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Klaus Holzkamp

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Erzieht euch doch selbst!

01.01.2014: Kritische Psychologie und Erziehung

  
 

Forum Wissenschaft 4/2013; Foto: stm/Photocase

Erziehung, kindliche Entwicklung und pädagogische Autorität werden seit einigen Jahren verstärkt diskutiert. In populären und in wissenschaftlichen Diskursen treffen unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Theorien zu kindlicher Entwicklung, Ursachen und Lösungsmöglichkeiten von Erziehungskonflikten aufeinander. Zugleich sind viele Erkenntnisse und Fortschritte linker Psychologie- und Erziehungskritik heute unbekannt oder diskreditiert, nicht selten, weil einige ihrer Vertreter_innen ihre vormals kritischen Konzepte selbst neoliberal umgearbeitet und politisch das Lager gewechselt haben. Felicitas Karimi und Janek Niggemann stellen Zusammenhänge von Kritischer Psychologie und Erziehung dar.

Regelmäßig werden in Zeitschriften, Ratgebern und Fernsehsendungen Personen adressiert, die auf "praktikable" Lösungen ihrer Alltagsprobleme hoffen. Der Erfolg solcher Formate belegt ein großes Bedürfnis nach Hilfe durch "pädagogische Tipps". Die Suche nach und das Angebot von "Erziehungsratgebern" ist enorm, die Breite des Angebots zugleich ein florierender Markt. "Erziehungsproblemen" wird also eine große gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben.

Erziehungsprobleme im Neoliberalismus

Ökonomische und politische Bedingungen im neoliberalen Kapitalismus begünstigen zwar auch die Möglichkeit einer "Liberalisierung" von Erziehung, führen aber gleichzeitig zu immer abstrakteren, unbestimmbareren und höchst widersprüchlichen Erziehungszielen. Statt unmittelbar notwendige und einsichtige Fähigkeiten fürs direkte Überleben zu erwerben, werden Erziehungsziele abstrakt und unbestimmbar definiert und damit tendenziell beliebig und austauschbar, "Die Erziehungsproblematik kann man jetzt so formulieren: wie erzieht man dazu, daß die Kinder freiwillig und selbstständig (d.h. auch mitdenkend) das tun, was von ihnen verlangt wird? Oder: wie erzieht man dazu, daß eigenverantwortlich fremd gesetzte Ziele angestrebt werden?"1

Gleichzeitig werden immer wieder verloren geglaubte Normen und Werte skandalisiert.2 Das Scheitern an widersprüchlichen Erziehungsaufgaben wird dabei vor allem Eltern angelastet. "Erziehungsprobleme von gesellschaftlichen Verhältnissen isoliert erscheinen als Privatangelegenheit"3.Diese Personalisierung der Problematik in der Erzieher-Zögling-Interaktion und die Ausblendung der Tatsache, dass gesellschaftliche Probleme und Widersprüche pädagogisch nicht zu lösen sind, führen zu zunehmender Ratlosigkeit von Eltern und Lehrern und einer starken Expansion pädagogischer Wissenschaftsbereiche. Die Allgemeinheit der Problematik begünstigt das Nebeneinander unterschiedlicher wissenschaftlicher und semiprofessioneller Ansätze mit z.T. widersprüchlichen Theorien und Handlungsanweisungen. Einerseits stehen Schule und Eltern unter dem Druck, ökonomische und normierende Ansprüche an Kinder weiterzureichen, in der Hoffnung, sie optimal für den verschärften Konkurrenzkampf zu rüsten oder ihnen die besten Chancen bieten zu wollen. Andererseits stehen sie vor der widersprüchlichen Aufgabe, ihren "Zöglingen" pädagogisch vermitteln zu wollen, was sie sollen, und schwanken dabei zwischen "sanfter Motivation", "Autorität" und Disziplinierung als Mittel der Wahl. Es ist eine Frage der Machtverhältnisse, wer sich mit seinen Zielen gegen wen durchsetzt.

Von der Kritischen Psychologie lernen?

Wenn Erziehung aber vor allem ein Prozess der Vorbereitung auf die Welt ist, die sich ein Kind in der Interaktion mit den Erwachsenen erst erschließen muss, dann ist es nicht beliebig, auf welche Art von Welt bzw. Gesellschaft dieser Prozess trifft. Erziehungsprobleme müssen daher im Zusammenhang mit der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und Widersprüche gedacht werden. Die Erziehungskritik der Kritischen Psychologie versucht, den widersprüchlichen Zusammenhang von gesellschaftlichen Anforderungen und (kindlich-)subjektiver Entwicklung systematisch zu erschließen und denkbar zu machen.

Eine allgemeingültige Definition des Erziehungsbegriffs scheitert bereits daran, dass es sich um einen Alltagsbegriff handelt, der gleichzeitig in der Wissenschaftssprache Verwendung findet.

Voraussetzung ist die angenommene Veränderbarkeit der einzelnen Individuen in einer von außen festgelegten und gewünschten Form, die man durch die Optimierung von Entwicklung und Lernen erreichen könne und die so zu Selbstbestimmung führen soll. So ließe sich schlussfolgern: "Erziehungsziele bedeuten in der Regel, dass Erzieher wollen, dass der Zögling anders sein [oder werden] soll als er ist"4. Klaus Holzkamp kritisiert in seinem 1983 erschienenen Artikel "We don’t need no education" diese Art der pädagogischen Beziehung als "Sonderveranstaltung zwischen Erwachsenen und Kindern, die auf einem besonderen Verhältnis zueinander beruht" (115). Morus Markard,5 der sich innerhalb der Kritischen Psychologie intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat, fasst folgendermaßen zusammen:

1. Erziehende vertreten gesellschaftliche Anforderungen und Ziele, die die "Zöglinge" nicht erfüllen (wollen) können. Das meint, dass die Erziehenden allein Erziehungsziele kennen, sie auswählen und verfolgen, unabhängig vom Wissen und Willen der zu Erziehenden. Sie versuchen sie so zu vermitteln, dass sie diesen einsichtig, also zu deren Willen werden. Soweit die Zöglinge dies bzw. diese Ziele nicht einzusehen vermögen, setzten die Erziehenden sie verantwortlich und stellvertretend für sie durch.

2. Erziehung besteht aus einschlägigen Maßnahmen, also Regeln, Geboten, Verboten, Grenzen setzen, Belohnen, Strafen, Überreden.

3. Erziehung bedeutet Machtausübung, die sich mit Erziehungserfolg reduzieren kann, die aber eben umgekehrt, bei ausbleibendem Erfolg, oft noch verstärkt wird. Im Zweifelsfall kann nicht nur, sondern soll, pädagogisch begründet, auf Zwang zurück gegriffen werden.6

Der Kritischen Psychologie geht es nicht um eine generelle Ablehnung von Erziehung, sondern um die Kritik der Annahme, dass allein die Erziehenden über das Wissen verfügen, was für Kinder gut und richtig ist und sie versuchen müssten, es ihnen in der einen oder anderen Form aufzuzwingen. Dieses Verhältnis, bei dem der/die Erwachsene als Erziehungssubjekt am Kind als Erziehungsobjekt Veränderungen bewirken soll, nennt Klaus Holzkamp "Erziehungsförmigkeit".

Was ist aber an dieser Form, dieser Sonderveranstaltung problematisch? Warum ist sie nicht als Unterstützungstätigkeit durch die Erwachsenen aufzufassen?

Die schlechte Natur des Menschen?

Zunächst setzt Erziehung als "Sonderveranstaltung" bestimmte implizite Annahmen über die menschliche Natur und die subjektive Entwicklung voraus, nämlich die Vorstellung von Kindern (und Menschen überhaupt) als "von sich aus ungesellschaftlichen Wesen, denen man [gegen ihre Natur] die Gesellschaftlichkeit, sei es mit Zwang oder Liebe oder einer Mischung von beiden, von außen aufprägen muß"7 und im Prinzip auch kann. Nun stellt sich natürlich die Frage, welche Alternative es für eine Denkweise geben könnte, die Individuum und Gesellschaft, "Natur" und "Zivilisation" als Gegensätze aufstellt, die dann (zwangsweise) zusammengebracht werden müssen.

Der subjektwissenschaftliche Ansatz der Kritischen Psychologie wendet sich gegen die Vorstellungen der "Bedingtheit" menschlichen Handelns, aber auch gegen eine grundsätzliche Beliebigkeit und versucht mit seinen Analysekategorien die Vermitteltheit von Individuum und Gesellschaft denkbar zu machen. Es geht um die Verbindung von Gesellschafts- und Psychologiekritik, um so wissenschaftliche Begriffe als analytisches Werkzeug für Menschen zu entwickeln. Individuen können ihre Existenz immer nur durch Teilhabe an der gesellschaftlichen (Re-)Produktion erhalten.

Eine grundlegende These der Kritischen Psychologie ist, dass Menschen dabei nicht nur unter Bedingungen handeln, sondern diese auch selbst schaffen und verändern. Grundkategorie, um dieses Verhältnis zu erfassen ist die subjektive Handlungsfähigkeit. Sie gilt als grundlegende menschliche Spezifik, die es prinzipiell ermöglicht, zusammen mit anderen über die jeweils subjektiv wichtigen Lebensbedingungen zu verfügen. Das setzt auch voraus auch, dass sich der Mensch als Subjekt, immer sowohl zu sich selbst, als auch zu der gesellschaftlichen Realität verhalten kann. Menschliches Handeln wird immer als begründet und vom jeweiligen Standpunkt aus subjektiv funktional angesehen (wenn auch nicht immer bewusst).

Gleichzeitig besteht aber auch die Notwendigkeit handlungsfähig zu werden, d.h. subjektiv erlebte Verfügungseinschränkungen zu überwinden und diese zu erweitern. Es besteht stets ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Handlungsfähigkeit und ihrer Einschränkung und der psychischen Befindlichkeit. Die Notwendigkeit der Verfügungserweiterung begründet Holzkamp in der Grundlegung der Psychologie 1983 mit der Notwendigkeit, Angst und Abhängigkeit dadurch zu reduzieren, so dass Individuen mehr und mehr eigenständig über die (vorausschauende) Absicherung ihres Lebens, die Mittel ihrer Bedürfnisbefriedigung selbst verfügen müssen.

Dieses Verhältnis ist unter sich herrschaftsförmig entwickelnden Verhältnissen immer widersprüchlich und "gebrochen". Die analytischen Pole "restriktive" und "verallgemeinerte" Handlungsfähigkeit versuchen das zu erfassen. Erstere bedeutet, sich zum besseren Zurechtkommen an gegebene Verhältnisse und Machtstrukturen anzupassen, letztere bedeutet gemeinsam mit anderen die eigene Verfügung zu erhöhen und einschränkende Bedingungen zu verändern.

Handlungsfähigkeit wird so als das zentrale Bewegungsmoment ontogenetischer Entwicklung angesehen. Sie ist auf Erweiterung der Umweltverfügung gerichtet, d.h. das Kind muss sich selbst, aus eigenem Antrieb vergesellschaften, um bestehende Möglichkeiten zu begreifen und wahrzunehmen und das Gefühl der Angst und Abhängigkeit überwinden zu können. Auch das ist unter herrschaftsförmigen Bedingungen ein widersprüchlicher Prozess, der zu Problemen und Konflikten zwischen Kind und Erwachsenem führen kann.

Hat Erziehung ein Ziel?

Nun erscheinen aber Probleme und Widersprüche unter konkret-historischen Bedingungen und es ist nicht automatisch klar, inwieweit diese die Verständigung zwischen Erwachsenen und Kindern ermöglichen oder behindern. Der Unterstützungsrahmen durch die Erwachsenen ist aufgrund der noch unentwickelten Handlungsfähigkeit des Kindes notwendige Entwicklungsbedingung. Denn erst eine gewisse existenzielle (und emotionale) Absicherung macht erste Schritte in Richtung Verfügungserweiterung möglich. Da das Kind so aber auch unter fremdgesetzten Bedingungen leben muss, kann der gesetzte Rahmen zugleich Entwicklungsbehinderung bedeuten und muss mit fortschreitender Verfügungserweiterung selbst ausgeweitet (bzw. überflüssig gemacht) werden. Das Kind lernt innerhalb der Beziehung zu den Erwachsenen, nur mit (und im Konflikt mit) diesen, eigene Interessen im Verhältnis zu fremden klarer zu fassen.8 Dabei ist eine reine Unterstützung nicht möglich, weil innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auch die erwachsene Handlungsfähigkeit nur als widersprüchliches Verhältnis zwischen Möglichkeiten und Behinderungen zu fassen ist. Die Vorbereitung auf eine fremdbestimmte Erwachsenenexistenz und die Formierung des Kindes auf Verwertbarkeit und Normalität sind in kapitalistischen Verhältnissen als gesellschaftliche Funktion von "Erziehung" unabdingbar und nicht individuell aufhebbar. Den Kern dieser Formierungsfunktion sieht Holzkamp in der oben beschriebenen "Erziehungsförmigkeit" der Kind-Erwachsenen-Beziehung als besondere pädagogische Beziehung.

So wird in den meisten pädagogischen Konzeptionen nicht das Setzen von Zielen für andere problematisiert, sondern lediglich dessen praktische Umsetzung. Es wird nicht infrage gestellt, dass es Ziele gibt, sondern nur pluralistisch diskutiert, welche am besten seien. Das Kind muss, aufgrund seiner Uneinsichtigkeit, seiner Unmündigkeit oder Triebe entweder durch Zwang oder durch mehr oder weniger offensichtliche Manipulation dazu gebracht werden, diesen Anforderungen nachzukommen.

Erziehung als Paradox

Wenn sich aber Menschen als gesellschaftliche Wesen im Zuge ihrer ontogenetischen Entwicklung aus eigenem Antrieb vergesellschaften müssen, um handlungsfähig zu werden, wirft das die Frage auf, warum denn "ein Kind eigentlich dazu gezwungen werden muss, sich bei seinem Bemühen, Verfügung über seine Lebensbedingungen zu gewinnen, damit seine Angst und Abhängigkeit zu überwinden, von den Erwachsenen unterstützen zu lassen"9.Wenn Erziehung also eben diese kindlichen Aneignungsprozesse unterstützen soll, so ist es paradox jemanden zu etwas zwingen zu müssen, das seine eigene subjektive Notwendigkeit darstellt10.

Das Paradoxon besteht darin, dass "Fremdgesetztheit von Erziehungszielen […] mit der subjektiven Notwendigkeit der Verfügung des Kindes über das eigene Leben grundsätzlich unvereinbar [ist], da man kaum Selbstbestimmung realisieren kann, wenn man die Ziele anderer verfolgt"11. Wer sich Kompetenzen und Fähigkeiten nur als "›ausführendes‹ Organ fremdgesetzter Ziele aneignen kann"12, wird dabei kaum in der Lage sein, selbst Kontrolle über seine Lebensumstände zu gewinnen und Fremdbestimmung und Abhängigkeit zu überwinden. In diesem Sinne kann Erziehung "Subjektentwicklung" quasi systematisch behindern. Wenn die Erziehungsziele der Erwachsenen dem Kind dabei auch noch als seine eigenen untergeschoben werden, oder es durch Methoden und Tricks dazu gebracht werden soll diese zu "verinnerlichen", wird der Widerspruch (oder aber auch die Übereinstimmung) zwischen eigenen und fremden Interessen immer unklarer und schwerer zu erkennen. Dies ist aber für alle entscheidend, um sich eigene Ziele in Richtung der Verfügung setzen und diese (ggf. auch gemeinsam und mit Hilfe der Erwachsenen) "motiviert" verfolgen und realisieren zu können. Wenn aber die eigenen Ziele immer schon vom Erwachsenen vorentschieden werden, kann das Kind selbst bei potentiell einsichtigen Anforderungen nur noch "schwer entscheiden, ob es im eigenen Interesse oder nur sich fügend/unterwerfend handelt"13.

Dadurch, dass der Erziehungsprozess auf Entwicklung trifft, ist sein Ergebnis ungewiss, denn das Kind kann sich selbst zu den Zielen der Erwachsenen verhalten. Allerdings muss es erst herausfinden, was die eigenen Interessen sind, wie es Abhängigkeit überwinden und über seine Lebensbedingungen verfügen kann. Tut es das auf eine Art, die den Erwachsenen von ihrem Standpunkt aus unverständlich oder den eigenen Zielen entgegengesetzt erscheint, wird oft versucht, dem durch Setzen immer neuer Bedingungen ("Grenzen") entgegenzuwirken14. Die spontane (und begründete) Reaktion auf die ständige Unterdrückung kindlicher Subjektentwicklung äußert sich dann häufig als kindlicher Widerstand. Dabei werden Faulheit, Frechheit, Bockigkeit, Nörgelei, Verweigerung etc. dem Zögling häufig als "natürliche Eigenschaften" zugeschrieben, die die erziehungsförmige Beeinflussung durch Erwachsene selbst wieder rechtfertigt und notwendig erscheinen lässt. So wird der Erziehungsprozess zum Machtkampf, wobei versucht wird, kindlichen Widerstand durch repressive oder "sanfte" Mittel zu brechen.

"Fortschrittliche" Erziehungsziele?

Gerade wenn von den Erwachsenen "fortschrittliche Erziehungsziele" wie Erziehung zur "Selbstständigkeit" der "Freiheit" angestrebt werden, kann ihre erziehungsförmige Durchsetzung das Kind daran hindern, zu begreifen, dass es mehr Verfügung gewinnen kann, wenn es mit den Erwachsenen für gemeinsame Interessen eintritt. So wird eher Gleichgültigkeit oder sogar abstrakte Negation gegenüber den Inhalten gefördert:

Der Unterschied von fortschrittlichen und "anderen" Erziehungszielen stellt die Notwendigkeit von Zielen nicht grundsätzlich in Frage, so dass das Problem fortbesteht, dass Kinder sich bei variierenden Vorstellungen dennoch mit den gleichen Durchsetzungsformen konfrontiert sehen. Wenn es die inhaltlichen Begründungen nicht zu differenzieren lernt, besteht aus seiner Sicht kein qualitativer Unterschied. Falls die (fortschrittlichen) Ziele der Erwachsenen als Anpassung an den Druck der elterlichen Macht übernommen werden, so hat man eventuell (ungewollt) sogar das Gegenteil erreicht: Hinter dem scheinbar fortschrittlichen Denken und Handeln kann sich die Tendenz verbergen, stets die Ziele und Interessen derjenigen Mächte zu verfolgen, von denen man jeweils abhängig ist. "Selbstbestimmtheit" oder "Fortschrittlichkeit" wären also grundsätzlich negiert.

Besonders Eltern sind immer wieder aufgefordert, ihren Kindern gegenüber gesellschaftliche Anforderungen und Normen zu vertreten. Sie werden oft danach beurteilt und dafür verantwortlich gemacht, inwieweit ihre Kinder dem nachkommen. Außerdem fürchten viele Erwachsene Nachteile für deren späteres Leben, wenn sie diese nicht (auch gegen ihren Willen) auf das Zurechtkommen in fremdbestimmten und konkurrenzförmigen Verhältnissen vorbereiten. Bezüglich der Hoffnungen, Ängste und Vorstellungen, wie oder was das Kind werden soll, versprechen verschiedenste Methoden, es auf ein möglichst "glückliches" oder "erfolgreiches" späteres Leben vorbereiten zu können. Dabei wird ausgeblendet, dass es unbestimmbar ist, worauf das Kind nun genau vorzubereiten sei bzw. welches Wissen und Können ihm später eventuell nutzen wird, zumal nicht als simples "Wenn-Dann-Schema" von kindlichen Lebensäußerungen oder elterlicher Einwirkung auf späteres Verhalten geschlossen werden kann. Dieser Schluss würde einerseits die Begründetheit menschlichen Handelns und den subjektiven Entwicklungsprozess negieren, andererseits gesellschaftliche Probleme, verkürzt auf das Erziehungsverhältnis, personalisieren. Dabei werden die kindlichen Glücks- und Lebensansprüche und seine subjektive Befindlichkeit im Hier und Jetzt oft bedenkenlos ausgeklammert und relativiert15, bzw. höchstens selektiv darauf eingegangen. Erziehungsziele "gehören offensichtlich zur Lebensperspektive der Erziehenden", die ja selbst Interesse daran haben, durch "›Produktion‹ […] eines aus der Außensicht tadellosen Kindes auch ihre eigene Tadellosigkeit, Bedeutung, Leistung als Erziehende zu beweisen".16

Mit Kindern leben statt gegen sie

Wie lassen sich demgegenüber Möglichkeiten finden, Kinder ohne "Erziehungsform" zu unterstützen und mit ihnen zusammen zu leben?

Zuerst ließe sich fragen, ob Erwachsene aufgrund ihres größeren Weltwissens und der Diskrepanz zwischen objektiver Beschaffenheit der Lebenswelt und der noch beschränkten Art, wie diese Kindern gemäß ihrer Entwicklung erfahrbar wird, nicht wirklich besser wissen und voraussehen können, was gut für ein Kind ist. Diese Diskrepanz muss jedoch zunächst zum inneren Entwicklungswiderspruch werden, um dem Kind zu ermöglichen, Entwicklung als jeweils subjektiv notwendigen nächsten Schritt zur Überwindung von Verfügungsbehinderung und zur Negation von Abhängigkeit und Fremdbestimmung zu realisieren. Deshalb gilt aufgrund der "inneren" Logik der Subjektentwicklung als zentraler psychologischer Umstand, dass "man aus der Außensicht grundsätzlich nicht wissen kann, was der subjektiv notwendige, d.h. auch emotional subjektiv nächste Schritt eines Kindes, allgemeiner eines anderen Menschen ist. Ebenso zentral ist, dass Kinder (oder eben auch Erwachsene) sich wohlmöglich selbst darüber im Unklaren sind, bzw. sich erst darüber klar werden müssen".17 Verständigung zwischen Erwachsenen und Kindern als wichtige Voraussetzung von Unterstützung kann also durch erziehungsförmiges Verhalten be- bzw. verhindert werden. "Etwas nur aus ›pädagogischen Gründen‹ zu tun, führt notwendigerweise zu ›pädagogischen Sonderveranstaltungen‹, zu ›erziehungsförmigen Maßnahmen‹"18, die intersubjektive Verständigung grundsätzlich negieren. Von außen festgelegte "pädagogische" Methoden, Stile oder abstrakte Regeln, die sich nicht an der konkreten Situation und den Gründen der Einzelnen orientieren, können für alle Beteiligten hinderlich werden. Besonders Kinder, die ihre Handlungsfähigkeit ja noch entwickeln und sich über ihre Lebensmöglichkeiten und Interessen erst klar werden müssen, sind auf die sozial unterstützte Selbstverständigung mit den Erwachsenen angewiesen. Diese Selbstverständigung sollte "dazu beitragen, gegebene Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit mit Kindern zu klären, mit dem Ziel, den subjektiv notwendigen nächsten Schritt (den man aus der Außensicht ja nicht kennt) herauszuarbeiten"19. Wichtige Voraussetzung hierbei ist, dass Kinder die Unterstützung und den Rat der Erwachsenen tatsächlich auch annehmen können, "weil sie nicht mehr argwöhnen müssen, dass ihnen dabei fremde Interessen als ihre eigenen Entwicklungsinteressen eingeredet und aufgeprägt werden sollen"20. Dabei müssen Kinder aber praktische Erfahrungen mit der Durchsetzung eigener Interessen und deren Verhältnis zu fremden machen können und darin unterstützt werden, diese ohne Angst vor Liebesverlust oder Gefährdung des Unterstützungsrahmens auch gegen die Erziehenden selbst artikulieren zu können. Da Entwicklung auch "durchaus in Form ihres Gegenteils"21 stattfinden und sich eben auch gegen den Willen und die Vorstellungen des Erziehenden wenden kann, ist dieser Prozess für den Erwachsenen nicht immer angenehm. Gerade bei kleinen Kindern wendet sich der Widerstand gegen die einschränkenden Lebensbedingungen zunächst einmal in personalisierter Form direkt gegen die Erwachsenen, die aber, da sie das in Rechnung stellen können, wiederum die Möglichkeit haben, nicht ihrerseits mit persönlichem "Gekränktsein" zu reagieren und "ein gemeinsames Drittes" zu suchen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, eigene Interessen, Intentionen, Widersprüche und Drucksituationen nicht vor den Kindern zu verstecken, sondern, mit dem Kind ggf. auch dahinter liegende Gründe in den Lebensverhältnissen zu klären. Die Tatsache, dass spontanes (unbewusstes) Handeln im Sinne von "Erziehungsförmigkeit"‚ Personalisierungen etc. auch immer wieder ideologisch nahegelegt wird, macht es umso notwendiger, Erziehung als Unterstützung bewusst zu planen, eigene spontane Tendenzen und Abwehrformen zu hinterfragen. Es geht also gerade nicht um perfektes Handeln oder "Harmonie" in jeglichen Verhältnissen und Situationen, sondern darum zu klären, warum gerade das nicht möglich ist, welchen Behinderungen und Widersprüchen ich dabei auch als Erwachsener ausgesetzt bin und ob es vielleicht eine Möglichkeit gibt diese ein Stück weit gemeinsam zu überwinden. Auch kleine Kinder, die bei ihren Verfügungsversuchen am "Noch-nicht-Verstehen" vieler Bedeutungen, Zusammenhänge und Handlungsmöglichkeiten scheitern, können so nach und nach auf ihrem Weg zu einem umfassenderen Begreifen der Situation unterstützt werden. Demokratische Verhaltensweisen, menschliche Umgangsformen, Sensibilität, die Berücksichtigung der Interessen anderer setzen Bedingungen voraus, unter denen diese Verhaltensweisen mit den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der individuellen Daseinsbewältigung vereinbar sind. Die Verhältnisse, unter denen wir leben, begünstigen solche Verhaltensweisen nicht. Umso mehr bedarf es des Lernens der Erziehenden, ihre eigenen Positionen, Wünsche, Interessen, Affekte usw. als gesellschaftlich strukturierte zu begreifen. Die Beziehung zum Kind kann so für Erwachsene selbst zum Ausgangspunkt einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Gewordenheit und Widersprüchlichkeit oder den an sie gestellten Anforderungen werden. Unterstützen können Erwachsene dann, wenn sie selbst zu Lernenden werden, also zu verstehen versuchen, was ihr Kind braucht und darauf hören lernen, was ihre Kinder von ihnen lernen wollen. Und wie das, was sie selbst oder andere tun oder glauben, auch im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Kinder stehen kann, bzw. umgekehrt, es Erwachsenen schwierig macht, den Bedürfnissen ihrer Kinder den benötigten Platz und die Aufmerksamkeit einzuräumen. In der gemeinsamen Verständigung darüber, welche Möglichkeiten bestehen und welche Behinderungen immer wieder auftauchen, lässt sich potentiell klären, wie im Bündnis von Erwachsenen und Kindern gemeinsam mehr Kooperation und Verfügung erreicht werden kann.22 Das gelingt nur, wenn dieses Bündnis ein praktisches wechselseitiges Lehr-Lernverhältnis wird. Und selbst damit sind andere personale oder institutionelle Verhältnisse, damit auch die Widersprüchlichkeit von Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, noch lange nicht beendet. Aber nur im Bündnis lässt sich damit anfangen.

Anmerkungen

1 Gisela Ulmann 1987: Über den Umgang mit Kindern. Orientierungshilfen für den Erziehungsalltag, Frankfurt/New York: 31.

2 Ein Anstieg psychischer Störungen, fehlende Leistungsfähigkeit und größere Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen werden dabei häufig nicht auf verstärkte soziale Unsicherheit oder Exklusionsmechanismen, bspw. beim Zugang zu Bildung bezogen. Als Ursachen dieser Entwicklung wird oft auf einen vermeintlichen Mangel an Erziehung hingewiesen und eine angeblich fehlende "Erziehungskompetenz" der Eltern festgestellt oder die "Verweichlichung" und "Verweiblichung" der Post-68-Generation und ihrer antiautoritären Erziehungsauffassung behauptet.

3 Vgl. Ulmann 1987: 34.

4 Ebd.: 91.

5 Klaus Holzkamp, Morus Markard und Gisela Ulmann haben im Rahmen des Praxisforschungsprojekts Subjektentwicklung frühe Kindheit (SUFKI), wesentliche kritisch-psychologische Konzepte und Überlegungen zu Entwicklung und Erziehung entwickelt. Als Langzeitstudie von 1977-1983 diente es den (Mit-)Forschern zur gemeinsamen Selbstverständigung über Probleme im Leben mit Kindern.

6 Morus Markard 2006:. "Wer braucht Erziehung?" in: UTOPIE kreativ 187: 438-448, hier: 445; vgl. auch Klaus Holzkamp 1983b: "We dont need no education", in: Forum Kritische Psychologie 11: 113-125, hier: 115.

7 Holzkamp 1983b: 117.

8 Vgl. Klaus Holzkamp 1983a: "Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen?", in: Demokratische Erziehung 1: 52-59, hier: 54.

9 Ebd..

10 Vgl. Holzkamp 1983b: 118; Markard 2006: 442.

11 Markard 2006: 445.

12 Holzkamp 1983a: 55.

13 Markard 2006:445.

14 Vgl. Ulmann 1987: 88.

15 Vgl. Morus Markard 2009: Einführung in die Kritische Psychologie, Hamburg: 242.

16 Markard 2006: 447.

17 Ebd.: 446.

18 Ulmann 1987: 204.

19 Markard 2006: 446.

20 Holzkamp 1983b.

21 Markard 2006: 447.

22 Vgl. Santiago Vollmer 2013: "Lehren, Lernen, Erziehung. Ein Gespräch mit Gisela Ulman und Morus Markard über Problemfelder und Erfahrungen der Kritischen Psychologie.", in: Forum Kritische Psychologie 57: 77-89, hier: 88f.

Felicitas Karimi, Jg. 1970, Dipl.-Psych., arbeitet im Projekt Selbstverständigung über Drogengebrauch und macht eine Weiterbildung in klientenzentrierter Beratung. Sie ist aktives Mitglied der AG Berufspraxis und der Assoziation Kritische Psychologie. Janek Niggemann, Jg. 1981, MA Erziehungswissenschaften, promoviert zu pädagogischer Autorität, ist Mitglied im Vorstand von Helle Panke e.V., Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, bei der AG "unknown pressures - Herrschaft, Autorität und das Unbewusste" am Klaus-Holzkamp-Institut für Subjektwissenschaften.

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