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Klaus Holzkamp

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Schichtwechsel

15.12.2006: Warum wir eine Klassismus-Debatte brauchen

  
 

Forum Wissenschaft 4/2006; Foto: Albert Renger-Patzsch

Immer schon wurden Armut und Entrechtung gemacht. In den vergangenen Jahrzehnten und besonders Jahren geschah es mit zunehmender (wirtschafts-)politischer Systematik. Plötzlich nun entdecken MacherInnen die Armen und Entrechteten - und ordnen sie flugs der "Unterschicht" zu, zurückgreifend auf den seit je als Kampfterminus genutzten Schichtenbegriff. Heike Weinbach kritisiert dies: methodisch, politisch und auf neuere Diskussionen und Bewegungen verweisend.

Der Anteil von StudienanfängerInnen aus den so genannten "unteren" Klassen ist in der Bundesrepublik Deutschland nie über 8 bis 9 Prozent hinausgegangen.1 Die Zahl derjenigen Menschen aus der ArbeiterInnen- und Armenklasse, die sich in gesellschaftlichen Positionen mit institutioneller Definitionsmacht befinden, wie Professuren an der Universität, Funktionen in der Politik, Wirtschaft, den Medien o.a., ist marginal.2 Ein Teil dieser Personen in Herrschaftspositionen spricht jetzt sehr viel über die so genannte "neue Unterschicht". Und sie sprechen so darüber, wie sie es in ihrer Sozialisation, das heißt in der Kultur der Bundesrepublik gelernt haben: Teile der Mittel- und Oberschicht definieren sich als "Oben", blicken auf ein "Unten" hinab, über das sie ganz genau Bescheid zu wissen meinen (schließlich haben SoziologInnen unter ihnen das erforscht). In dieser Debatte fragt kaum jemand der Definitionsmächtigen, ob die eigene Sichtweise ein Resultat gesellschaftlicher Stereotypisierungs- und Machtprozesse sein könnte. Über Frauen beispielsweise wurden über Jahrzehnte hinweg bis heute wissenschaftliche Abhandlungen vorgelegt, in denen ihre Unterlegenheit unter den Mann wissenschaftlich und philosophisch erläutert wurde. Heute gelten solche Dokumente eher als historisch, wenngleich die dort reproduzierten Stereotype in zeitgenössischen Genderkonzepten noch Reflexe zeitigen. Über die so genannte Unterschicht wird im klar definierten Rahmen "Armut" geforscht, kaum im Kontext anderer Studienfächer wie Kunst, Kultur, Musik, Philosophie u.a. Armutsforschung ist wichtig und macht zu Recht soziale Ungleichheiten sichtbar, die aus materiellen Verhältnissen resultieren: Weil die Gesellschaft materiell ungleich strukturiert ist, können Eltern, die kein Geld haben, ihre Kinder nur in bestimmte Schulen schicken, nur begrenztes Material zum Lernen erwerben, möglicherweise nicht genügend Raum zur Verfügung stellen. Auch Arztbesuche, Medikamente, Vorsorgemaßnahmen, Freizeitmöglichkeiten u.v.m. sind an Geldressourcen gebunden. Dies sind klar beschreibbare Konsequenzen aus Armutsverhältnissen, die die Menschen nicht selbst zu verantworten haben, sondern die als Resultat komplexer gesellschaftlicher Exklusionsstrukturen verstanden werden müssen. In den Studien wird aber häufig zugleich das Sozialverhalten oder Kommunikationsverhalten der von Armut betroffenen Menschen kategorisiert, stereotypisiert und an einem Ideal gemessen (Gewaltlosigkeit, respektvoller Umgang, Anerkennung und nichtdiskriminierendes Verhalten etc.), dem ein Teil der anderen Klassenangehörigen, darunter auch LehrerInnen oder HochschullehrerInnen, ihrerseits nicht gerecht werden.3 Das aber wird bei der Konstruktion von Defizitkulturen nicht problematisiert, sondern zugedeckt. Die Lernkultur ist eine Mittelklassenkultur, und die Kultur der Anderen, der so genannten unteren Klassen, ist daran gemessen immer eine Defizitkultur. So wird Beteiligung am Bildungssystem immer als Zugang definiert, der die Defizite im günstigsten Fall aufheben soll. Die Systeme sind es jedoch, die auch dadurch Ausgrenzung produzieren, indem sie sich zum Maßstab aller Anerkennung machen, obwohl sie selbst in ihren Inhalten, Lern- und Kulturformen durch Diskriminierungs- und Machtstrukturen geprägt sind.

Die Unteren als die Anderen

Damit sind und bleiben die Menschen aus ArbeiterInnen- und Armenklassen die ganz und gar Anderen. Wenn heute Arme, Arbeitslose oder ArbeiterInnen als "leistungsunwillig", "dumm", "faul", "gewalttätig", "bildungsfern" u.ä. gelten, dann sind diejenigen, die diese Feststellung treffen, zugleich der Meinung: Die können ja nichts dafür, dass sie so sind, und wir müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so ändern, dass sie auch so werden können wie wir: die Mittel- und Oberschicht, die sich als ganz anders begreift. Und wie sind denn Menschen aus der so genannten Mittel- und Oberschicht in der Bundesrepublik? Handelt es sich um die zivilisierten, gebildeten, kultivierten, konfliktfähigen Personen, als die sie sich in Grenzziehung zur "Unterschicht" repräsentiert sehen möchten? Teile der Mittel- und Oberschicht dieses Landes sind qua ihrer Herkunft politische und wirtschaftliche EntscheidungsträgerInnen. Das bedeutet, dass sie tagtäglich Anordnungen treffen, die gewaltförmige, ausgrenzende Konsequenzen für andere Menschen (z.B. aus anderen Schichten, Flüchtlinge, Kinder und Jugendliche, Menschen in anderen Ländern u.a.) haben. Ist das kultiviert? Alkoholismus, häusliche Gewalt, Missbrauch an Kindern kommen gleichermaßen, aber unterschiedlich sichtbar, in allen Schichten vor; so kann sich beispielsweise die geschlagene Ehefrau eines Konzernchefs ein Hotelzimmer leisten und wird kein Frauenhaus aufsuchen müssen. "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (Heitmeyer), Diskriminierung und eine Kultur der Abwertung anstelle von Respekt und Wertschätzung sind in der Bundesrepublik klassenübergreifende Phänomene.4 Teile der Kultur der Mittel- und Oberschichten sind ausgrenzend und setzen ihre Exklusionen normativ ins Recht. Das funktioniert nicht nur auf der Grundlage der ökonomischen Effekte, die in der kapitalistischen Gesellschaft produziert werden, sondern ebenso auf der Grundlage der kulturellen Herrschaftseffekte, die hergestellt werden müssen. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung,5 deren Typisierungs- und Kategorisierungspotenzial an die Wissenschaftskultur der späten 1920er Jahre erinnert, könnte, auf diesem Hintergrund betrachtet, vielmehr zum Material werden, um stereotypisierende Herrschaftseffekte zu analysieren und zu studieren. Denn wer soll das denn sein: die "kritische Elite", in der Studie einfach ganz "oben" angesiedelt? Oder was sollen wir uns unter "autoritätsorientierten Geringqualifizierten" vorstellen? Hier werden Menschen zu Kategorien zusammengefasst, die von vornherein als richtig und konsensfähig angenommen werden. Die "kritische Elite" - sind das diejenigen, die solche Kategorisierungen und Wertzuschreibungen erfinden?

Im englischsprachigen Raum hat eine ganz andere Debatte begonnen: nämlich eine Diskussion über Klassendiskriminierung (Klassismus). Unter "classism" wird im Kontext von angloamerikanischen Social Justice-Bewegungen6 analog zu Rassismus, Sexismus, Heterosexismus u.ä. eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform verstanden: Zum einen führen Unterdrückung und Diskriminierung zum Ausschluss von materiellen Ressourcen und/oder politischer Partizipation, zum anderen zur Verweigerung der Anerkennung als Individuum in dessen Menschenrechten, Lebens- und Seinsweisen. "Classism" ist abgeleitet vom Begriff "class", der im angloamerikanischen Raum unterschiedliche theoretische Ansätze und Schwerpunktsetzungen umfasst.7 Dabei wird, um von "classism" sprechen zu können, die Annahme zu Grunde gelegt, dass mit dem ökonomischen Status in der Gesellschaft unterschiedliche außerökonomische Anerkennungsformen und Wertschätzungen einhergehen. Dementsprechend wird Klassismus dann definiert als "das institutionelle, kulturelle und individuelle Repertoire an Praxen und Vorstellungen, durch die Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen ökonomischen Status' ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird; dies im Kontext eines ökonomischen Systems, durch das massive Ungleichheit bis hin zu Armut produziert wird".8 Dabei wird immer davon ausgegangen, dass die ökonomische Distinktionslinie mit sozialen Teilungslinien verknüpft ist (social class): Klassismus beschreibt also auch ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, die aus dem ökonomischen Status heraus abgeleitet, oder besser: erfunden werden: "Classism is the systematic assignment of characteristics of worth and ability based on social class."9

Klassismus: Diskussion und Bewegung

Klassismus verbindet im Grundverständnis die alten Kritikformen der ArbeiterInnenbewegung an materiellem Elend und politischem Ausschluss mit der Kritik an der Nichtanerkennung und der Herabsetzung von Kultur und Leben von ArbeiterInnen, Arbeitslosen oder Armen. Die Überwindung von Diskriminierung muss dementsprechend auf allen Ebenen geschehen, weil sie sich wechselseitig bedingen. So sind der Nichtzugang zu Arbeit, die niedrige Entlohnung, unwürdige Arbeitsbedingungen, lange Arbeitszeiten Formen von Diskriminierung. Die Bewertung der Arbeit als solche und ihre unterschiedlichen Entlohnungen treffen Aussagen über Mehr-wert-Sein und Weniger-wert-Sein in der Gesellschaft. Die Bezeichnungen "oben" und "unten" rsp. "Unter-" oder "Oberklasse" (in Deutschland häufig Ober-, Mittel- und Unterschicht) schreiben Hierarchien und deren Bewertungen fest. Diese Systeme werden aber von den besitzenden und politisch herrschenden Klassen für richtig befunden. Wenn es den "unteren" Klassen dann nicht gelingt, materielle Verbesserungen und politische Partizipation herzustellen, und sie in ihrer Situation verbleiben müssen, werden sie in dieser Lebensform wiederum abgewertet, wird deutlich gemacht, dass ihre Lebensformen weniger wert sind als die der Mittelklasse und anderer Klassen. "Fehlende Zähne", "abgewetzte Kleidung", "den ganzen Tag fern- und DVD-Sehen", "kein Interesse an so genannter Hochkultur", "Alkoholismus", "Vernachlässigung von Kindern", "promiske Lebensweisen", "die Unfähigkeit erfolgreich zu handeln", "der Mangel an Selbstkontrolle" u.a. werden zu stereotypen Stigmatisierungen von Arbeitslosen, ArbeiterInnen oder Armen.10 Ressourcen und Kompetenzen können nicht mehr festgestellt werden. Diejenigen, denen sie abgesprochen werden, sind definitiv die "Anderen"; sie gehören "anderen" Welten an, von denen es sich zu separieren gilt, unter anderem, indem restriktive Gesetze für sie gemacht (Hartz IV) und sie abgewertet und gering geschätzt werden. Gleichzeitig gelingt es auf diesem Hintergrund, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und ihre hierarchische Struktur sowohl in der Kontrolle über die Produktionsmittel als auch bezüglich der zur Verfügung stehenden Geldmenge immer wieder neu zu legitimieren. Dies ist aber durch die ökonomischen Fakten und Zwänge allein nicht möglich, es bedarf direkter und unmittelbarer Diskriminierungsformen und Nicht-Anerkennungs- und Abwertungskulturen, um die materielle Ungleichheit aufrechterhalten zu können. Oder kurz formuliert: Ohne Macht und Herrschaft keine ausbeuterische Verfügbarkeit über die Arbeitskraft von Menschen.

Wenn Klassismus eine ebenso wichtige politische Bedeutung hat, wie Sexismus, Rassismus u.a. Diskriminierungsformen sie haben, dann wäre seine Aufdeckung und Bewusstmachung eine politische Herausforderung mit Konsequenzen für politisches Handeln und Bildungsarbeit.

In den USA gibt es außer den zahlreichen Social Justice-Projekten11 zudem eine Gruppe von Personen, die sich als "Working class academics" organisiert haben und das Bildungs- und Gesellschaftssystem als komplexes Klassismussystem thematisieren. Denn so genannte untere Klassen werden in den USA ebenfalls mit Bildungslosigkeit ("Bildungsferne") gleichgesetzt. Auch wenn strukturell Bildungszugänge zu den herrschenden Bildungssystemen verhindert werden, gibt es kaum jemanden, der sich dafür interessiert, welche Bildung, Kompetenzen und Kulturen denn eigentlich in diesen so genannten unteren Klassen entstehen, von denen die anderen lernen könnten. Der Gedanke scheint für etliche PolitikerInnen, die im Bundestag nicht selten eine Kultur wechselseitiger Herabsetzung und Abwertung pflegen und vorführen, abwegig zu sein. Sie sehen sich aufgrund ihrer Position zu allem legitimiert und können eine Kultur der Respektlosigkeit dann als kulturelle Normalität ausgeben, während sie sie gleichzeitig bei Anderen vorzufinden meinen und ablehnen.

Was wir vielmehr brauchen, ist eine Debatte über eine ganz andere Kultur, die weder die Kultur der Einen noch die der Anderen ist, sondern frei von Ausbeutung ein kreativer Prozess zwischen den Menschen auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und wechselseitiger Wertschätzung und Solidarität. Und da gibt es für alle, unabhängig von ihrer Klassenherkunft, gleichermaßen viel zu lernen und zu verändern.

Anmerkungen

1) Vgl. die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks: www.studentenwerke.de/se/ (26.10.2006)

2) Vgl. Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/M., New York 2002

3) Vgl. als ein Beispiel für die Betrachtung von Kindern in Armut als reine Defizitkulturen, zu deren Beseitigung und Anpassung u.a. Elternbildung (nicht aller Eltern, sondern der Eltern armer Kinder) gefordert wird: Gerda Holz/Antje Richter u.a.: Zukunftschancen für Kinder!? Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit, AWO ISS-Längsschnittstudie Kinderarmut 1998ff.

4) Vgl. Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände, Bd. 4, Frankfurt/M.2006, Shellstudie zu Jugend

5) Rita Müller-Hilmer: Gesellschaft im Reformprozess, Juli 2006, Studie hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung

6) Vgl. Heike Weinbach: Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2006

7) Ebd.

8) Maurianne Adams/Lee Bell u.a.: Teaching for diversity and social justice. A sourcebook, New York, London 1997

9) "Klassismus ist die systematische Zuschreibung von kennzeichnenden Werten und Fähigkeiten aufgrund von sozialer Klassenzugehörigkeit": www.classism.org.de (26.10.2006)

10) Robert Friedrich/Daniel Pilgrim: Arbeitslosigkeit und Diskriminierung, unveröff. Diplomarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule, Berlin 2006

11) Vgl. Heike Weinbach: Social Justice statt Kultur der Kälte, a.a.O.


Dr. Heike Weinbach ist freie Philosophin, Social-Justice-Trainerin und Lehrbeauftragte für Gender/Queer/Ethik/Mediation.

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