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Klaus Holzkamp

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Zeitgemäßes Verständnis sozialen Wandels

31.12.2011: Eine Einladung zur Debatte

  
 

Forum Wissenschaft 4/2011; Foto: owik2 / photocase.com

Sozialer Wandel bedeutet im Obama-, Wen Jiabao-, Putin-, Sarkozy- und Merkel-Zeitalter nicht mehr nur lokaler, nationaler oder europäischer, sondern immer auch schon globaler Wandel, wie Roland Benedikter betont. Er lädt dazu ein, im Versuch einer interdisziplinären Verständnisbemühung Phänomene des Wandels im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Technologie und Demographie zu erkennen und zu beurteilen.

Mit dem Ende der neokonservativen Bush-Ära am 20. Januar 2009 ging das Ende des Zeitalters der "monopolaren" US-Vorherrschaft einher, die seit dem Fall der Berliner Mauer Wirtschaft, Politik und Kultur dominierte. Mit dem Amtsantritt Barack Obamas erfolgt eine so seit Jahrzehnten nicht dagewesene Öffnung in Richtung einer multidimensionaleren und vielschichtigeren Welt. Damit ist sowohl eine Veränderung der sozialen Sphäre wie der in sie eingelagerten Kulturstimmung gekennzeichnet. Die Frage für Zivilgesellschafter, Intellektuelle und Bürger lautet, was das bedeutet. Woran kann man sich in Zeitbezug und Aktualität orientieren? Welche Kernpunkte gilt es im Hinblick auf den sozialen Wandel der Gegenwart zu beachten? Und wie kann man lokale, nationale und internationale Veränderungsfaktoren so zusammenschauen, dass sie für die kreative Arbeit relevant werden?

Eine systemisch ausgerichtete Beobachtung des gegenwärtigen sozialen Wandels ergibt gewisse Grundelemente, an denen im Dickicht der Tagesereignisse und in der Tiefenambivalenz eines schier unübersehbar vielfältigen Veränderungsgeschehens Orientierung möglich ist. Dazu zählen u.a. folgende Elemente:

1. Drei Enden unserer Zeit. Wir sprechen heute in den Sozialwissenschaften von drei epochalen Enden, die die Gegenwart kennzeichnen: a) das Ende des "Neoliberalismus" (im Bereich der Wirtschaft, man sehe die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-10); b) das Ende der "Neuen Weltordnung" (im Bereich der Politik, man sehe den Verlust der einseitigen Vormachtstellung der USA und das Auftreten neuer Weltmächte wie China); c) das Ende der "Postmoderne" (im Bereich der Kultur, man sehe die Tendenzen zu neuen "Aufbautheorien", Integralismen und Idealismen); d) die "Rückkehr der Religionen" (im Bereich der Letztbegründungen, man sehe die Re-Christianisierung der USA und Europas bei Spaltung der anglikanischen Kirche und inneren Kämpfen zwischen "Thomisten" und "Schelerianern", die Politisierung von Teilen des Islam sowie das Militantwerden von Teilen des Hinduismus und Konfuzianismus).

2. Competing modernities. Was sich im Zusammenwirken dieser drei Enden unserer Zeit am Schnittpunkt von globalen, nationalen und regionalen Dimensionen ergibt, ist eine Welt der "competing modernities", das heisst der "miteinander konkurrierenden Modernitäten" (Martin Jacques). Das bedeutet: Während die Konzepte von Moderne und Modernität bis vor kurzem fast ausschließlich vom "Westen" definiert und vorangetrieben wurden, entstehen heute Modernen in anderen Weltregionen wie China oder Indien, die technologisch genauso modern sind wie der Westen, aber damit andere "Ideen des guten Lebens" verbinden. Während der Westen Moderne mit Individualität, personenzentrierter Freiheit, Menschenrechten und Demokratie verbindet ("All different, all equal"), bedeutet Moderne für neue Weltmächte wie China eher Kollektiv, Einheit, Harmonie und Stabilität ("Der Berg bewegt sich nicht"). Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Sozialkonzepten von technologisch ähnlich entwickelten, aber kulturell sehr unterschiedlichen "Modernen" wird die kommenden Jahre prägen.

3. Die Öffnung der Gegenwart setzt insgesamt einen sozialen Wandel frei, der in seinen Systemrationalitäten und Diskurstypologien vierdimensional strukturiert ist: Es wirken in ihm 1. wirtschaftliche, 2. politische, 3. kulturelle und 4. religiöse Systemrationalitäten und Diskurstypologien. Die Verwebung dieser vier typologischen Systemrationalitäten und Diskurstypologien erfolgt so, dass jeweils eine oder mehrere von ihnen eine temporäre Führungsrolle einnehmen und andere für eine Zeit lang zurücktreten, und dass sich nach einiger Zeit die Gewichtung zwischen den vier Dimensionen wiederum zu neuen Vorreiter-, Katalysatoren- und Antriebsrollen verschiebt. In ständiger Verschiebung, Allianz und Wettbewerb zwischen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Diskursmotiven um die Führungsrolle konturieren sich die Rahmenbedingungen und (objektiven und subjektiven) Realitäten sozialen Wandels heute mittels einer kaum dagewesenen Flexibilität und Fluidität. Zugleich setzt dieser Wandel als prägendes Merkmal "Tiefenambivalenz" frei, das heißt statt des in den vergangenen Jahrzehnten noch oft kulturell dominierenden "Entweder-Oder" ein neues "Sowohl-als-auch", das mittlerweile die Mehrzahl belangvoller Zeitphänomene kennzeichnet.

Aus alledem ergibt sich, dass jeder Versuch einer interdisziplinären Verständnisbemühung, wie sozialer Wandel heute vertieft zu begreifen ist, und wie die Zeitphänomene so gelesen werden können, dass eine zeitgemäße Analyse diesen Wandel sowohl in sich aufnehmen und widerspiegeln wie aktiv mit und an ihm arbeiten kann, zumindest viererlei zu berücksichtigen hat:

1. Raum-Dimensionen. Lokal, national, global gilt es zu berücksichtigen und in ihrer neuartigen Verbindung ("glokal") zu durchschauen. Dies sind vorrangig synchrone Dimensionen.

2. Zeit-Dimensionen. Dazu kommen diachrone Dimensionen: Schichtungen, Verschiebungen, Zeitsprünge und -brüche, Geschwindigkeitsdifferenzen, Diskontinuitäten des Wandels. Damit sind vor allem, aber nicht nur Veränderungen in Sozialpsychologie, Lebensstilen, Identitätsformationen gemeint, in denen sich die vier Systemrationalitäten und Diskurstypologien "plastisch" zum konkreten Leben verbinden.

3. Eigendynamiken der Diskurstypologien und Systemrationalitäten. Heutige Systemrationalitäten wirken komplexer und effizienter zusammen als im "monopolaren" Zeitalter der Ideologien. Wirtschafts-, Politik-, Kultur- und Religions-Logiken zeigen gleichzeitig sehr unterschiedliche Diskursmuster und Dynamiken, die zunächst aus einem internen Gesichtspunkt verstanden werden müssen, um sie dann kritisch beurteilen zu können.

4. Demographie und Technologie. Diese beiden Faktoren, ehemals am Rande der Analyse sozialen Wandels angesiedelt, steigen heute zu größerer Bedeutung als je zuvor auf und werden die kommende soziale Sphäre mehr denn je mit prägen. Dazu gehören die "neuen Befreiungstechnologien" von Silicon Valley ebenso wie die Bemühungen der globalen Zivilgesellschaft um Nachhaltigkeit, auf der anderen Seite aber zum Beispiel auch die Vorbereitungen führender Weltmächte zur "Lebensraumverbreiterung für die Menschheit" mittels Besiedlung der Milchstraße (neue Mond- und Marsmissionen von USA, China und Indien, konzeptioneller Verlust der Einheit von Erde und Menschheit sowie der Zentrumsstellung der Erde für die Menschheit).

Wozu wir im Blick auf die kommenden Jahre herausgefordert sind, ist, in Verbindung dieser zum Teil avantgardistischen Komponenten eine mehrdimensionale Zusammenschau auf den heutigen sozialen Wandel zu gewinnen und mit einer weiterführenden, bewusst interdisziplinären und allgemein verständlichen Theorie auf eine Weise zu verbinden, dass eine für möglichst viele Bürgerinnen und Bürger teilhabende Debatte in der Öffentlichkeit stattfinden kann. Während diese Debatte in den USA heute allgegenwärtig ist, ist sie in Zentraleuropa noch kaum entwickelt. Wir benötigen heute aber auch in unseren Breiten einen großen Blickwinkel auf den sozialen Wandel als Anregung für die Zivilgesellschaft, diesen Wandel in ihre Arbeit aufzunehmen, ihn widerzuspiegeln, sich aber auch selbst aktiv und kreativ an seiner Gestaltung zu beteiligen.

Dazu sollten wir uns zunächst auf zentrale Elemente und Bausteine, d.h. auf das Kennenlernen und die Erprobung einer Methodologie der Beobachtung und Urteilsbildung konzentrieren, welche die Bürgerinnen in die Lage versetzen soll, selbstständig Phänomene des Wandels in ihrer Mehrdimensionalität im Spannungsfeld zwischen den sechs diskurstypologischen und systemlogischen Kerndimensionen Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Technologie und Demographie zu erkennen, zu reflektieren und zu beurteilen. Das ist nicht zuletzt auch eine Einladung, die in zeitgenössischen zentraleuropäischen Theorien vorhandene Methodologie zeitgemäß zu adaptieren, zu erweitern und dabei notgedrungen (und unausweichlich) weiterzuentwickeln. Alle Leserinnen und Leser sind zur Teilnahme an dieser Debatte herzlichst eingeladen!


Roland Benedikter lehrt als Europäischer Stiftungsprofessor für Soziologie und Kulturanalyse am Europa Zentrum der Stanford Universität und am Orfalea Zentrum für globale und internationale Studien der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Autorisierte Internetseiten: europe.stanford.edu/people/rolandbenedikter/ und en.wikipedia.org/wiki/Roland_Benedikter . Kontakt: rben@stanford.edu .

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