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Klaus Holzkamp

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Die Türkei - ein Land der Widersprüche

22.05.2014: Istanbul zwischen Modernismus und Traditionalität

  
 

Forum Wissenschaft 1/2014; Foto: Ralf Roletschek, Fahrradtechnik und Fotografie / commons.wikimedia.org

Im Sommer 2013 erschütterten wochenlange Protestaktionen und gewaltige Demonstrationen die größte türkische Stadt Istanbul. Wenige Wochen danach besuchte unsere Autorin Ilina Fach die Stadt und beobachtete eine Stadt voller politischer und kultureller Widersprüche. Die Eindrücke ihrer Reise hat sie in Wort und Bild festgehalten.

Vom 11. bis 18. Juli 2013 war ich in der Türkei. Es war für mich sehr spannend, Istanbul nach 39 Jahren wiederzusehen und einen völlig anderen Eindruck zu gewinnen.

Damals landete ich am Atatürk-Flughafen, der aus einer großen Ankunftshalle innen bestand und außen aus einem riesigen Plateau, auf dem Menschen auf der Erde saßen, lagen - kein Baum, kein Strauch - in Erwartung eines Busses oder Taxis, das sie in die Innenstadt brachte. Wassermangel (nur vormittags Wasser), Toiletten in schlechtem Zustand, die Hagia Sophia schwarz-verdreckt, die blaue Moschee strahlend. Viele Arme im asiatischen Teil, die dort illegal an den Mauern ihre Behausungen primitiv gebaut hatten, ohne Wasser und Elektrizität, ein Mittelstand in dem Viertel mit den Häusern aus dem 19. Jh., die wie in Paris aussehen. Hamams, sorgfältig geschminkte und gestylte, modische Frauen der Ober- und Mittelschicht. Schwierigkeiten im Verkehr, keine Straßenbahn, keine U-Bahn, bei der Wahl zwischen Dolmus und Taxi war ich immer unsicher, ob ich in die Gegend komme, in die ich wollte. Autos hupten, wenn Menschen sich bei der Hand hielten, westlichen Frauen wurde in der Moschee in den Hintern gegriffen, wenn sie kurzärmlig hereingingen.

Jetzt kam ich an einem hochmodernen Flughafen an, der hinsichtlich der Übersichtlichkeit sich mit jenem in Frankfurt vergleichen lässt. Angestellte fahren mit elektrisch angetriebenen Go-aways die langen Flure entlang. Viele Shoppingmalls, Cafés, zwei Hallen zum Abholen von Gepäck, Hektik überall. Außerhalb mit Wasser besprühte Bäume und Blumen, moderne Häuser drumherum. Es gibt Busse, Taxis und Dolmus, in der Innenstadt Straßenbahn und U-Bahn.

Nach einer 20minütigen Taxifahrt zum Hafen stiegen wir in ein Schiff ein und fuhren die Küste entlang. Der Blick entlang der Küste verdeutlichte, wie riesig die größte Stadt Europas in der Ausdehnung auf Hügeln am Meer ist. Nach einem abermaligen Schiffswechsel kamen wir auf einer der Prinzeninseln an. Wasser gibt es auf den Inseln, weil es durch Pipelines vom Festland herübertransportiert wird. Trinkbar ist es nicht.

Von Insel zu Insel

Am Abend erfolgte ein Spaziergang zum Park von Heybeliada, in dem eine überdimensionale, aus weißen Tuchfetzen auf Fischernetz geknüpfte Taube zwischen den Bäumen aufgehängt war und manche der verehrten alten Bäume mit weißen Streifen umwickelt waren, Symbole für die Wünsche der Demonstranten. Die Taube wird von Insel zu Insel und dann nach Istanbul gebracht. An einem Tag in der Woche treffen sich dort die Einwohner und besprechen, was nötig ist. Derzeit fehlte ein Arzt und ein Notruf, weil der alte Arzt nicht mehr arbeitet. Die Bewohner müssen also eine Stunde mit dem Schiff rechnen, um nach Istanbul zu den sehr guten und preiswerten Krankenhäusern zu fahren. Was neu ist auf den Inseln, ist ein Tauschmarkt, auf den Menschen ihre Klamotten und Bücher hinbringen und von dort einige wieder nach Hause nehmen.

Auf den bewaldeten Prinzeninseln stehen sehr schöne Holzvillen aus dem 19. Jahrhundert, deren Farbe teils renoviert, teils abgeblättert ist. Denn die vom Meerwasser salzig aufgeladene Luft zerfrisst die Bemalung und das Holz, wenn es nicht immer wieder und gut restauriert wird.

Eine sehr gut recherchierte Ausstellung in einer Galerie auf Büyükada informierte darüber, dass die Prinzeninseln ursprünglich in griechischer und römischer Hand waren und dass der türkische Staat 1922 beschloss, alle an sie erinnernden Namen zu tilgen und durch türkische zu ersetzen.

Das Haus, in dem ehedem Trotzki vier Jahre lang in Sicherheit gelebt hat, war ein steinernes Haus mit einem riesigen Garten, das zusehends verfällt. Das Ganze soll für 5 Millionen US-Dollar verkauft werden. Wenn nicht bald jemand das Haus renoviert, wird es so verfallen, bis ein Investor es aufkauft und dann dort ein in den Ausmaßen und Höhen wahrscheinlich unpassendes Betonhotel hinbaut.

Es gibt aber auch Clubs, in denen jeder Eintrittswillige bis auf die Clubmitglieder von Polizei am Eintritt gehindert wird. Sie haben einen eigenen Park und eigenen Zugang zum Meer.

Die Munizipalitäten der Inseln und einzelnen Stadtviertel haben wenig Geld, so wenig, dass sie ihre kostbaren Gebäude nicht renovieren können, und so wenig Macht, dass jemand, der als Investor ein Hochhaus in eine intakte Holzhäuserkolonie bauen möchte, von der Regierung Erdogan sich die Erlaubnis holt, und dann baut. Holzhäuser sind dabei eine Sicherheitsmaßnahme gegen die Erderschütterungen. Auf dieser Insel gibt es auch riesige Hotels, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und als Kongresszentren dienen. Von ihnen hat man eine wunderbare Aussicht auf das Meer und das in der Ferne gelegene Istanbul.

Auf den Inseln wachsen Palmen, Pinien, Bougainville, rosa und weiß blühende Oleander und Obstbäume. Die Pinienwälder wurden in Heybeliada erst vom Premierminister Atatürks, Inonou, angelegt. Sein ehemaliges Haus ist jetzt ein Museum. Zwei seiner Söhne sind ebenfalls bereits gestorben, nur noch die Tochter lebt hochbetagt in Istanbul. Das Museum hat alles aufbewahrt an Kleidung und Inventar aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Auf die Prinzeninseln wurden ursprünglich die Söhne der osmanischen Sultane, die sich gegen ihre Väter erhoben und nicht gesiegt hatten, verbannt. Bevor sie dort leben konnten, wurden sie geblendet. Heute haben viele Istanbuler Reiche (Ober- und Mittelschicht) ihre Sommerhäuser dort. Denn im Sommer können sie hier baden. Auf der Insel gab es sogar ein Haus, in dem ehedem ein homosexueller Schriftsteller mit seinem Freund oben am Berg gewohnt hat. Niemand störte sich an dessen Liebesleben. Toleranz war auf den Inseln angesagt. Denn dessen Reichtum brachte den Händlern ebenfalls Einkommen.

Auf den Bergen haben sich illegal Menschen - Griechen, Aleviten und Kurden - niedergelassen und ihre einstöckigen Lehmhäuser gebaut oder sind in verfallende Häuser eingezogen.

Das Schönste an den Inseln ist, dass kein Autoverkehr zugelassen ist, sondern Pferdedroschken oder Elektroautos und Fahrräder benutzt werden, das Kreischen der Lachmöwen regt zum Lachen an oder stört des Nachts den Schlaf. Um 1/2 4 Uhr morgens ruft der Muezzin lautstark über Lautsprecher alle Schlafenden zum Gebet. Dann ist es mit dem Schlaf aus. Wunderschöne Katzen laufen in großer Menge durch die Straßen oder springen von Garten zu Garten der Häuser. Eine junge Möwe teilte sich mit einer jungen Katze einen Wassertopf. Ganz vorsichtig bewegte sich die Katze, ganz vorsichtig trat die Möwe einen Schritt zurück. Sobald sich die Katze zurückzog, setzte sich die Möwe ins Wasserbecken und trank daraus. Das Meer ist recht sauber. Allerdings sind die Strände in Privathand, die Bewohner, die sie nutzen wollen, müssen 67 Euro pro Monat dafür zahlen. Die Lebensmittelpreise sind mit unseren vergleichbar, differieren aber von Insel zu Insel um 50%. Je touristischer eine Insel vermarktet wird, desto teurer sind die Lebensmittelpreise.

Es gibt dort große, rosarote süße Tomaten, die es bei uns nicht gibt, weil sie für einen Transport zu empfindlich sind. Das Essen ist derart reichhaltig und gut und die vegetarische Küche samt Nachspeisen sehr vielfältig.

City der Gegensätze

Die Innenstadt von Istanbul lässt sich beschreiben als Widerspruch zwischen traditionellen bemalten Holzhäusern und Hochhäusern mit uniformem Gesicht der Betonhochhäuser, zwischen Missbrauch von historischen Gebäuden als Lagerhalle (400 Jahre altes Hamam) und Restaurierung (Hagia Sophia und Sultan Ahmet-Moschee mit Brunnen und einem in ein Restaurant verwandelten Hamam), zwischen Zerstörung von byzantinischen Kirchen (St. Sophia-Orhan-Moschee in Nikäa (dort hat das erste ökumenische Konzil stattgefunden) durch Einbau von einem erhöhten Boden für muslimisch-religiösen Gebrauch und vereinzelter Bewahrung, zwischen traditioneller Unterbringung des Bazars Kapali in eine byzantinische, mit Fresken bemalte Architektur und der völligen Missachtung von deren Ästhetik: da wurden Elektroschnüre einfach in die Fresken hereingehauen.

Istanbul liegt auf Hügeln. Daher sind auch die Märkte auf verschiedenen Niveaus angebracht. Es gibt Straßen mit Gold-, Silber-, Eisen- und Tuchwaren, dazwischen Cafés innerhalb von Märkten. Broker rufen sich öffentlich ihre Notizen zu. Von ihnen hängt der endgültige Preis von Gold und Aktien ab.

Auf den Märkten gibt es inzwischen neben asiatischen Stehklos auch europäische Sitzklos. Überall ist jeder angehalten, kein Papier in die Kanalisation zu werfen. Das ist sehr sinnvoll, da die Reinigung des Wassers insbesondere wegen des Papiers sehr schwer ist.

Wasser wurde über die Staudämme im Osten Anatoliens geleitet. Ganze Landschaften mit ihrer Fauna, Flora und seltenen Tieren sowie Dörfer wurden an Euphrat und Tigris zerstört. Am Bau beteiligten sich auch deutsche Firmen. Das Ganze ist ein bevölkerungs-, kulturpolitischer und ökologischer Macht-Faktor hinsichtlich künftiger Kriege mit den Bewohnern und den Nachbarländern. So ist das Wasserproblem weitgehend "gelöst". Weitere Staudämme, gegen welche die kurdische Bevölkerung demonstriert, sind geplant.

Auf Fischmärkten sind fast nur noch drei bis vier Sorten Fisch zu haben (Sprotten, Kalamares und Makrelen). Das Mittelmeer ist ausgefischt. Dennoch habe ich vor der Küste der Inseln noch zwei Delphine sehen können.

Ein internationales Hotel aus alter Zeit zeigte einen großen Charme mit bemalten Fenstern, Kuppeln, bewahrte den Sinn für die Ästhetik des 19. Jahrhunderts und für die Antiquität des ersten Aufzugs aus dieser Zeit und der ersten Schreibmaschinen. Andererseits sind uniforme Klötze aus Glas und Beton von Siemens und anderen Firmen neben Wohnhäusern, die überdimensionierten Stelen ähneln, zu sehen, die den Eindruck der treppenförmig übereinander gestaffelten Holzhäuser stören. In diesen stelenartigen Gebäuden wohnen die Armen.

Es gibt reiche muslimisch geprägte Stadtviertel, in denen Frauen mit schwarzen Burkas aus den Emiraten flanieren und bei Chanel einkaufen. Hier gibt es auch Modegeschäfte für ausgefallene Hochzeitskleider in Weiß. Fast jede fünfte Frau trägt hier ein Tuch um den Kopf, während dies auf den Inseln und in anderen Stadtvierteln seltener vorkommt. Frauen und Männer gehen auf den Inseln und in Istanbul in der Hitze von 28 Grad wie in Deutschland mit ärmelloser Bekleidung. Jedoch wird jeder, die eine Moschee betritt, ein Kopftuch und ein Überkleid zur Pflicht gemacht. Auf dem Schiff haben sich Menschen ihre Zuneigung durch Aneinanderkuscheln und Küssen gezeigt - undenkbar vor 40 Jahren.

Die Reichen am Bosporus

Am Bosporus stehen Paläste aus Stein und aus bemaltem Holz mit terrassenförmigen Gärten. Überall auf den privaten Anlagen werden Palmen, Bäume und Blumen mit Wasser besprüht und dort, wo etwas wächst, sieht es sehr schön grün aus mit Oleander und Bougainville. Ehemals bestand der Bosporus aus einzelnen Dörfern, inzwischen stehen die Paläste einer neben dem anderen beiderseits entlang der Küste. Es gibt eine sehr reiche Schicht, die aus ehemaligen Pascha-Kindern, Diplomaten, Firmenbesitzern oder dem Mittelstand besteht. Viele der Häuser sind leer, weil sie als Sommerresidenzen verwendet werden.

Die staatlichen Universitäten zahlen den Professoren nur 2000 Euro, die privaten zwischen 2000 und 6000 Euro. Wie viele Universitäten in den Stadtvierteln wirken, konnte ich nicht eruieren. Auf meine Frage, weshalb so viele Frauen an Universitäten lehren, bekam ich zur Antwort: Atatürk wollte, als er an die Regierung kam, Frauen fördern. Es gab bereits 1910 eine Frauenbewegung. Dadurch kamen nicht nur Töchter der Reichen, sondern aus der Mittelschicht, teilweise Unterschicht zum Studium und nahmen an der Universität Positionen ein, nicht jedoch in der Politik. Westler meinten, die Wissenschaft in der Türkei sei unterentwickelt, deshalb hätten sie eine Nische besetzt. Dies trifft aber nicht zu, da die Universitätsprofessorinnen internationale Preise erringen und die Ausbildung nach westlichen Maßstäben organisiert ist. Hier ist Englisch die Wissenschaftssprache.

Der türkische Staat - eine autoritäre Demokratie?

Der Staat ist autoritär. Ständig werden auf die letzte Sekunde im Parlament Gesetze gegen die Bevölkerung durchgepeitscht. Ein Beispiel für die Unterdrückung, die sich kurz vor meiner Anreise abspielte, ist die Aussetzung von Kontrollorganen: Obwohl die Gesetze von Westeuropa übernommen wurden, werden sie in der Praxis anders genutzt. Jetzt haben Politiker im Parlament beschlossen, dass die Kontrollorgane etwa der Ärztekammer und Architektenkammer nicht mehr kontrollieren dürfen. Das bedeutet, dass der Staat in Bereiche eingreift, von denen er selbst nichts versteht. Für das Gesundheitswesen und den Denkmalschutz dürfte dies große Probleme bringen. Erdogan ließ in Istanbul illegal gebaute Häuser abreißen, ohne die darin wohnende Bevölkerung zu entschädigen oder sie umzusiedeln. Manche wurden dabei verletzt und getötet. Die Kosten sind infolge der neoliberalen Reformen gestiegen, während die Löhne gleich geblieben sind. Folglich können sich viele nicht die Mieten leisten und müssen in die Peripherie ziehen.

Die Wut über alle autoritären Maßnahmen hat lange gegärt und entlud sich endlich, als 400 Bäume in dem Park am Taksimplatz zugunsten eines Militärgebäudes osmanischer Prägung oder einer Moschee abgesäbelt werden sollten. Mit seinem Plan, die größte Moschee auf der Erde auf dem Taksimplatz bauen zu lassen, instrumentalisierte Erdogan religiöse Gefühle von Menschen, zumal es in dem Viertel, wohin er die Moschee bauen will, wahrlich genug gibt. Mit den Bauten will er zugleich die Möglichkeit zerstören, dass 400.000 Leute gegen seine Politik protestieren können. Der Protest war erstmals eine ökologisch wirksame Aktion. Dabei muss man wissen, dass es kaum Parks gibt. Die Lunge der Stadt ist auf wenige Flecken beschränkt. Heute wurden die Demonstranten auf dem Taksimplatz wieder mit Tränengas besprüht. Die Hotels außen herum haben in der ersten Aktion erste Hilfe geleistet und wurden dafür von Erdogan abgemahnt. Entsetzen packt mich ob der politischen Willkür gegen die friedlich protestierenden Menschen. Sie werden mit Polizeigewalt paramilitärischer Einheiten daran gehindert, die berechtigten Interessen gegen diese Gesetze auszudrücken. Am Taksimplatz beteiligten sich bei der Aktion des Fastenbrechens 52% Frauen. Sie waren enttäuscht, dass sie so viel für die Regierungspartei organisiert hatten und dann keine Positionen bekamen. Aber sie kamen wieder aus ihrer Privatheit heraus, weil es nun um eine mehr spontane Bewegung mit spontanen Aktionen ging. So nahmen die Musliminnen an der großen Tafel der längsten Straße Istanbuls, die in der Nähe des Taksimplatzes zu Ramadan aufgestellt wurden, teil. Die Mütter und Großmütter kochten und demonstrierten, dass die Protestierenden keine Ungläubige - wie Erdogan das proklamiert hatte - seien. Andere Aktionen bestanden darin, dass Einzelne einfach drei Stunden lang still auf dem Platz stehen blieben und dann von anderen abgewechselt wurden.

Die Polizeiautos mit Polizisten standen ungewaschen, besudelt vom Dreck ihres eigenen Sprühgases als Schandmal der Unmenschlichkeit an der Mauer um den Taksimplatz herum, jederzeit bereit, zuzuschlagen.

Wie den Zeitungen zu entnehmen war, bestehen die Demonstranten teils aus politisierten Muslimen, teils aus Kurden, Aleviten, Armeniern, teils aus Gewerkschaftern, teils aus linken Intellektuellen. Es ist teilweise eine nationale Bewegung. Die Linken sind schwach. Gewerkschaften sind zum Teil aus denselben Gründen wie bei uns geschwächt. Es gibt keine Tarifverträge. Jeder Gewerkschafter muss seine Mitgliedschaft dem Staat mitteilen. Das Militär ist ebenfalls geschwächt, weil 400 Militärs im Gefängnis landeten. Im Militär wird überall derart viel geschlagen, dass viele Soldaten Selbstmord begehen.

Von 50 Inhaftierten wurden nur 38 frei gelassen. Ein Arzt wurde angeklagt, über Twitter eine linke terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Er wurde inhaftiert und sitzt noch immer in Haft. Auch in der Türkei gibt es Administrationshaft. Die Eltern und Verwandten oder Freunde wissen nicht, weshalb die Inhaftierten angeklagt und wo sie hingebracht sind. Folter im Ausmaß von vor 40 Jahren gibt es nicht, aber es gibt Folter, die nicht mehr so leicht nachweisbar ist, wie Wasserfolter mit Schläuchen. Der Gefolterte bekommt das Gefühl zu ertrinken mit all der Panik, die daraus entsteht. Für alle Demonstranten ist es nervenaufreibend, immer erneut von verhafteten Freunden und Kollegen zu hören und - egal in welchem Alter - sich neue Aktionen einfallen zu lassen, daran teilzunehmen oder Unterschriftensammlungen zu organisieren. Dieser Zustand dauert seit Jahrzehnten an. Viele erkranken ob der Belastung.

Die Taxifahrer sind jedoch sauer, weil aufgrund der Bewegung viele Touristen ihre Hotelzimmer storniert haben und daher auch keine Taxifahrten zustande kommen bzw. eine große finanzielle Einbuße entsteht.

Eine Stadt auf dem Land

Auf dem flachen Land in Kartal (Ismet) waren noch byzantinische und römische Mauerreste sogar mit einer kleinen Kapelle neben dem Eingang zu sehen, in der die Händler und Pilger in der Antike bzw. im Mittelalter für eine sichere Reise und Heimkehr beteten. Das war damals keineswegs selbstverständlich, da es lange Zeit keinen Kompass für Schiffe gab, Überfälle durch Räuber oder wilde Tiere vorkamen.

Die heute ein- bis zweistöckigen in den letzten Jahren gebauten Häuser der Stadt in den alten Mauern ähneln in ihrem heruntergekommenen Aussehen denen von Bujanovac/Südserbien aus dem Jahr 2004. Es gibt zwar noch die alten restaurierten Mauern eines schönen Hamam und einer Moschee, aber sonst vermittelt die Stadt einen traurigen Eindruck. Dennoch existieren hier wichtige Tonwerkstätten, welche die überall in Istanbul verkauften Tonwaren, die sich an alten byzantinischen Mustern orientieren, anbieten.

Auf dem flachen Land um Kartal

Der Staat lässt im Sommer immer wieder Flugzeuge fliegen, welche Pestizide gegen die Mücken streuen. Die Folge ist, dass es kaum mehr Bienen und kaum Vögel gibt. Es gibt eine üppige Vegetation. Maulbeerbäume wachsen, Bohnen, Tomaten, Auberginen, Melonen, Kräuter, Obstbäume und Passiflora. Eine Bioanthropologin, ehemalige Professorin an einer TU Istanbuls, bewirtschaftet ein sehr großes Land und erforscht, an welchen Pflanzen die Bienen am liebsten nuckeln. An einer Passiflora saugten sogar 5 Bienen zugleich. Die rot-kernigen Früchte der Passiflora reifen und schmecken, wenn man ihre weiße Haut abzieht, ganz süß. Diese Bioanthropologin versucht mit ökologischem Landbau gegen die staatlichen Maßnahmen anzukämpfen. In den kleinen, in einen See fließenden Fluss um das Grundstück der Forscherin und der umliegenden Bauern lassen die Öltanker ihre Ölreste auslaufen mit der Folge, dass die Natur dort stirbt. Aber die Bauern haben kein Interesse das zu ändern, weil sie auf das Öl im Winter und für ihre landwirtschaftlichen Geräte angewiesen sind.

Das Leben des Kapitals pulsiert in Istanbul, ein Aufschwung ist spürbar. Dafür sind Erdogan viele Schichten dankbar. Aber die neoliberalen, autoritär durchgedrückten Reformen produzieren ihre Widersprüche und die Aktionen ihrer Gegner. Deren Interessen sind widersprüchlich. Einige vertreten nationale, andere muslimisch-religiöse, andere ökologisch-grüne, wieder andere gewerkschaftlich-sozialdemokratisch bis linke Positionen. Daher dürfte es - wie es aussieht - Erdogan gelingen, die Bewegung zu unterdrücken.


Ilina Fach, Politologin (MA), Kunsthistorikerin (Diss.), Hörfunkredakteurin

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