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Klaus Holzkamp

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Erfolgreiche neue Nationalstaaten?

15.01.2003: Transformationsprobleme der UdSSR-Nachfolgerepubliken

  
 

Forum Wissenschaft 1/2003; Titelbild: E. Schmidt

Im Zerfallsprozess der Sowjetunion verlangten viele der Sowjetrepubliken bereits Ende der 1980er Jahre ihre "nationale Unabhängigkeit". Waren es ethnische Motive, die Unterdrückung der nationalen Besonderheiten durch die sowjetische Zentralregierung, Wünsche nach einer Rückbesinnung auf die nationalen oder religiösen Wurzeln, die den Untergang der einstigen sozialistischen Großmacht besiegelten? Gert Meyer ist anderer Ansicht.

Warum ist die UdSSR 1991 untergegangen? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten und wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Ökonomische Gründe ("Stagnation") werden gegen soziale und politische, innere Ursachen gegen äussere ("historische Niederlage im Kalten Krieg") und weltpolitische ("imperiale Überdehnung") ins Feld geführt.

Fest steht, dass die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1970er Jahren nicht mehr recht vorwärtskam: Die Wachstumsraten waren rückläufig und die extensiven Entwicklungsquellen erschöpft; der Rückstand der industriellen und besonders der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität konnte nicht verringert werden; neue technologische Sprünge, welche die USA vor allem in den Rüstungssektoren vorbereitet hatten, wurden nicht mitvollzogen; der Lebensstandard speziell in den Dörfern und an der Peripherie blieb gering, auch wenn die sozialen Unterschiede weniger ausgeprägt waren als in den meisten kapitalistischen oder "Entwicklungs"ländern.

Seit 1985 versuchte die neue Parteiführung, die Stagnationsperiode im Zeichen von "Beschleunigung", "Perestrojka" und "Glasnost" aufzubrechen. Während in einzelnen politischen Bereichen durch vermehrte Transparenz, Partizipation und Wählbarkeit Demokratisierungsfortschritte erzielt werden konnten, blieben die dringend notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Erfolge aus. Dies lag auch an der weitgehenden wirtschaftspolitischen Konzeptionslosigkeit der Führung, die in den zentralen Fragen nach der Rolle von Markt- und Preismechanismen, der Genossenschaften und der Dezentralisierung ökonomischer Entscheidungen keinen stringenten Kurs verfolgte. Im Verlauf der wirtschaftspolitischen Diskussionen in den zentralen Partei- und Staatsgremien schmolz die Zahl der Anhänger und Verteidiger einer sozialistischen Ökonomie rasch dahin, wohingegen die liberalen "Radikalreformer" die Oberhand gewannen. Da sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung nicht besserten, erodierte das Vertrauen in die proklamierte "Erneuerung des Sozialismus".

Nationale Töne

Die leidenschaftlich geführten Diskussionen um die zahlreichen "weißen Flecken" der sowjetischen Geschichte - etwa über Probleme der Gewalt im Revolutionsprozess, der Kollektivierung und Industrialisierung, der Stalinschen Terrorjahre, der politischen Verantwortung für die lange Stagnationszeit - delegitimierten die politische Führung weiter. PublizistInnen und HistorikerInnen aus den nichtrussischen Regionen kritisierten nun die russische Expansion seit der frühen Neuzeit (in Richtung der baltischen Territorien und des Donauraums, in den Kaukasus, nach Sibirien und Mittelasien) als fortdauernde Unterdrückung der kleineren Völker und machten sich daran, die eigene "nationale" Vergangenheit zu rekonstruieren und dabei nicht selten zu heroisieren. Zuweilen hatten dieselben Historiker früher die russischen Eroberungen als "historisch progressive Mission", als "zivilisationsfördernd" und "völkerverbindend" besungen. In der sich wechselseitig verschärfenden ökonomischen und politischen Krise der Perestrojka fanden die neuen nationalen Töne rasch Massenanhang.

Die Parteiführung wurde von dieser Wende ins Nationale völlig überrascht, war sie doch davon ausgegangen, dass die "nationale Frage" in der Sowjetzeit "prinzipiell gelöst" worden sei. Gorbatschow hatte noch in seinem 1987 erschienenen Buch Perestrojka hervorgehoben: "Die Revolution und der Sozialismus haben Schluß gemacht mit nationaler Unterdrückung und Ungleichheit, und sie haben den wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Fortschritt aller Nationalitäten und Völkerschaften garantiert. Ehemals unterentwickelte Völker verfügen heute über eine fortschrittliche Industrie und eine moderne Gesellschaftsstruktur. Sie haben den Standard der modernen Kultur erreicht, obwohl einige von ihnen früher nicht einmal das Alphabet kannten. (…) Wenn das Nationalitätenproblem nicht grundsätzlich gelöst worden wäre, hätte die Sowjetunion nicht das gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und defensive Potential, über das sie heute verfügt. (…) Vor dem Hintergrund nationaler Konflikte, von denen selbst die fortschrittlichsten Länder der Erde nicht verschont werden, gibt die UdSSR ein wirklich einzigartiges Beispiel in der Geschichte der Menschheit. Dies sind die Früchte der von Lenin begonnenen Nationalitätenpolitik. (…) Wenn ich auf meinen Reisen in die Republiken und nationalen Regionen der Sowjetunion mit Menschen zusammentreffe, dann erkenne ich immer wieder, daß sie es zu schätzen wissen und stolz sind auf die Tatsache, daß ihre Völker zu einer großen internationalen Familie gehören und daß sie ein untrennbarer Teil der Großmacht sind, die im Fortschritt der Menscheit eine solch bedeutende Rolle spielt. Das ist sowjetischer Patriotismus. Wir werden weiterhin die Einheit und Brüderlichkeit freier Völker in einem freien Land stärken."1

Aber die soziale Bindekraft des Sowjetpatriotismus zerfiel, und die von der Parteiführung als Zukunftsziel anvisierte "Verschmelzung" ("slijanie") der Ethnien und Nationen fand in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Grundlage mehr.

Die neuen nationalen, zentrifugalen und anti-sowjetischen Bewegungen speisten sich aus vielfältigen Quellen. Die in den Geschichtsdiksussionen freigesetzten Erinnerungen an die Verfolgungen und Hinrichtungen von Angehörigen nationaler Eliten, an die Kollektivierungsexzesse speziell in der Ukraine und in Kasachstan, an die Deportationen nichtrussischer Völker während des Zweiten Weltkriegs (Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Karatschaier, Krimtataren, Sowjetdeutsche, Kalmyken, Mescheten und andere) unterstützten die Loslösungsprozesse. VertreterInnen "kleinerer" Sprachen beklagten die Dominanz des Russischen im Bildungswesen wie im Alltag ihrer Territorien, in denen nach den Industrialisierungs- und Urbanisierungswellen der 1930er Jahre zuweilen mehr RussInnen als Indigene lebten (nach der Volkszählung von 1989 lebten z.B. in Kasachstan mehr RussInnen und UkrainerInnen als KasachInnen). AnhängerInnen christlicher, muslimischer oder buddhistischer Religionen machten die frühere langjährige Unterdrückung religiöser Traditionen und Kulturformen während der verschiedenen Atheismuskampagnen öffentlich, und nicht selten waren Kultur-, Heimat- oder Denkmalschutzvereinigungen Motoren der nationalen Bewegung.2

Finanzielle Motive

In den baltischen Republiken wurde auf die staatliche Unabhängigkeit vor 1940 hingewiesen; der relativ hohe Lebensstandard und die Abneigung gegen weitere Zahlungen in das Zentralbudget waren unübersehbare weitere Motive der Sezessionswünsche. Diese waren in Mittelasien, dessen Republiken eher Nutznießer der zentralen Umverteilungsmaßnahmen waren, erheblich geringer. Nach westlichen Schätzungen3 bezifferte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung z.B. in Lettland auf 135% des UdSSR-Durchschnitts, die entsprechenden Zahlen für Estland lauteten 125%, Litauen 118%, Rußland 116%, Kasachstan 74%, Turkmenistan 67%, Kirgistan 61% und schließlich Tadschikistan 47%. Estland war die erste Republik, die am 16.11.1988 ihre "Souveränität" erklärte; Kirgistan war am 15.12.1990 die letzte. In allen baltischen Republiken wurden bereits 1988 wieder die nationalen Symbole - Flaggen, Hymnen, Feiertage - öffentlich an die Stelle der sowjetischen gesetzt.

An verschiedenen "runden Tischen" wurde die von den Bolschewiki nach 1917 verfolgte territoriale Fassung von nationaler Autonomie prinzipiell kritisiert, weil sie erstens zu einer vielfachen Nichtkongruenz von Ethnie und Territorium geführt habe (über 55 Millionen SowjetbürgerInnen lebten ausserhalb "ihres" nationalen Territoriums, davon etwa 25 Millionen RussInnen), zweitens eine Hierarchie und Ungleichheit der national-territorialen Struktur zur Folge gehabt habe (15 Unionsrepubliken, 20 autonome Republiken, 18 autonome Kreise und Gebiete), drittens zu einer Nicht-Territorialität zahlreicher der insgesamt weit über 100 sowjetischen Nationalitäten geführt habe (etwa 7 Millionen Personen hatten keine "eigenen" Territorien).4

In nichtrussischen Publikationen wurde beklagt, die sowjetische Industrialisierung sei zu Lasten der einheimischen Entwicklung erfolgt; umgekehrt hob die russische Presse die Rolle der russischen Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler sowie der zentralen Finanzzuweisungen für den industriellen und kulturellen Aufbau der Randgebiete hervor. In zahlreichen Regionen wurde, verstärkt nach der Tschernobyl-Katastrophe, auf die gravierenden ökologischen Schäden durch die Riesenprojekte der sowjetischen Planbehörden hingewiesen, bei deren Durchsetzung es keine örtliche Mitsprache gegeben habe. Der Moskauer Überzentralismus begrenze zudem die örtliche Kontrolle und Verwertung der eigenen Ressourcen.5

Neue Eliten

Soziale TrägerInnen der Seperationstendenzen waren vor allem die Intelligenzschichten und nationalen Eliten, die sich in allen Sowjetrepubliken seit den 1950er Jahren durch den Ausbau der Hochschulbildung in einem sehr breiten Umfang herausgebildet hatten. "Die Dialektik sieht folgendermaßen aus: Wenn der pädagogische und kulturelle Standard zusammen mit der Modernisierung der Wirtschaft wächst, führt dies zur Bildung einer Intelligenz innerhalb eines jeden Volkes, zur Steigerung des nationalen Selbstbewußtseins und des natürlichen Interesses eines Volkes an seinen historischen Wurzeln. Das ist wunderbar … Es kann im Ablauf dieses Prozesses aber vorkommen, daß eine bestimmte Gruppe von Leuten sich dem Nationalismus zuwendet. Daraus ergeben sich engstirnige nationalistische Standpunkte, nationale Rivalitäten und Arroganz."6

Eine wesentliche Rolle bei der Auflösung der UdSSR spielten höhere und mittlere Partei- und Staatsfunktionäre in den Unionsrepubliken. Sie bemerkten die schnell dahinschwindende Attraktions- und Kohäsionskraft der Sowjetideen und das gleichzeitige sprunghafte Anwachsen nationaler und Unabhängigkeitsbestrebungen; sie sahen in einem Umschwenken ihre Chance, Macht und Einfluss nicht nur zu erhalten, sondern im Rahmen des Aufbaus neuer Staatsstrukturen und einer markt- und geldorientierten Wirtschaftsverfassung noch erheblich auszubauen. Nicht weniger als 15 neue Staaten standen vor ihrer Gründung, ein in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einmaliges Ereignis. In jedem dieser neuen Gebilde waren Führungspositionen in Verwaltung, Armee, Polizei, Wissenschaft, Kultur und Bildung neu und vor allem "national" zu besetzen. Noch glänzendere Perspektiven eröffnete die bereits in der Perestrojka-Phase aufgekommene Privatisierung des staatlichen Wirtschaftseigentums, die Gründung von Privatbanken, die Einrichtung von Börsen sowie die private Geschäftstätigkeit in zahlreichen anderen Bereichen: Aussenhandel, Wohnungswirtschaft, Sicherheitsdienste, freie Berufe im Gesundheits- und Rechtswesen, in Publizistik, Medien und Werbung.

In den Startlöchern saßen vor allem auch Angehörige der jüngeren, technisch oder ökonomisch gebildeten Generation, viele von ihnen Komsomol-Angehörige, meist Männer. In den Entscheidungsjahren 1988-1991 konnten diese Meinungsführer des neuen nationalen Diskurses erheblichen Einfluss auf die Formung der öffentlichen Meinung sowie auf die politisch-ideologische Umorientierung der ArbeiterInnen und unteren sozialen Schichten vor allem in den großen urbanen Zentren, aber auch in der Provinz ausüben.

Eine genaue Untersuchung der Rolle einzelner sozialer Gruppen, Schichten und Regionen im Transformationsprozess ist wissenschaftliches Desiderat. Wichtig wären auch individuelle und Gruppenbiographien der nun rasch aufsteigenden Mächtigen, ferner eine dichte Beschreibung der vielfältigen Überlebensstrategien der Masse der MarktverliererInnen und Marginalisierten.

Soziale Polarisierung

Nach 1991 war in fast allen UdSSR-Nachfolgestaaten ein dramatischer Rückgang der Wirtschaftsleistung zu konstatieren. Der von zahlreichen AnhängerInnen einer freien Marktwirtschaft wie auch von ExpertInnen des IWF und der Weltbank seinerzeit prognostizierte rasche Wirtschaftsaufschwung nach der Befreiung von den Fesseln der Sowjetökonomie ist nicht eingetreten. Erhebliche Teile der Bevölkerung (RentnerInnen, Kranke, Arbeitslose, Kinder, Unqualifizierte, BewohnerInnen periphärer Regionen) sind durch die von den neuen Regierungen forcierte marktwirtschaftliche Transformation in die Armut gestoßen worden. Am anderen Pol der Gesellschaft sammelte sich durch die legalen und illegalen Privatisierungen ein Reichtum in Dimensionen an, die es seit der russischen Revolution 1917 nicht mehr gegeben hatte. In Russland stieg der die soziale Ungleichheit messende Gini-Koeffizient des Pro-Kopf-Einkommens von 0.26 (1987-90) auf 0.47 (1996-98), in Armenien von 0.27 auf 0.61.7

Im Jahr 2000 bezifferte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen nur noch auf 85 bzw. 61 und 67% des Standes von 1990. In Russland und der Ukraine waren es 64 und 43%, in den durch Kriege und Vertreibungen in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfenen Ländern Armenien und Aserbajdschan 67 und 55%. In Ländern, in denen der Privatisierungsprozess nur langsam in Gang gesetzt wurde, wie Belarus, Usbekistan und Kasachstan, bezifferte sich das BIP auf 88 bzw. 95 und 90% des Standes von 1990. Extrem war der Rückgang in den bürgerkriegsgeschüttelten Republiken Tadschikistan (48%) und Georgien (29%).8 Genauere Berechnungen des BIP werden dadurch erschwert, dass erhebliche Teile der wirtschaftlichen Aktivitäten in die Schatten- bzw. Subsistenzökonomie abgeglitten sind. Auch wenn sich insbesondere in den baltischen Republiken, die vor der Perspektive eines EU-Beitrittes stehen, aber auch in der Russischen Föderation nach der Überwindung der Finanzkrise von 1998 die ökonomischen Indikatoren verbessert haben, bedeutet dies vor dem Hintergrund einer scharfen sozialen Polarisierung keineswegs, dass sich der Anteil der in Armut oder äusserst prekären Verhältnissen lebenden Bevölkerung signifikant und nachhaltig verringert.

Die Ursachen des ökonomischen Niedergangs sind vielfältig. Im Rahmen der privaten Aneignung grosser Teile des staatlichen Eigentums entstand eine neue Bourgeoisie, die ein ausgeprägtes Bedürfnis nach schnellem Geld, exzessivem Luxuskonsum und Werttransfers ins Ausland, aber nur wenig Interesse an längerfristigen Investitionen, an Sicherung von Arbeitsplätzen oder an Steuerzahlungen hatte. Die Vorschläge von IWF und Weltbank für eine möglichst rasche Liberalisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Preisstrukturen ("Schocktherapie") begünstigten den volkswirtschaftlichen Verfall. Verstärkte Importe aus dem Ausland nach der Reduzierung der Zollschranken untergruben die Position der heimischen Industrien. Die Rüstungssektoren schrumpften, während die beiden grausam geführten Kriege Russlands gegen Tschetschenien erhebliche Mittel absorbiert und die Republik im Nordkaukasus weitgehend zerstört haben.

Für die neuen Regierungen hatten Mittelzuweisungen für den Erhalt der Gesundheits-, Bildungs-, Wissenschafts- und Kultureinrichtungen keine Priorität. In Russland betrug die mittlere Lebenserwartung 1970-75 im Durchschnitt 68,2 Jahre, im Zeitraum 1995-2000 aber nur noch 66,6 Jahre (in China ist diese Ziffer in denselben Zeiträumen von 63,2 auf 69,8 Jahre gestiegen).9 Die Gesamtaufwendungen für Forschung und Entwicklung reduzierten sich zwischen 1991 und 2000 in Russland von 1,89% des BIP auf 1,09%, in der Ukraine von 1,81 auf 1,14%, in Turkmenistan von 0,48 auf 0,1% (Vergleichsziffern für Russlands Nachbarland Finnland sind 2.04 und 3,31%).10

Machtkonzentration und Verfall

Erheblich mehr Energie ist auf den Ausbau der präsidialen Machtapparate, ihrer Sicherheitsstrukturen und ihrer Medienpräsenz verwendet worden. Die ökonomische Kooperation zwischen den neuen GUS-Staaten ist nach der Zerschlagung des alten sowjetischen Wirtschaftsraums wenig entwickelt. Die Abwanderung von RussInnen und UkrainerInnen aus den neuen Nationalstaaten Mittelasiens, von Russland- und Kasachstan-Deutschen, von Jüdinnen und Juden aus Russland, Belarus, der Ukraine und Usbekistan, von WissenschaftlerInnen und TechnikerInnen aus Forschungseinrichtungen und Labors ("brain drain") hat weitere negative ökonomische Folgen.

Ausländische Investitionen in die postsowjetischen Volkswirtschaften sind abgesehen von den Öl- und Gasindustrien rund um das Kaspische Meer und von den metropolitanen Regionen von Moskau und Petersburg immer noch sehr gering. Insgesamt bezifferten sich die Investitonen in die russische Volkswirtschaft trotz eines deutlichen Zuwachses nach 1998 in den Jahren 2000 bis 2002 auf weniger als 30% des Standes von 1989.11

Die "nationale" Rekrutierung des Personals in den neuen staatlichen Apparaten hat deren Effektivität und Produktivität offenbar nicht erhöht. Vielfach wird über Korruption, Nepotismus, Protektion und organisierte Kriminalität über das international übliche Maß hinaus berichtet. Gegenüber der starken Stellung der präsidialen Exekutive sind die Rollen der Parlamente und Gerichte oder Einrichtungen einer "Zivilgesellschaft" (Gewerkschaften, Genossenschaften, Verbände, Parteien, Vereine, Kulturorganisationen usw.) schwach entwickelt. Dies behindert nicht nur die Demokratisierung des politischen Systems, sondern auch eine durchgreifende wirtschaftliche Erholung.

Im internationalen Vergleich sind die GUS-Länder im Rahmen der Nationalstaatlichkeit und marktorientierten Transformation zurückgefallen. Der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) berechnete Human Development Index (HDI, ein synthetischer Index mit den drei Variablen Lebenserwartung, Bildungsstand und Pro-Kopf-BIP) zeigt in allen UdSSR-Nachfolgestaaten für die Zeit nach 1991 eine rückläufige Entwicklung.12 1998 lag Russland im HDI-Rang von 174 Staaten nur noch auf Rang 62 (1992 noch 34), hinter Costa Rica, Mexiko, Cuba, Belize, Panama, Bulgarien oder Malaysia. Vor Russland lagen 1998 Estland (Rang 46) und Litauen (52), hinter Russland positionierten sich Lettland (63), Georgien (70), Kasachstan (73), Ukraine (78), Aserbajdschan (90), Armenien (93). In Turkmenistan (100), Moldova (102), Usbekistan (106) und Tadschikistan (110) ist in nur 6 Jahren von 1992 bis 1998 die Position um 13 bis 27 internationale Rangpunkte gesunken.

So ist die ökonomische Bilanz in den meisten GUS-Staaten nach zwölf Jahren marktwirschaftlicher Transformation nicht eben überzeugend. Ohne eine Demokratisierung der politischen Systeme, eine Förderung der produktiven Sektoren und der Infrastrukturbereiche, ohne eine stärkere Selbstorganisation der gesellschaftlichen Kräfte sowie eine intensivere Kooperation zwischen den neuen Staaten erscheint eine stabile längerfristige Aufwärtsentwicklung kaum möglich. Und die wachsende (Selbst-)Einbindung der neuen Staaten in den Weltmarkt und seine Volatilitäten birgt ständig neue Risiken.

Anmerkungen

1) M. Gorbatschow: Perestrojka. Die zweite russische Revolution. München 1987, S.148-153

2) Vgl. etwa J. Gerber: Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956. Baden-Baden 1997

3) R. Götz und U. Halbach: Daten zu Geographie, Bevölkerung, Politik und Wirtschaft der Republiken der ehemaligen UdSSR. Köln (BIOST) 1992

4) U. Halbach: Ethnische Beziehungen in der Sowjetunion und nationale Bewusstseinsprozesse bei Nichtrussen. Köln (BIOST) 1989; ders.: Ethno-territoriale Konflikte in der GUS. Köln (BIOST) 1992

5) Offene Worte. Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Gesamtsowjetischen Konferenz der KPdSU in Moskau. Nördlingen 1988

6) M. Gorbatschow, a.a.O.

7) The World Bank (ed.): Transition. The First Ten Years. Analysis and Lessons for Eastern Europe and the Former Soviet Union. Washington D.C. 2002, S.9

8) Ebd., S.5

9) Bericht über die menschliche Entwicklung 2000. Bonn 2000, S.223-226

10) ECE: Economic Survey of Europe, Jg. 2002, Nr.1, S.168

11) A. Uljanow: Probleme des Wirtschaftswachstums - verpaßte Chancen, in: Wostok 4/2002, S.86-88

12) Bericht über die menschliche Entwicklung, a.a.O., S.194-197


Gert Meyer ist Historiker und lebt in Marburg

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