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Klaus Holzkamp

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Freie Radios

15.10.2010: Zwischen Gegenöffentlichkeit und Medienpädagogik

  
 

Forum Wissenschaft 3/2010

Für die Mehrheit der ,normalen' MediennutzerInnen häufig unbemerkt entstand seit den frühen 90er Jahren eine recht lebendige, mit sozialen Initiativen und Bewegungen vernetzte autonome Radioszene. Deren (Teil-)Erfolge und Probleme analysiert Steffen Käthner.

Juni 2007: In Heiligendamm tagen Merkel, Bush, Putin und Co., in Rostock und Umgebung protestieren Zehntausende kreativ gegen das Gipfelspektakel. Für die etablierten Medien ist es das Event des Jahres mit spektakulären Bildern von Straßenschlachten und einem brennenden Auto in unzähligen Einstellungen einerseits und stundenlanger Hofberichterstattung über ,Merkels Klimaerfolg' andererseits. Ein großer Teil der rund 5.000 akkreditierten JournalistInnen berichtet mangels direkter Informationen nur aus zweiter Hand über die Ereignisse. So finden fehlerhafte Mitteilungen und Falschdarstellungen große Verbreitung, bis sie später eher beiläufig korrigiert werden.

Doch neben dem offiziellen Medien-Mainstream gibt es in Rostock auch eine selbstorganisierte Berichterstattung. Unabhängige RadiomacherInnen aus aller Welt gestalten zusammen das "Radioforum.fm", ein vielsprachiges alternatives Angebot für Freie Radiostationen. So wird auch ein deutschsprachiges 24-Stunden-Programm per Livestream ins Internet gestellt und zeitweilig von mehr als einem Dutzend Freier Radios in Deutschland und Österreich übernommen und auf den eigenen lokalen UKW-Frequenzen gesendet.

"Radioforum.fm" ist ein gutes Beispiel dafür, was ,Gegenöffentlichkeit' heute sein kann: Engagiertes Radio, das seine Sympathie mit Bewegungen nicht verhehlt und der staatlichen PR skeptisch und kritisch gegenübertritt, aber auch die (eigene) Bewegung kritisch hinterfragt, Diskussionen anregt und führt.

Freies Radio - Was ist das eigentlich?

Doch: Was sind eigentlich Freie Radios? Sind nicht im Sinne von Art. 5 Grundgesetz alle Medien frei? Offiziell existiert ein duales Modell aus öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanbietern. Im Rahmen des privaten Rundfunksektors gibt es allerdings neben den kommerziellen Veranstaltern auch Formen nichtkommerzieller partizipativer Medien. Sie sollen, wie es etwa das Hessische Privatrundfunkgesetz formuliert, als publizistische Ergänzung zur Erweiterung der Meinungsvielfalt, zur Förderung des offenen Medienzugangs und zur Medienkompetenzvermittlung beitragen.

Je nach Bundesland wurden sehr unterschiedliche Regelungen zur Partizipation im Rundfunk geschaffen. Es gibt Offene Kanäle, Campusradios, Bürgerrundfunk und Aus- und Fortbildungskanäle nebeneinander, am verbreitetsten ist der Begriff des Nichtkommerziellen Lokalradios (NKL). In manchen Bundesländern fehlt bis heute ein medienrechtliches Partizipationsmodell. Insgesamt reicht die Zahl der sogenannten ,Bürgerradios' etwa an die Hundert heran. Im medienpolitischen Sprachgebrauch wird meist verallgemeinert von ,Bürgermedien' gesprochen, mitunter werden diese auch synonym als ,Freie Radios' bezeichnet. Dies trägt allerdings eher zur Verwirrung bei, gibt es den Begriff doch als Selbstbezeichnung in sehr spezifischem Verständnis schon seit den 70er Jahren.

Damals wuchs im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen das Bedürfnis, eigene Medien zu schaffen. Neben einer Vielzahl von Zeitungsprojekten gründeten die AkteurInnen auch eigene Radiosender, um der im damaligen öffentlich-rechtlichen Monopol vorherrschenden Sichtweise Paroli zu bieten und ,Gegenöffentlichkeit' herzustellen. Zwischen 1977 und 1983 gab es nahezu überall Frequenzbesetzungen durch Piratensender auf UKW. Anlässe waren Großdemos, Anti-AKW-Kämpfe oder Hausbesetzungen. Diese illegalen Sendeaktionen standen unter hohem Repressionsdruck, waren folglich meist äußerst kurzlebig und erreichten überschaubare Publikumsresonanz. Wer also wirklich hörbar werden wollte, musste die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Und so förderten die administrativen und juristischen Grenzen der Radiopraxis die Motivation zum medienpolitischen Engagement und zur Herausbildung einer eigenen Freien Radiobewegung. Deren Zentrum wurde Freiburg mit dem ortsansässigen Radio Dreyeckland (RDL). Dank besonderer Umstände konnte RDL sich - obwohl ohne Lizenz - etablieren und tatsächlich eine alltägliche Radiopraxis entwickeln: Gesendet wurde zumeist aus dem nahe gelegenen Frankreich, wo illegales Senden von der Mitterand-Regierung toleriert wurde. Zugleich wuchs in Freiburg und Umgebung eine Basis von mehreren Tausend Mitgliedern, die den Programmbetrieb finanziell ermöglichte und massiven politischen Druck entwickelte, um dem Freien Radio eine legale Basis zu geben.

Zentrale Forderung der Freien Radiobewegung wurde, dass alle, die Radio machen wollen, auch Zugang zu Frequenzen und Verbreitungskapazitäten erhalten sollten.1 Parallel wurde nach konzeptionellen und theoretischen Fundierungen gesucht. Bezugnahmen auf Brecht, Benjamin und Enzensberger wurden nun Standard bei der Selbstdefinition Freier Radios. Deren Anspruch war ausdrücklich, den Gegensatz zwischen ProduzentInnen und bloßen KonsumentInnen von Rundfunkangeboten tendenziell zu überwinden. Aus Mangel an Perspektiven versandete die bundesweite Freie-Radio-Bewegung zunächst wieder. Lediglich ein paar voneinander isolierte Inseln blieben.

Freies Radio als Privatfunk?

Anfang der 90er Jahre änderte sich die Rundfunklandschaft grundlegend. Zur Ermöglichung des privaten Rundfunks waren seit Mitte der 80er Jahre in allen Bundesländern Landesmediengesetze verabschiedet worden, in die später auch Partizipationsmodelle aufgenommen wurden. In einigen Fällen - "Radio 100" Berlin, "Radio Z" Nürnberg und RDL Freiburg - hatten sich alternative Radioprojekte erfolgreich auf ausgeschriebene Privatfunklizenzen beworben und schalteten z.Tl. auch kommerzielle Werbung im Programm. Die Erfahrungen in Berlin und Nürnberg zeigten dabei, dass Radio mit emanzipatorischem Anspruch nicht auf kommerzieller Grundlage umsetzbar ist. In der Folgezeit schmiss etwa die Geschäftsführung von Radio 100 die politischen Inhalte über Bord und ging kurz danach Pleite, bei Radio Z warf die Redaktion hingegen die Werbung aus dem Programm und sendet heute noch.

Für frischen Wind in der freien Radioszene sorgten aber vor allem Gruppen auf dem Gebiet der untergehenden DDR, die den faktisch rechtsfreien Raum nutzten, um das Bedürfnis nach freien, unabhängigen Medien und nach direkter unzensierter lokaler Kommunikation praktisch umzusetzen.

Die Neubelebung der Szene führte 1993 zur Gründung des Bundesverbandes Freier Radios (BFR). Dessen Essentials sind neben dem offenen Zugang zum Medium die Absage an den Kommerz, eine gesellschaftskritische, lokal verankerte Programmgestaltung und basisdemokratische Binnenstrukturen. In seiner Charta definiert der BFR, dass Freie Radios "ihre Medien insbesondere denjenigen Personen und Gruppen zur Verfügung (stellen), die gesellschaftlich marginalisiert, sexistisch und/oder rassistisch diskriminiert sind und deshalb zur herkömmlichen Medienproduktion keinen oder nur begrenzten Zugang haben"2. Damit verbunden war ein Bekenntnis zu radikaler Subjektivität und eine Absage an bezahlten Stellvertreterjournalismus.

Der BFR zählt heute 32 Mitglieder in fast allen Bundesländern. Ihre Sendepraxis findet in sehr unterschiedlichen medienrechtlichen Formen statt und reicht von der eigenen 24-Stunden-Vollfrequenz über diverse Modelle des Frequenzsplittings bis zu reinen Internetradioprojekten oder temporärem Veranstaltungsradio. Die Programmgestaltung erfolgt ehrenamtlich und ist bewusst ,unprofessionell', wobei die handwerkliche Qualität extrem unterschiedlich ist. Während manche Sendungen auch nach Jahren noch klingen, als säße der Moderator zum ersten Mal im Sendestudio, könnten andere problemlos mit professionellen Standards mithalten. Inhaltlich beeindrucken Freie Radios vor allem durch ihre Vielfalt: liebevolle und kompetente Musikspecials, die jede noch so kleine subkulturelle Nische präsentieren, mutter- und mehrsprachige Programme der diversen ortsansässigen migrantischen Communities, lokale Politgruppen und Kulturinitiativen, die eigene Sendungen gestalten. Und keine Intendantin oder Chefredakteurin nötigt dazu, Themenhintergründe in anderthalb Minuten abzuhandeln.

Freie Radios bilden heute eine Teilmenge des nichtkommerziellen, bürgerbeteiligten privaten Rundfunks. Sie definieren sich im Unterschied zu quasi-staatlich betriebenen Offenen Kanälen und Ausbildungskanälen mit einem politischen Anspruch auf emanzipative Gesellschaftsveränderung und arbeiten in basisdemokratischer Selbstverwaltung. In den meisten Freien Radios sind aber durchaus auch Leute aktiv, für die die politische Selbstbeschreibung des Radios eine geringe oder gar keine Rolle spielt, andererseits gibt es in quasi-staatlichen Offenen Kanälen politisch engagierte AkteurInnen, die inhaltlich ähnliche Ansprüche vertreten wie Freie Radios, aber eben nicht selbst als Programmveranstalter auftreten (können). So unterschiedlich wie die Rechtsformen sind auch die finanziellen Rahmenbedingungen. Grundsätzlich sieht der Rundfunkstaatsvertrag die Möglichkeit vor, dass bis zu 2% der Rundfunkgebühren für ,Bürgermedien' und Medienkompetenzförderung eingesetzt werden können. Immerhin werden in einigen Ländern tatsächlich Fördermittel aus diesem Topf an Freie Radios ausgezahlt.

Rückenwind aus Europa

Der derzeitige Stand markiert einen Trend, der seit Beginn der 90er Jahre trotz Widersprüchen und Rückschritten insgesamt zu einer parteiübergreifenden Anerkennung des nichtkommerziellen Bürgermediensektors führte und dessen Verbreitung und Finanzierung förderte - allerdings auch um den Preis einer tendenziellen Entpolitisierung. Das Ergebnis sind rund 100 sendende Radiostationen, von denen viele ,von oben' eingerichtet worden sind, während andere (siehe Freiburg) lange und mit viel Druck politisch erkämpft werden mussten. Einzelne Radioinitiativen bemühen sich bis heute erfolglos um Zulassungen.

Trotz aller Erfolge konnten die Freien Radios eine zentrale Forderung nicht umsetzen: Die offizielle Anerkennung als dritter Sektor des Mediensystems neben öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk und mit gleichberechtigtem Zugang zu finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen, obwohl dafür sogar Rückenwind aus Europa organisiert werden konnte. Durch jahrelange Lobbyarbeit internationaler Radioverbände wie dem Community Media Forum Europe (CMFE) und der Association mondiale de radiodiffuseurs communautaires (AMARC) verabschiedeten das EU-Parlament und der Europarat 2008/09 verschiedene Erklärungen, die den Community-Medien wichtige Funktionen zur Förderung interkultureller Kommunikation, der Bildung und politischen Beteiligung zusprechen. Das EU-Parlament forderte seine Mitgliedsstaaten auf, die CM entsprechend anzuerkennen und bei der Versorgung mit Frequenzen und Finanzen zu unterstützen.3 Diese Erklärungen liefern medienpolitisch nützliche Argumente, rechtlich bindend sind sie freilich nicht.

Dies mussten die Freien Radios in Sachsen erfahren, die seit Ende 2009 besonders unter Druck stehen. Dort war 2004 ein bundesweit einmaliges Modell geschaffen worden: Die Freien Radios in Chemnitz, Leipzig und Dresden gestalten auf lokalen Frequenzen 49 Stunden Sendezeit pro Woche, während die restliche Sendezeit von einem gemeinsamen Programmkonstrukt aller sächsischen Kommerzradioveranstalter verantwortet wird. Die Übertragungskosten für die gesamte Sendezeit trug das Kommerzkonsortium bis Ende 2009. Dieses lehnte jedoch die Verlängerung des auslaufenden Vertrages und damit die weitere Übernahme der Kosten ab. Aus Eigenmitteln können Radio T, ColoRadio und Radio Blau die Übertragungskosten nicht decken, die Zahlung aus Gebührenmitteln verweigerte die Sächsische Landesmedienanstalt (SLM) unter Hinweis auf eine fehlende Rechtsgrundlage. Solche Zahlungen sind zwar tatsächlich nicht im Gesetz verankert, aber auch nicht explizit untersagt. Um die Position der Freien Radios zu stärken, beantragten die rot-rot-grünen Fraktionen gemeinsam die Ergänzung des Gesetzes um einen entsprechenden Förderpassus. In der begleitenden Anhörung im Landtag verwiesen die Regierungsfraktionen auf die Irrelevanz der Europäischen Empfehlungen. Ein Sprecher der SLM zog gar die Legitimität des EU-Parlaments in Zweifel, "wenn man weiß, welche Länder da vertreten sind"4. In Anbetracht der Landtagsmehrheit ist kaum mit einem Erfolg des Gesetzesantrags zu rechnen, aber immerhin haben die drei Freien Radios Zeit gewonnen. Mit öffentlichem Druck, einer Unterschriftensammlung (ca. 12.000 Unterzeichner) und finanzieller Unterstützung der Kommunen gelang es, vorerst den Abschalttermin zu verschieben.

Teilerfolge und Rückschläge

Radio Flora in Hannover hatte weniger Erfolg. Während alle anderen Bürgerrundfunklizenzen in Niedersachsen 2007 vorfristig verlängert wurden, musste sich Flora einer Neuausschreibung stellen. Begründet wurde diese Entscheidung vor allem mit mangelnder Publikumsresonanz. Dieses ,Quotenargument' ist bisher ein Novum in der Bewertung nichtkommerzieller Rundfunkveranstalter. Deren anerkannte Bedeutung lag bisher in der Qualität der Angebote und im Kriterium der Bürgerbeteiligung, und gerade Flora bot eine unbestritten hohe Programmqualität. Das im Kern kommerzielle Argument mit der Quote legt an die Freien Radios den Maßstab der staatlichen und privaten Sender an und stellt damit das Alleinstellungsmerkmal - und in letzter Konsequenz die Existenz - der Freien in Frage. So wurde auch ein politisch pflegeleichterer Mitbewerber vorgezogen. Radio Flora ist seit 2009 nur noch im Internet zu empfangen.

Die Entwicklungen in Niedersachsen und Sachsen zeigen, dass der oben beschriebene Trend einer zunehmenden politischen Akzeptanz der Freien Radioszene längst gekippt und einem Trend wachsender staatlicher Kontrolle gewichen ist, die die Unberechenbarkeit und den Eigensinn der Freien beseitigen will. Deutlich werden dabei auch veränderte medienpolitische Prämissen. Demokratische Beteiligung von BürgerInnen am Rundfunk auch in ihrer Eigenschaft als autonome ProduzentInnen wird nicht mehr als förderungswürdiger Zweck definiert, sondern ist lediglich ein störender Kostenfaktor. Das findet seinen Ausdruck in einer ganzen Reihe von Behinderungen, die von verschlechterten gesetzlichen Rahmenbedingungen bis zur Zurückhaltung von Fördergeldern und zur Benachteiligung bei Frequenzzuweisungen reichen. Bisweilen werden Offene Kanäle wie im Saarland auch gleich ersatzlos gestrichen.

Statt der Erweiterung der publizistischen Vielfalt steht nun ein anderer Aspekt im Mittelpunkt: ,Förderung von Medienkompetenz' heißt das neue Schlagwort. Darin sehen Landesmedienanstalten, PolitikerInnen und VerbandsvertreterInnen von ver.di bis zum Vertriebenenverband die gesellschaftlich wertvolle Aufgabe der ,Bürgermedien'. Deren Existenzberechtigung ergibt sich demnach aus einem Verständnis als medienpädagogische Einrichtungen, die präventiven Jugendmedienschutz leisten. Da es sich dabei um eine über staatliche Ziele definierte Pädagogik ,von oben' handelt, dient auch dieses Kriterium dem Abbau von gesellschaftlicher Autonomie. Für wertvolle Medienpädagogik, so fordert etwa der Intendant des Hessischen Rundfunks Helmut Reitze, braucht man aber keine UKW-Frequenzen, vielmehr genügt die wesentlich kostengünstigere Ausstrahlung der Produktionen im Internet.5

Auch wenn Freie Radios schon durch ihre bloße Existenz sehr umfassend Medienkompetenz fördern - vom bewussten Radio hören über das selbstständige Produzieren von Sendungen bis zur gesamten Selbst-Organisation des Sendebetriebs - und medienpädagogische Projekte bei fast allen Freien Radios zum Alltag gehören, sind sie in erster Linie redaktionelle Radioprogrammanbieter und keine akustischen Volkshochschulen.

Der Legitimationsdruck auf Freie Radios könnte sich in Zukunft noch verstärken. Im Kontext der neu entfachten Extremismusdebatte deuten sich Konflikte um die Förderungswürdigkeit fundamental gesellschaftskritischer Medien an, indem ihnen linksextremistische Tendenzen unterstellt werden. Beispielsweise lehnte der einflussreiche Politikwissenschaftler Eckhard Jesse (TU Chemnitz) ein Interview mit dem Halleschen Radio Corax in diesem Zusammenhang ab. Wenn solche Positionen medienpolitisch mehrheitsfähig werden, kann das die Existenz Freier Radios schnell gefährden. Bereits bei der Lizenzvergabe in Hannover wurde kritisiert, dass bei Radio Flora Positionen ,der Wirtschaft' zu wenig zu Wort kämen.

Ungewisse Zukunft

Mindestens ebenso bedeutsam wie die medienpolitischen Rahmenbedingungen sind die technologischen Entwicklungen. Schon seit längerem wird an der Ablösung der terrestrischen analogen Rundfunkübertragung via UKW gearbeitet. Die Ersetzung des analogen Sendebetriebs durch das digitale Verfahren DAB war in manchen Bundesländern sogar gesetzlich festgeschrieben. In Sachsen beispielsweise sollte ab 2010 keine UKW-Übertragung mehr stattfinden. Die Etablierung des digitalen Standards DAB ist allerdings trotz immenser Förderung durch erhebliche Millionenbeträge an Gebührengeldern bisher gescheitert.

Dass eine Digitalisierung der Radioübertragung kommen wird, ist dennoch ziemlich sicher. Nur wann und vor allem wie sie erfolgt, ist noch offen. Welchen Platz Freie Radios in der digitalen Radiowelt finden oder sich erkämpfen werden, wird sich in den nächsten Jahren entscheiden. Für digitale Formen der Produktion und Verbreitung alternativer Audioinhalte bietet vor allem das Internet große Möglichkeiten, die zudem nicht von medienrechtlichen Zulassungen abhängig sind.

Der 2009 verstorbene Hallenser Radioaktivist Thomas Kupfer plädierte 2008 dafür, "Freies Radio noch einmal neu, ausgehend von den individuellen Akteuren, zu denken: Unabhängig davon, wo sie sich gerade aufhalten und welchem Radio sie evtl. zuarbeiten", und dabei vor allem die Chancen des Internets zu sehen: "Nie zuvor waren die Chancen für die überregionale redaktionelle Arbeit in netzwerkförmigen Strukturen so groß ... Freies bzw. alternatives Radio kann sich, muss sich aber nicht lokal verorten. Es sind individuelle Akteure, die es zu vernetzen gilt und die je nach lokalen Bedingungen aktiv an der Gestaltung von Community Radios mitwirken oder solche entwickeln können - oder auch nicht. Die Neuordnung der Frequenz- und Rundfunklandschaft im Zeichen der Digitalisierung auch der terrestrischen Verbreitungswege ist einerseits eine Bedrohung für vorhandene lokale Veranstalter. Sie kann aber andererseits auch neue, bundesweit verbreitete freie und alternative Radioprogramme hervorbringen. Ein Miteinander von lokalen Community Radios und bundesweiten digitalen publizistischen Angeboten könnte die Zukunft Freier Radios sein. Allein: Es zeichnen sich weder medienpolitische noch ,zivilgesellschaftliche' Akteure ab, die vorbereitet scheinen, diese Zukunft aktiv zu gestalten."6

Bemühungen, mithilfe des Internets die lokale Begrenzung zu überwinden, gibt es tatsächlich in der Freien Radio-Szene schon lange. Mit dem Austauschportal freie-radios.net entstand schon 2001 eine interaktive web2.0-Plattform, als dieses Schlagwort noch ungebräuchlich war. Mittlerweile ist hier ein beachtliches Archiv mit weit über 30.000 Radiobeiträgen entstanden. Auch Liveprogramme im Netz sind inzwischen selbstverständlich. Praktisch alle Freien Radios strahlen ihr reguläres Programm auch via Livestream im Internet ab. Die Programmkooperation auf Live-Ebene ist allerdings noch die Ausnahme. Sie findet vor allem zu besonderen Anlässen statt - wie beim eingangs erwähnten G8-Gipfel 2007, beim Weltklimagipfel in Kopenhagen, bei Antifa-Demos oder den Castor-Transporten.

Welchen Weg die Freien Radios in der Zukunft nehmen wollen, wird seit geraumer Zeit engagiert diskutiert, auf eigenen Zukunftswerkstätten, aber auch in der Kooperation mit anderen alternativen Medienschaffenden. So nehmen Freie-Radio-AktivistInnen an der Linken Medienakademie teil und vertreten den BFR Anfang Oktober beim Kongress Öffentlichkeit und Demokratie in Berlin. Am 29.-31.10. trifft sich dann der BFR zu seinem Jahreskongress in Leipzig.

Wie auch immer die Zukunft aussehen wird: Ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Medien mit der doppelten Freiheit von staatlicher Bevormundung einerseits und von kommerziellen Interessen andererseits wird bleiben.

Anmerkungen

1) Erklärung der Freien Radios, Freiburg 1981

2) Charta des Bundesverbandes Freier Radios, Hattingen 1993, www.freie-radios.de/bfr/charta.htm

3) Beschluss des EU-Parlaments über den "Bericht über gemeinnützige Bürger- und Alternativmedien in Europa (2008/2011(INI)) vom 24. Juni 2008", vom 25.09.2008, siehe: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A6-2008-0263+0+DOC+XML+V0//DE

4) Mitschnitt der Öffentlichen Anhörung im Sächsischen Landtag im Ausschuss für Wissenschaft und Hochschule, Kultur und Medien am 3. Mai 2010, siehe: www.freie-radios.net/portal/content.php?id=33808 , mehr Infos zur Entwicklung in Sachsen: www.radiofueralle.org

5) Helmut Reitze im Interview mit dem Hessentagsradio am 31.05.2010, www.freie-radios.net/portal/content.php?id=34484

6) Thomas Kupfer: Reinventing Alternative Radio? Überlegungen zur Zukunft Freien Radios in der Bundesrepublik Deutschland, in: BFR-Rundbrief 4/2009, S.10ff, freie-radios.de/rundbrief/bfr-rundbrief_09_10_online.pdf


Steffen Käthner ist Verwaltungsgeschäftsführer des BdWi. Er arbeitet seit 1994 bei Radio Unerhört Marburg redaktionell und organisatorisch mit und engagiert sich seit Jahren auch überregional im Bundesverband Freier Radios. Mehr Infos im Internet unter www.freie-radios.de . Radio-Beiträge unter: www.freie-radios.net

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