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Regelversorgung statt Parallelsysteme

15.08.2009: Zur Gesundheitsversorgung Illegalisierter

  
 

Forum Wissenschaft 3/2009; Foto: Dieter Seitz

Bekannt und nichts Neues ist: Das deutsche Gesundheitssystem vernachlässigt Menschen, die am unteren Rand der Gesellschaft leben. Wie es mit der Gesundheitsversorgung der „Sans Papiers“, illegalisierte Flüchtlinge, von Menschen ohne dauerhaften und gesicherten Aufenthaltstitel steht und wie demokratische Bewegungen und eine handlungsbereite Kommune damit umgehen können, beschreibt Elène Misbach.

Zwischen 500000 und einer Million Menschen leben in Deutschland ohne geregelten Aufenthaltsstatus, davon etwa 100000 in Berlin. Ihre Migrationsgründe, insbesondere die Gründe für ein Leben in der Illegalität, sind sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durch die bestehende Gesetzeslage im Alltag vom regulären Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden. Gesundheitsversorgungs-Leistungen, die gesetzlich Versicherten (noch) zur Verfügung stehen, erhalten zwar Flüchtlinge mit einem so genannten geregelten Aufenthaltsstatus, illegalisierte aber nicht. Mittlerweile ist erklärtes Ziel der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, durch die geplante Einführung anonymisierter Krankenscheine eine strukturelle Verbesserung ihrer medizinischen Versorgung zu erreichen.

Eingeschränkte Rechte

Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden in Hamburg und Berlin die ersten Büros für medizinische Flüchtlingshilfe gegründet, um dem Problem zu begegnen, dass eine wachsende Zahl von Menschen ohne Aufenthaltsstatus – im Folgenden Illegalisierte1 – in Deutschland äußerst unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung hatte. Mittlerweile gibt es in den meisten größeren Städten medizinische Flüchtlingshilfen2 sowie in einigen Städten Anlaufstellen der Malteser Migranten Medizin. An der rechtlichen Situation hat sich seither allerdings nichts geändert, das dringliche Problem des Ausschlusses von Illegalisierten aus der regulären Gesundheitsversorgung besteht weiterhin. Auf dem Papier steht ihnen medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu. Die §§ 4 und 6 AsylbLG ermöglichen allerdings nur Behandlungen bei akuten und schmerzhaften Erkrankungen sowie Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Gesundheit unerlässlich sind. Gefahrlos können Illegalisierte ihr Recht jedoch nicht in Anspruch nehmen: Um die eingeschränkten Leistungen überhaupt wahrnehmen zu können, müssen sie sich für die Kostenübernahme an das zuständige Sozialamt wenden. Das Sozialamt ist als öffentliche Stelle nach § 87 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verpflichtet, die Ausländerbehörde über die Kenntnis vom unerlaubten Aufenthalt einer Person zu unterrichten und die Personendaten zu übermitteln. Den Betroffenen kann dadurch Abschiebehaft und letztlich Abschiebung drohen. Aus Angst vor Aufdeckung, Inhaftierung und Abschiebung nehmen Illegalisierte die ihnen zustehenden Leistungen nach AsylbLG faktisch kaum in Anspruch; Ärztinnen und Ärzte werden meist erst aufgesucht, wenn dies aufgrund von Komplikationen und Chronifizierungen unvermeidbar geworden ist. Die Chance für eine frühzeitige Diagnose und Therapie wird dadurch vertan. Der Verlauf einer Krankheit droht schwerer zu werden. Infektionskrankheiten werden nicht ausreichend therapiert, Krebserkrankungen zu spät erkannt, bei chronischen Leiden entstehen Folgeschäden an anderen Organen, Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen werden nicht in Anspruch genommen. Illegalisierte kommen so in gesundheitsschädliche oder sogar lebensbedrohliche Situationen, die an sich vermeidbar wären.

Parallelstrukturen?

Seit Jahren ermöglichen in Berlin – ähnlich auch in anderen Städten – das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe (Medibüro) und die Malteser Migranten Medizin mit den jeweils kooperierenden Netzwerken eine anonyme und kostenlose oder kostengünstige Gesundheitsversorgung ohne Datenweitergabe an die Behörden. Beide Unterstützungsstrukturen basieren – beim Medibüro vollständig, bei der Malteser Migranten Medizin in Teilen – auf der unentgeltlichen Arbeit der Mitarbeiter/innen, privaten Spendengeldern und der Kooperation mit vielen Ärztinnen und Ärzten, Hebammen und anderen Fachleuten im Gesundheitsbereich, die bereit sind, Illegalisierte kostenlos zu behandeln, sowie der Zusammenarbeit mit engagierten Krankenhäusern, die stationäre Therapien zu reduzierten Sätzen ermöglichen. Diese Parallelstrukturen sind inzwischen von offiziellen Stellen anerkannt und hochgelobt, können jedoch keine Lösung sein. Zum einen wird die Einlösung des Menschenrechts auf Gesundheit in Deutschland zivilgesellschaftlichen Initiativen und der kostenlosen Arbeit von Ärztinnen und Ärzten übertragen. Der Staat und die öffentliche Hand entziehen sich elegant ihrer Verantwortung. Zudem besteht innerhalb solcher Parallelstrukturen kein individueller Rechtsanspruch auf angemessene und nachhaltige Gesundheitsversorgung. Die Betroffenen sind letztlich vom „Goodwill“ der Beteiligten in den Netzwerken abhängig. Zum anderen sind Parallelstrukturen trotz hohen Engagements der beteiligten Mitarbeiter/innen und Fachkräfte strukturell nicht in der Lage, in allen Fällen eine ausreichende Prävention, Diagnostik und Therapie zu erbringen. Die finanziellen und fachlichen Ressourcen sind begrenzt, eine der Regelversorgung gleichwertige medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet.

Steigendes Interesse

Das öffentliche Interesse und politische Bewusstsein für die Lebenssituation von Illegalisierten haben sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. So lassen sich beispielsweise bezüglich der arbeitsrechtlichen Situation von Illegalisierten erste Erfolge mit der Einrichtung von zwei Anlauf- und Beratungsstellen für „undokumentierte“ (illegalisierte) Arbeitnehmer/innen in Hamburg und Berlin verbuchen. In Hamburg wurde im Mai 2008 die erste gewerkschaftliche Anlaufstelle für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt errichtet, ver.di Berlin-Brandenburg hat Anfang März 2009 in Zusammenarbeit mit dem Berliner Arbeitskreis „Undokumentiertes Arbeiten“ nachgezogen.3 Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung tut sich nach jahrelanger beharrlicher Öffentlichkeitsarbeit durch diverse Wohlfahrtsverbände, Büros für medizinische Flüchtlingshilfe und kirchliche Organisationen etwas. Dazu hat insbesondere die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität beigetragen, die 2006 vom Katholischen Forum „Leben in der Illegalität“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) ins Leben gerufen wurde. Fachleute aus Wissenschaft, Praxis, kommunaler Verwaltung, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und nichtstaatlichen Organisationen haben sich in der Arbeitsgruppe intensiv mit dem Problem der medizinischen Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus beschäftigt. Auch das Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe hat in der Arbeitsgruppe mitgearbeitet und seine Erfahrungen eingebracht. Der 2007 veröffentlichte Bericht der Arbeitsgruppe „Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland – Ihr Recht auf Gesundheit“ kommt zu dem Schluss, dass die „Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere in Deutschland [...] defizitär (ist)“ und weder aus medizinischer noch aus menschenrechtlicher Sicht zu verantworten ist.4 Als eine zentrale Handlungsempfehlung wird die Einschränkung der Übermittlungspflicht nach § 87 AufenthG hervorgehoben. Dadurch könnten Illegalisierte ohne Angst vor Abschiebung die ihnen rechtlich zustehenden Leistungen nach dem AsylbLG wahrnehmen.

Bewegung in Berlin

Nachdem die Politik das Problem der Gesundheitsversorgung jahrelang ignoriert oder negiert, im „besten Fall“ durch die Würdigung der Arbeit von Medibüros und Malteser Migranten Medizin als gelöst wahrgenommen hat, bewegt sich in Berlin endlich etwas. Im Integrationskonzept des Berliner Senats von 2007 werden Illegalisierte zum ersten Mal explizit als Zielgruppe benannt.5 Die Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher hat sich die strukturelle Verbesserung der medizinischen Versorgung Illegalisierter zu eigen gemacht6 und gemeinsam mit dem Staatssekretär für Gesundheit Dr. Benjamin-Immanuel Hoff und in ressortübergreifender Kooperation bereits einige Verbesserungen erzielt:

Die Senatsverwaltung für Inneres hat im August 2008 die Ausländerbehörden schriftlich angewiesen, Frauen drei Monate vor der Entbindung sowie drei Monate danach regelmäßig eine Duldung zu gewähren.7 Zuvor orientierte man sich an der gesetzlichen Mutterschutzfrist (sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt).

Die Senatsverwaltung für Gesundheit hat im November 2008 in einem Schreiben an die Geschäftsführungen der Berliner Krankenhäuser in öffentlicher, freigemeinnütziger und privater Trägerschaft bestehende rechtliche Unsicherheiten bei der medizinischen Behandlung von Illegalisierten beseitigt und ihre Rechtsauffassung in Bezug auf eine etwaige Datenübermittlungspflicht klargestellt: Ärztinnen und Ärzte, die Illegalisierte behandeln, machen sich weder strafbar noch sind sie verpflichtet, Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Auch die Verwaltungen der Krankenhäuser sind nicht zur Datenweitergabe verpflichtet.8

Anonymisierte Krankenscheine

Eine bundesweite Gesetzesänderung in Bezug auf eine Einschränkung der Meldepflicht (§ 87 AufenthG) erscheint in naher Zukunft politisch nicht durchsetzbar. Daher schlägt die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit / Illegalität in ihrem Bericht als einen pragmatischen Verbesserungsansatz auf lokaler Ebene die Vermittlung geschützter Krankenscheine vor. Darauf aufbauend hat das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe ein Konzept für die Umsetzung eines anonymisierten Krankenscheins in Berlin erarbeitet. Bei der Senatsverwaltung für Gesundheit wurde unter der Leitung von Staatssekretär Dr. Benjamin-Immanuel Hoff eine Arbeitsgruppe gebildet, die derzeit die Umsetzungsmöglichkeiten in Berlin prüft. Neben der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz sind die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, das Büro des Integrationsbeauftragten und das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe beteiligt.

Das Konzept sieht vor, dass eine ärztlich geleitete Anlaufstelle die Daten der Betroffenen erhebt, ihre Bedürftigkeit prüft und einen anonymisierten Krankenschein ausstellt. Mit ihm kann die ambulante und stationäre Behandlung nach AsylbLG mit dem Sozialamt abgerechnet werden. Da die Datenerhebung unter ärztlicher Schweigepflicht erfolgt, besteht keine Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörde. Für die Patient/innen würde die Anlaufstelle darüber hinaus eine Case-Management- und Lotsenfunktion übernehmen, bei Bedarf Termine in geeigneten Praxen und Krankenhäusern koordiniteren, Sprachvermittlung ermöglichen und eine Rechtsberatung anbieten. Das Konzept ermöglicht die Integration von Illegalisierten in die ambulante und stationäre Regelversorgung sowie eine Kostenübernahme durch staatliche Stellen ohne Gefährdung der Datenweitergabe. Es realisiert den individuellen Rechtsanspruch auf Gesundheitsversorgung im Gegensatz zur rein humanitären Hilfe, die geleistet werden kann, aber nicht muss. Damit wäre ein wichtiger Schritt weg von einem weiteren Ausbau der bestehenden Parallelsysteme hin zu Eingliederung in die Regelversorgungssysteme und perspektivisch möglichst zu deren Ausbau gemacht. Eine Lösung für alle Probleme kann aber auch dieses Modell nicht liefern.

Das Modell basiert auf dem reduzierten Versorgungsanspruch nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz (AsylbLG). Daraus ergibt sich erstens, dass die grundsätzliche und breite Kritik an diesem Gesetz der Ungleichbehandlung, die von der Bundesärztekammer über Menschenrechtsorganisationen bis zu antirassistischen Initiativen reicht, selbstverständlich fortgesetzt werden muss. Eine zweite Konsequenz ist, dass nichtversicherte EU-Bürger/innen, die momentan durch alle sozialrechtlichen Netze fallen und inzwischen einen großen Teil der Klientel darstellen, in diesem Modell nicht berücksichtigt werden. Reisefreiheit und Angleichung sozialer Standards klaffen drastisch auseinander. Hier muss auf anderen Ebenen schnellstmöglich eine Lösung gefunden werden.

Es ist längst an der Zeit, in Deutschland eine nachhaltige Gesundheitsversorgung für illegalisierte Menschen einzuführen. Berlin kann hier einen ersten Schritt gehen, in vielen anderen Städten wünscht man sich einen solchen „Startschuss“.

Anmerkungen

1) Im Folgenden ist die Rede von Illegalisierten, da die häufig verwendete Bezeichnung „Illegale“ nicht geeignet ist, die Lebenssituation der Menschen zu beschreiben. Illegal impliziert die Vorstellung, jemand handle oder sei kriminell. Tatsächlich aber besteht der einzige Gesetzesbruch im Übertreten der ausländerrechtlichen Aufenthaltsbestimmungen. In anderen Sprachen gibt es weniger diskriminierende Begriffe (undocumented migrants, sans papiers, sin papeles).

2) Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin vermittelt anonyme und kostenlose Behandlung von illegalisierten Menschen ohne Krankenversicherung durch qualifiziertes medizinisches Fachpersonal. Kosten, die dennoch anfallen, z.B. für Medikamente, orthopädische Hilfsmittel, Brillen, labortechnische Untersuchungen, bildgebende Verfahren, Geburten sowie stationäre Krankenhausaufenthalte etc. werden über private Spendengelder finanziert. Alle Mitarbeiter/innen in dem nichtstaatlichen antirassistischen Projekt arbeiten unentgeltlich. Die Ärztinnen und Ärzte, Psycholog/innen, Hebammen, Dolmetscher/innen und andere Beteiligte des etwa 120 Praxen und Einrichtungen umfassenden Netzwerkes arbeiten ebenfalls unentgeltlich.

3) vgl. www.medibuero.de/de/News/Verdi_eroeffnet_Anlaufstelle.html (16.04. 2009)

4) Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2007). Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland – Ihr Recht auf Gesundheit. Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit Illegalität. Berlin. Der Bericht kann über das Medibüro (info@medibuero.de ) bezogen werden oder als PDF heruntergeladen werden unter: www.medibuero.de/de/Materialien/BAG-Bericht_2007.html

5) Kurz- und Langfassung des Berliner Integrationskonzepts können auf der Internetseite des Beauftragten für Integration und Migration des Berliner Senats heruntergeladen werden: www.berlin.de/lb/intmig/integrationskonzept.html, Zugriffsdatum 16.04.2009.

6) vgl. dazu die Beiträge „In der Grauzone: Wie illegale Migranten medizinisch versorgt werden“ vom 27.02.2009 in der Deutschen Welle, zu lesen und zu hören unter: www.dw-world.de/dw/article/0,,4060922,00.html, Süddeutsche Zeitung vom 23.02.2009 „Krankenschein für illegalisierte Eingewanderte. Der namenlose Patient“, www.sueddeutsche.de/politik/787/459429/text/ (16.04.2009) sowie in der taz vom 15.12.2008 „Ein Papier für Papierlose“.

7) Das Schreiben ist online verfügbar unter: www.benjamin-hoff.de/article/3144.schutzfristen-zur-abschiebung-schwangerer-frauen-verlaengert.html (16.04.2009).

8) Das Schreiben ist online verfügbar unter: www.benjamin-hoff.de/article/3239.keine-uebermittlungspflicht-der-berliner-krankenhaeuser-nach-s-87-aufenthg.html (16.04.2009)


Elène Misbach ist Diplom-Psychologin und seit einigen Jahren aktiv im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin. Seit März 2006 arbeitet sie in der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit / Illegalität mit. – Das Spendenkonto: Flüchtlingsrat e.V., Stichwort: Medizinische Hilfe, Bank für Sozialwirtschaft, Konto-Nr: 3 260 302, BLZ: 100 205 00.

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