgesteuert und die Vorgaben für die Modularisierung in den Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen überarbeitet: "in der Regel" soll es nur noch eine Prüfung pro Modul geben, "in besonders begründeten Fällen" kann sogar eine Prüfung für mehrere Module abgelegt werden, der erfolgreiche Abschluss eines Moduls kann auch ohne Prüfung nachgewiesen werden, durch eine Mindestmodulgröße von sechs ECTS-Punkten wurde die Zahl der Prüfungen auf fünf pro Semester begrenzt.9 Doch dabei handelt es sich um Soll-, Kann und Ausnahmebestimmungen, die nur greifen und tatsächlich zu einer Entlastung von Lernenden und Lehrenden beitragen, wenn die Länder und Hochschulen den Spielraum auch nutzen. Ob und in welchem Umfang dies erfolgt ist, wurde bislang nicht systematisch untersucht.

Mit ihren im Jahr 2000 vorgelegten und 2009 gelockerten "Rahmenvorgaben für die Einführung von Leistungspunktsystemen und die Modularisierung von Studiengängen" ist die KMK weit über die Vorgaben der Bologna-Erklärung hinausgeschossen, die zunächst nur die Einführung eines Anrechnungspunktsystems nach dem Vorbild des European Credit Transfer System (ECTS) vorsah. Die Modularisierung, die in anderen Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung gänzlich unbekannt ist, ist ein Beispiel dafür, wie die Landesregierungen in Deutschland die Gunst der Stunde nutzten und unter dem Vorwand Bologna ihre eigene hochschulpolitische Agenda durchsetzten.

Die Zwischenbilanz von 15 Jahren Bologna-Reformen in Deutschland zeigt: Nicht zuletzt aufgrund der Beteiligung von Studierenden und Gewerkschaften ist es gelungen, Positionen für eine fortschrittliche Hochschulentwicklung und Studienreform in der Bologna-Agenda zu verankern: Studierendenzentrierte Lehre, Durchlässigkeit, soziale Dimension oder ein förderliches Arbeitsumfeld für Hochschulbeschäftigte. Kernelemente der Bologna-Reformen - Bachelor und Master, Mobilität und Modularisierung - haben hingegen nicht zu einer Verbesserung, sondern in vieler Hinsicht zu einer Verschlechterung der Situation von Studierenden und Hochschulbeschäftigten geführt.

Nicht Bologna ist gescheitert...

Verantwortlich für die Fehlentwicklungen sind weniger die in den Bologna-Kommunikees verankerten Zielsetzungen als vielmehr die Art und Weise der Umsetzung in Deutschland. "Nicht Bologna ist gescheitert, sondern Bonn", hat in diesem Sinne die GEW bereits 2009 geurteilt - unter Anspielung auf die Sitzung von BMBF, KMK, HRK und Akkreditierungsrat in der früheren Bundeshauptstadt.10

Damit sind wir ausdrücklich jenen entgegengetreten, die das Rad der Geschichte am liebsten nicht nur vor 1999, sondern vor 1968 zurückdrehen wollten - in eine Zeit, in der Ordinarien noch ans Katheder treten konnten, ohne sich darum kümmern zu müssen, was von ihrer Vorlesung bei den HörerInnen ankam, in eine Zeit, in der die die Söhne und wenigen Töchter aus bürgerlichen Elternhäusern an den Universitäten weitgehend unter sich blieben und den Sprung auf eine lukrative berufliche Position auch dann schafften, wenn ihr Studium nicht wirklich berufsbefähigend war. In einer Zeit aber, in der in Deutschland die Hälfte, in vielen anderen OECD-Ländern über 60, 70 oder 80 Prozent eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium aufnehmen, ist es damit nicht mehr getan. Ein gutes Studium muss beides leisten: Bildung und Ausbildung. Wer die soziale Öffnung der Hochschulen ernst meint, muss sich auch zur Qualität von Studium und Lehre bekennen.

Ja, es ist richtig: Der Bologna-Prozess ist ohne die Lissabon-Strategie der Europäischen Union, dem Vorläufer der Strategie Europa 2020 nicht zu denken. Der Europäischen Kommission geht es mit ihrer Bildungs- und Forschungspolitik im Kern um die Stärkung des Wirtschaftsraums Europa im Standortwettbewerb mit anderen Regionen. Dazu soll auch der Europäische Hochschulraum beitragen. Auch deshalb wurde der Bologna-Prozess nicht unter dem Dach der UNESCO oder des Europarats gestartet, was naheliegend gewesen wäre, sondern im Rahmen völlig neuer Strukturen in enger Anbindung an die Europäische Union.11

Aber ebenso wie Lissabon-Strategie und die Strategie Europa 2020 - zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa - bildungs- und forschungspolitische Zielsetzungen hervorgebracht hat, auf die sich Gewerkschaften in ganz Europa positiv beziehen wie die Ausweitung der Ausgaben für Bildung und Forschung, die Senkung der SchulabbrecherInnenquoten oder die Steigerung der HochschulabsolventInnenquoten, stehen auch auf der Agenda des Bologna-Prozesses Zielsetzungen, deren Umsetzung die Hochschulpolitik in Deutschland nicht verschlechtern, sondern verbessern würde: die Durchlässigkeit des tertiären Bildungssystems, die soziale Dimension des europäischen Hochschulraums oder die Entwicklung der Qualität von Studium und Lehre.12

Die Gewerkschaften wären also schlecht beraten, wenn sie diese Ankerpunkte nicht als zusätzliche Argumente und Interventionsmöglichkeiten für die Durchsetzung ihrer hochschulpolitischen Ziele nutzen würden. Ebenso wichtig ist, dass die Gewerkschaften an ihren Zielsetzungen, die über den Rahmen des Bologna-Prozesses hinausgehen, festhalten und Fehlentwicklungen in den Bologna-Reformen schonungslos benennen und einen Kurswechsel einfordern.

Anmerkungen

1) Überarbeitete und gekürzte Fassung des Beitrages des Verfassers zum Bologna-Symposium des Deutschen Gewerkschaftsbunds am 12. März 2015 in Berlin. Das Manuskript wurde vor dem Jerewan-Gipfel am 14. und 15. Mai abgeschlossen.

2) Das Leuven-Kommunikee ist wie alle anderen Kommunikees auf der offiziellen Bologna-Website abrubar: www.ehea.info .

3) Franziska Leischner / Julia Rüthemann 2015: Schaffung eines förderlichen Arbeitsumfeldes an Hochschulen. Deutscher Beitrag zum internationalen Forschungsprojekt des Forschungsinstituts der Bildungsinternationale (Education International Research Institute): "Creating a Supportive Working Environment in European Higher Education", Frankfurt a.M., www.gew.de/GEW_Hochschulreform_nicht_gegen_sondern_mit_den_Beschaeftigten.html .

4) ec.europa.eu/euraxess/pdf/brochure_rights/eur_21620_de-en.pdf .

5) www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_10_10-Laendergemeinsame-Strukturvorgaben.pdf . Vgl. Andreas Keller 2010: "Jetzt die Weichen für den Kurswechsel stellen", in: Klemens Himpele / Andreas Keller / Sonja Staack (Hg.): Endstation Bologna? Zehn Jahre Europäischer Hochschulraum, Bielefeld (GEW Materialien aus Hochschule und Forschung, Bd. 116): 199 ff.

6) Elke Middendorff / Beate Apolinarski / Jonas Poskowsky / Maren Kandulla / Nicolai Netz 2013: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012, 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung, Berlin: 154 f.

7) Ebenda: 173.

8) www.hrk.de/positionen/gesamtliste-beschluesse/position/convention/studienreform/ .

9) A.a.O.

10) Andreas Keller 2009: "Bologna 2.0 - Zeit für einen Kurswechsel", in: Ulf Banscherus / Annerose Gulbins / Klemens Himpele / Sonja Staack: Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, Frankfurt am Main: 7 ff. Vgl. www.gew.de/GEW_Nicht_Bologna_ist_gescheitert_sondern_Bonn.html .

11) Vgl. Eva Hartmann 2014: "Europäische Hochschulen mit globaler Verantwortung?", in Forum Wissenschaft 1/2014: 22-26.

12) Vgl. Andreas Keller 2014: "Kooperation oder Wettbewerb? Die europäische Bildungs- und Forschungspolitik auf dem Prüfstand", in: Annelie Buntenbach / Frank Bsirske / Andreas Keller / Wolfgang Lemb / Dietmar Schäfers / Hans-Jürgen Urban: Ist Europa noch zu retten? Analysen und Forderungen für eine offensive Europa-Politik, Hamburg (Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2014): 22 ff.


Dr. Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender und Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

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