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Ego-Taktiken und easy livin' conformism

15.09.2006: Wandel in Reproduktion und Milieus Studierender

  
 

Forum Wissenschaft 3/2006; Titelbild: Thomas Plaßmann

Seit den 1990er Jahren wurde das Verständnis von Studierenden als Aussteigern, Systemkritikern, Verweigerern altmodisch. Die öffentliche Sorge vor dem kritischen Potential dieser Gruppe wich zunehmend einem gewissen Wohlgefallen am Engagement und guten Willen der jungen Leute, die nicht mehr gegen das Kapital, sondern für mehr Ressourcen demonstrierten (oder genau dafür zu demonstrieren schienen), um als Leistungsträger einer Wissensgesellschaft im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Thomas Köhler analysiert Veränderungen der Studierendenmilieus.

Studierende sind heute tatsächlich eher neo-konformistische Subjekte; sie schöpfen ihre Maßstäbe aus einem um das eigene gute Leben zentrierten Denkhorizont und sondieren nüchtern Strategien für eine effiziente Zielverfolgung – ego-taktisches Verhalten, wie die letzte Shell-Studie es nennt. Um die Analyse solcher Veränderungen im Studierendenmilieu nicht auf einen Befund bloßer Einstellungsänderungen zu beschränken, sondern den dahinter steckenden Struktur- und Habituswandel zu beleuchten, nimmt die hier vorgenommene Rekonstruktion Regeln und Grundbegriffe Bourdieuscher Sozialforschung zu Hilfe. Einige dieser Grundbegriffe sind heute nahezu selbstverständlich: kulturelles Kapital, Habitus, Distinktion. Zu den zentralen Annahmen der Bourdieuschen Soziologie gehört die Entsprechung mentaler und sozialer Strukturen, theoriegeschichtlich eine Variante der durch Durkheims Brille gesehenen Marxschen Hypothese, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein.1 Als ebenfalls bekannt, beinahe schon kanonisch darf die Idee der Vesterschen Forschungsgruppe angesehen werden, den hiesigen Sozialraum unter anderem mit dem Instrument der Sinus-Milieus zu erschließen.2 Diesen Vorschlag haben wir3 aufgegriffen und Sinus-Daten für Mitte der 80er und Mitte der 90er Jahre zu westdeutschen Studierenden mit Hilfe eigener Erhebungen und Sekundäranalysen reinterpretiert sowie für eine Projektion in den Bourdieuschen Sozialraum bzw. in das Hochschulfeld verwendet. Deutlich weniger auf typisch akademische Milieus (das alternative und technokratisch-liberale) konzentriert, diffundierte die Verteilung der Studierenden Mitte der 90er.

Ein klarer Fall von Demokratisierung, könnte man denken. Nach unseren Rekonstruktionen hatten sich die Studierenden aber lediglich „von einer eher gesellschaftskritischen Gruppe in Richtung der gesellschaftlichen Mitte bzw. der gesellschaftlichen Normalität verschoben“4: nicht (nur) Demokratie-, sondern (auch) Konformitätsgewinne sind also zu diagnostizieren. Um diesen Befund sekundäranalytisch zu aktualisieren, sollen hier zwei weitere Bourdieu-Begriffe bemüht werden, die noch nicht in gleichem Ausmaß zu den soziologischen Selbstverständlichkeiten gehören wie die schon genannten: es geht um den Begriff der Reproduktionsstrategien und, mit einem Rekurs auf die Wertewandelsforschung, den des Feldes. Abschließend überprüfen wir diese Argumentationslinie noch einmal und weisen auf kritische Positionierungen hin.

Wandel der Reproduktionsstrategien

Wollte man eine durch die Bildungsexpansion verursachte Demokratisierung im vollen Wortsinne behaupten, müsste neben der angestiegenen Partizipation an Bildungsgängen auch eine weitere Liberalisierung, eine umfassendere Ausübung von Bürgerrechten und eine weitere Absicherung durch Sozialrechte nachweisbar sein. Dass sich unser Gemeinwesen diese Art der Demokratisierung nicht leisten könne, sondern eher eine Umwandlung des Teilhaberechts an Bildung ins Freihandelsrecht für Bildungsgüter zu dulden habe, scheint den vermeintlichen Profiteuren der stagnierenden Expansion mehrheitlich erfolgreich eingeredet worden zu sein. Daraus resultiert, dass die Bildungspolitik tatsächlich immer weniger auf das Gesellschaftsbild einer wohlfahrtsstaatlich gestützten Demokratisierung, eine Einheits(hoch)schule zugreifen muss; die Legitimationsbedürfnisse werden nun viel besser abgedeckt von der Soziodizee einer Wissensgesellschaft, die auf die Steigerung ihrer Humankapitalressourcen zwar angewiesen ist, diese Steigerung aber immer stärker der individuellen Verantwortung überlässt. In der Konsequenz dieser Ideologisierung haben wir es bei den Dispositionen und Erwartungen, die die neuen Reproduktionsstrategien begleiten, mit zunehmender Orientierungsarmut und Fragmentierung der Gesellschaftsbilder und Lebensentwürfe zu tun, die nur noch im Rahmen einer permanenten Suche nach konformistischen Praktiken ausgehalten wird.

Schon seit den 1960er Jahren kritisierte Bourdieu die mit der Bildungsexpansion einhergehenden überschwänglichen Erwartungen. Es sei ein Irrtum, vor allem eine Demokratisierung durch die Expansion zu erwarten, die überwiegend Strukturverlagerungen hervorbringe. Auf die vermeintliche Demokratisierung fällt tatsächlich ein anderes Licht, wenn man etwa den fundamentalen Wandel analysiert, der mit der Umstellung vom familiären zum schulischen Reproduktionsmodus einhergeht. Längst ist ja das Wirtschaftsbürgertum zur Frequentierung des Hochschulsystems gezwungen. Mit der Objektivierung von Personalrekrutierungsverfahren großer Firmen entscheidet eben nicht mehr nur das soziale und ökonomische Kapital zusammen mit dem passenden Habitus über die Besetzung von Spitzenpositionen.5 Der exzellente Abschluss, zunehmend an entsprechenden (Privat-)Hochschulen erworben, ist Voraussetzung dafür, in den Tests den inkorporierten Besitz kulturellen Kapitals unter Beweis stellen zu können. Als nächste wurden Kinder aus den mittleren Klassen von der Umstellung auf den schulischen Modus mit in die Hochschulen gezogen, sammelten sich aber überwiegend an den wenig aussichtsreichen Positionen des Feldes, wo sie als „geprellte Generation“ die Dropout-, Aus- und Umsteigerexistenzen neu erfinden mussten. Demokratisierung im eigentlichen Sinne blieb schon in den 80ern auf halbem Wege stecken.

Ähnlich könnte es sich auch mit der Entwicklung verhalten, die heute als neuer Demokratisierungsschub erscheint und doch bloß als relative Demokratisierung verstanden werden muss: die kontinuierlich verstärkte Frequentierung der Hochschulen durch Frauen bis hin zu ihrer nun international, beinahe universell sich abzeichnenden Überrepräsentation im tertiären Sektor. Diese historische Revolution der Bildungsverhältnisse ist in ihrer fundamentalen Bedeutung für den Wandel von Reproduktionsstrategien sicher kaum zu überschätzen: nicht mehr nur für das männliche Bildungsbürgertum, dann das männliche Wirtschaftsbürgertum und den männlichen Teil des Kleinbürgertums verlieren die Heiratsstrategien an Bedeutung, die nun der Markt für kulturelles Kapital erhält. Dieser Markt hat sich jetzt auch den Frauen aus allen eben genannten Klassenfraktionen geöffnet, und er scheint ihnen bei der Kommodifizierung der eigenen Lebensweise sogar geringere Mühe und mehr Freude als den Männern zu bereiten.6

Der Frauenanteil an Studienanfängern erhöhte sich insgesamt, von den 60ern bis Anfang der 70er Jahre noch bei etwa einem Drittel liegend, auf nunmehr über die Hälfte. Während die Zahl der Studienberechtigten recht kontinuierlich in die Höhe ging und heute an die 40 Prozent beträgt, war die Studienanfängerquote tatsächlich nur noch bei den Frauen weiter angestiegen.7 Dabei gehen die meisten Studentinnen zwar nach wie vor in die klassischen ‚weichen‘ Fächer (Lehramt, Sprachen, Erziehungswissenschaften etc.); überdurchschnittlich stark sind sie mittlerweile auch in Medizin. Doch neuerdings kommen die Studentinnen in der Rechtswissenschaft ebenfalls an die 50-Prozent-Marke heran; auch in den Wirtschaftswissenschaften, dem größten Fach der Hochschullandschaft, sind zumindest die Erstsemesterzahlen tendenziell egalisiert. Die Zahlen bei den männlichen Studierenden hingegen stagnieren oder sind rückläufig. Wesentlich aufgrund der veränderten Studierneigung der Frauen befinden sich die beiden sehr großen Fachkulturen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in einer bis heute andauernden Favoritenposition, während bspw. das Lehramt als früher klassisches ‚Frauenfach‘ von weiblichen Studienanfängern weniger (in Relation zu den anderen Fächern, nicht in absoluten Zahlen) nachgefragt wird.

Die Kategorie der weiblichen Studierenden macht offenbar einen raschen morphologischen Wandel durch; die von mehr und mehr Frauen vorgenommene Umstellung auf einen Reproduktionsmodus mit immer größerer schulischer Komponente krempelt das gesamte System der Reproduktionsstrategien um. Welche Folgen dieser Wandel hat, ist derzeit kaum abzuschätzen. Müsste er nicht zunächst einmal die Fachkulturen verändern? Würden diese jetzt ‚verweiblichen‘8, also bald selbst zu den ‚weichen Fächern‘ gehören? Gibt es dann, im Sinne N. Frasers, auch eine Verweiblichung der Werte und Praktiken bei den Männern in diesen Fachkulturen? Überraschenderweise ist derzeit eher von einer Virilisierung auszugehen: auf Chancen für einen sicheren Arbeitsplatz, gute Aufstiegsmöglichkeiten und hohes Einkommen zu achten. Dagegen wird es als immer weniger wichtig angesehen, „anderen Menschen helfen“ und „Nützliches für die Allgemeinheit tun“ zu können.9

Die Werte differieren weniger nach Geschlecht als nach Fachkultur. Die typischen Tugenden der ‚harten‘ Fachkulturen, traditionell als männliche Werte angesehen, sind nicht nur in ihrem ‚autochthonen‘ Sektor wichtiger geworden, sondern strahlen immer stärker auf das gesamte Feld aus. Hier liegt offenbar kein reiner Effekt der geschlechterparitätischen Öffnung des Studierendenmilieus vor: nachdem es im durchs Alternativmilieu dominierten Raum der 80er sicher noch Tendenzen zu ‚weichen Werten‘ im Sinne des Zusteuerns auf vernünftigere Habitusformen gab, sind diese in den 90ern nicht mehr sichtbar. Damit liegt schon ein Hinweis darauf vor, dass die Öffnung auf Milieuebene nur sehr eingeschränkt als Demokratisierungseffekt interpretiert werden darf, sondern eher als Umbruch der Mentalitäten und Praktiken im Studierendenmilieu zu deuten ist, der als neokonformistische Wende zu kennzeichnen ist.

Wertehimmel – Feldstruktur

Das Studierendenmilieu ist insgesamt zwar langsamer, aber weiter angewachsen und hat sich unter Beteiligung von immer mehr Frauen zur ‚Mitte‘ hin geöffnet. Dennoch besuchen die Kinder aus niedrigen sozialen Herkunftsgruppen die Hochschulen immer noch gerade zu einem Zehntel der Jahrgangsstärke. Aus den oberen sozialen Lagen sind es satte vier Fünftel. Offenbar will diese Gruppe zunehmend auf private und kommerzialisierte Institutionen zugreifen, um der allgemeinen Titelinflation eine neue Exklusivität entgegenzusetzen.10 Für die Verschiebung zur Mitte hin kann eine egalisierende Demokratisierung also kaum die einzige, wahrscheinlich nicht einmal die wichtigste Ursache sein. Wichtiger noch scheint ein Wandel der Mentalitäten bei sonst relativ stabil ungerechter sozialer Zusammensetzung.

Tino Bargel, einer der besten Kenner des hiesigen Studierendenmilieus, hat 2000 bilanziert: „Materielle Gesichtspunkte des eigenen Vorteils, offensiv vertreten oder defensiv ausgerichtet, sind wichtiger geworden. […] Der Vorteil des Wettbewerbs zur Leistungssteigerung ist in den Vordergrund getreten […]. Vor einigen Jahren fielen die studentischen Stellungnahmen genau umgekehrt aus: Wettbewerb wurde überwiegend negativ eingeschätzt. […] Auch soziale Ungleichheit wird heute anders eingeordnet, [die Studierenden] verurteilen sie seltener als ungerecht.“ Studierende der Sozialwissenschaften „haben sich dabei den Studierenden der Rechtswissenschaft angenähert. Dieser Wandel […] geht einher mit einem Nachlassen und Abwenden von ‚alternativen‘ Haltungen und Ausrichtungen. […] Konkreter tritt dies bei einzelnen Beispielen hervor, wie dem Verzicht auf materiellen Wohlstand, den die meisten Studierenden seltener teilen. Oder fremdbestimmte Leistungszumutungen in der Arbeitswelt, gegen die sich die Studierenden weniger wehren; es herrscht wieder mehr ‚Leistungsideologie‘.“11

Bargels Analyse von Einstellungen um die Jahrtausendwende stützt die These vom Neuen Konformismus eindrucksvoll. Auch die 14. Shell-Studie erhellt die Diagnose mit dem Blick auf die Gesamtheit der Jugendlichen. Im Unterschied zu den1980er Jahren nehmen Jugendliche heute demnach eine stärker pragmatische Haltung ein. „Ihnen sind im Laufe der 90er Jahre Leistung, Sicherheit und Macht wichtiger geworden. […] Der Wertewandel in der Jugend wird besonders deutlich von den weiblichen Jugendlichen getragen. Mädchen und junge Frauen sind ehrgeiziger, aber auch sicherheitsbewusster geworden.“ Frauen sind Treue, Heirat und Bioläden wichtiger, „männliche Jugendliche sind vermehrt für ein besseres Zusammenleben und für Ordnung und Sicherheit im Wohnort aktiv sowie für die Pflege deutscher Kultur und Tradition.“12 In dieser Shell-Studie, die rechtslastige Trends völlig unkritisch und beschönigend vorstellt, macht der Bielefelder Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann den Begriff „Egotaktiker“ als Bezeichnung für einen neuen Sozialtypus stark: „Egotaktiker fragen die soziale Umwelt ständig sensibel nach Informationen darüber ab, wo sie selbst in ihrer persönlichen Entwicklung stehen. […] Zur egotaktischen Grundeinstellung gehört ein Schuss Opportunismus ebenso wie eine Portion Bequemlichkeit, eine abwartende und sondierende Haltung ebenso wie die Fähigkeit, im richtigen Moment bei einer sich bietenden Chance zuzugreifen.“13 Zu Pragmatismus und Opportunismus kommen nun noch steigende Werte für „Fun-Orientierung“.14 Dieser Werte- und Mentalitätswandel hat, wie alle Daten belegen, kurz nach der Wiedervereinigung eingesetzt und ist bis heute die dominierende Tendenz. Stabilisiert wird er durch einen entgegenkommenden Wandel der Institution, zwei Bewegungen, die sich ideal gegenseitig zu unterstützen und zu fördern scheinen: Die Bachelorisierung der Studiengänge verlangt geradezu nach Mentalitäten des neo-konformistischen Typs, neo-konforme Haltungen gieren nach dem als Schnellstudiengang interpretierten Bachelor. Selbst so unverdächtige Studiengänge wie das Lehramt für Grundschulen adaptieren mit der Bachelorisierung das Dispositiv des Büffelstudiums, das auf die Hervorbringung von Eigenschaften wie ein gutes Erscheinungsbild, Schnelligkeit und Härte15 zugeschnitten ist. Und Studierende akzeptieren es.

Vereinfachend lässt sich auch heute noch das Hochschulfeld als ein Raum beschreiben, der die vier Bereiche akademisch-intellektuell und akademisch-mondän (obere Klassen) sowie hedonistisch und berufsorientiert (mittlere und untere Klassen) umfasst. Der Blick der Feldsoziologie auf vertikale und horizontale Differenzierungen vermeidet falsche Vereinfachungen, die bspw. oberen Klassen das Interesse an Bildung, unteren das an verschulter Ausbildung andichten. Bildung, allerdings eher im Sinne des psychosozialen Moratoriums, wollen auch Hedonisten; Ausbildung ist auch der akademisch-mondänen Fraktion wichtig, soweit sie zu Überblickswissen und Parkettsicherheit führt.

Bezogen auf dieses Feld lässt sich der Mentalitätswandel im Studierendenmilieu verstehen als Effekt des Zuwachses externer Hierarchisierungsprinzipien an feldinterner Definitionsmacht. Der in den 80ern dominierende Zusammenhang hedonistisch-alternativer Stile mit Antikonsumismus, -karrierismus, -institutionalismus, seiner Verweigerungshaltung dem System gegenüber ist weitgehend eliminiert und entmachtet. Immer wichtiger werden heteronome Prinzipien des Erfolgs im Sinne der Selbstverkaufsmöglichkeiten, immer weniger können autonome Prinzipien der eingeschränkten Produktion sich als feldweit einflussreiche Regeln behaupten.

Brüche im Kontinuum

Dieses grobe Bild einer tektonischen Verschiebung zum Neokonformismus hin ist sicher stilisiert. Gegen Ende der New Economy war ja der Erfolgsdurst schon spürbar zurückgegangen (um mittlerweile ein wieder sehr hohes Niveau erreicht zu haben). Es wäre also falsch, neokonformistische Entwicklungen als unaufhaltsam und kontinuierlich darzustellen. Tatsächlich verlief auch das vergangene Dezennium höchst diskontinuierlich. Aber manchmal zeigt sich auch, wie schnell Kämpfe um Hegemonie umschlagen können – und wie schnell die Verlierer in der Geschichte mit ihren Kämpfen in Vergessenheit geraten.

Einen Bruch des Hegemoniewandels haben wir erst kürzlich erlebt. Die manifeste Stilisierung einer links-alternativen Orientierung im Studierendenmilieu ist um 2005 zwar wieder so marginal geworden, wie es schon über weite Strecken der 90er war. Doch der Verlauf war in den 90ern nicht ungebrochen. Nach einer Veränderung der Dominanzverhältnisse zu Gunsten der sog. Globalisierungskritiker wurde erst mit dem 9.11.2001 ein Kulminationspunkt erreicht, der die „kritischen Ereignisse“ stoppen konnte. Die „Entberuflichung“ (durch das Anwachsen der New Economy: rapide ansteigende Nachfrage nach kulturellem Kapital entwertete offizielle Titel; Abbrecher- und Quereinsteigerkarrieren wurden Tatsache) verlief bis dahin parallel zu einer immer massiveren Politisierung. Die aufkommende Rede von einem „neuen 68“ war insofern sogar gerechtfertigt, wie hier eine abermals stark an den Hochschulen und in der Popkultur verankerte globale Bewegung des Jugendprotests weltweite Mobilisierungserfolge vorweisen konnte.

Der Zusammenbruch der New Economy barg unter diesen Umständen noch ein befeuerndes, machtvoll-kritisches Potential. Soziale Bewegungen können sich mit ihren Deutungsmustern ja von ihrem ‚Fundament‘, den sozialstrukturellen Wandlungsprozessen und entsprechenden ‚Determinismen‘, emanzipieren. In diesem Fall war den Protesthaltungen eine ökonomische Hochkonjunktur zunächst entgegengekommen. Die Arbeitsmarkteffekte der boomenden New Economy, die öffnende Personalpolitik der Konzerne bis hin zu den Exzessen der Headhunter waren Schrittmacher für ein neues ‚emanzipatives Überschussbewusstsein‘. Aber einmal in Gang gekommen, hätte dieses gut institutionalisierte Bewegungsmilieu auch ohne den Schrittmacher einer ökonomisch begünstigenden ‚objektiven Lage‘ weiter agieren können. Sicher hatte auch um das Jahr 2000 die aufgekommene Bewegung nicht gleich das ganze Jugend- und Studierendenmilieu für den Kampf um eine bessere Welt so idealisiert, dass von einer neuen ‚Großen Weigerung‘ die Rede hätte sein können. Doch lief die Bewegung nach dem Ende des Booms weiter. Erst der Anschlag auf das WTC am 11.9.2001 zog einen relativen Zusammenbruch der Politisierung nach sich. Heute hat sich – trotz der Proteste bspw. des 15. Februar 2003 – die Stimmung wieder ins Defensive gewendet. Vorbildkarrieren sind nicht mehr die von querdenkenden Ein- und AussteigerInnen, sondern wieder auf die zertifizierten Formen des kulturellen Kapitals und klare Lebensläufe angewiesen; wer bestimmte Anforderungen nicht erfüllt, fliegt in Bewerbungsverfahren endlich wieder schon bei der ersten groben Vorsortierung raus.

Kritische Intervention wie?

Eine sinnvolle Analyse und Erklärung – dies sei auch in Hinblick auf die Studiengebühren herausgestellt – kann kaum aus einer ökonomistischen Argumentation, sondern nur mit dezidiert kulturalistischem Blick gewonnen werden. Nur er ermöglicht Konzentration auf den Kampf um die Legitimierung und Delegitimierung von Lebensweisen.16 Das Studium als (psycho-soziales, kognitiv-habituelles, intersubjektives) Moratorium, als freie Zeit, die nicht mit kommerzialisierten, sondern mit Bildungs-, insbesondere Erfahrungsbildungsaktivitäten ausgefüllt wird, in der ein öffentlicher, also nicht kommodifizierter Raum als demokratisches Forum, als Akademie der Selbstverständigungsprozesse zur Verfügung freier BürgerInnen existiert: ist das ein legitimes Ziel für die Studienreform? Dieses Ideal einer Kultur demokratischer Freiheit wäre nicht mehr exklusiv gegen die Gelehrtenkultur des „kognitiven Kerns“ des Feldes oder gegen die „Kultur der Erschöpfung“ der Berufsorientierten oder gegen die unternehmerische Kultur des akademisch-mondänen Managertyps durchzusetzen: das wäre ein unsinniges Exklusionsvorhaben. Aber eine deutliche Verteidigung gegen die anderen hier genannten Fraktionen, denen die Existenzberechtigung in der modernen Multiversity nicht mehr streitig gemacht wird, ist ein für die ‚un-bedingte‘ Hochschule anstehendes Projekt. Wer die Hochschulen noch als „Prägestätten des Habitus“ (N. Elias) auffasst und sie ganz überwiegend und in weiterhin steigendem Maße Effizienzorientierung, Selbst-Kommodifizierung und -Kommerzialisierung habitualisieren lassen will, wird jedenfalls kaum dazu beitragen, dass eine andere Welt wirklich möglich ist. Das war und ist seit den 60ern eher Sache derjeniger, die die Hochschule den „Gelehrten“ und das Gemeinwesen den Besitzenden streitig machen wollten – und von „ihrer Uni“ aus nach Definitionsmacht für sich selbst trachten. Nach den Prozessen halbierter Demokratisierungen des Hochschulsystems – und auch der Habitusformen, denn das Feld hat sich eben nicht hinreichend den an befreiender Bildung interessierten Milieus geöffnet – scheint mir der wichtigste Gegenentwurf zu den immer weiter gedeihenden Planungen unternehmerischer Universitäten ein neuer Bildungshedonismus zu sein, für den in institutionalisierender Absicht zu kämpfen wäre mit dem Ziel, Hochschulen als Prägestätten nonkonformistischer Habitusformen zu gestalten.

Anmerkungen

1) Vgl. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982; ders.: Der Staatsadel, Konstanz 2004

2) Vgl. M. Vester, P. von Oertzen, H. Geiling, T. Hermann & D. Müller: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M. 2001

3) Vgl. zusammenfassend T. Köhler, J. Gapski, M. Lähnemann: Von der alternativen zur konformistischen Revolution? In: U. Schimank, E. Stölting (Hrsg.): Die Krise der Universitäten. Leviathan Sonderheft, Opladen 2001, S.265-294

4) So die Zusammenfassung unserer Befunde in der letzten Shell-Studie: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie, Opladen 2002, S.19 und S.154.

5) M. Hartmann betont die eher geringen Effekte einer Privatisierung angesichts einer möglicherweise bevorstehenden Suspendierung der Kapazitätsverordnungen bei gleichzeitiger Einführung von Aufnahmeverfahren und Studiengebühren; vgl. ders.: Elitehochschulen – die soziale Selektion ist entscheidend, in: Prokla 137/2004, S.535-549.

6) Bei der problematisch-verallgemeinernden Rede von ‚den Frauen’ und ‚den Männern’ geht es zunächst um statistische Aggregate, die später weiter aufzuschlüsseln sind.

7) Vgl. W. Isserstedt, E. Middendorff, S. Weber, K. Schnitzer, A. Wolter: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003. 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, Bonn, Berlin 2004, S.104

8) Verweiblichung meint tatsächlich oft: Abwertung der Bildungspatente und entsprechender Positionen in den realativ stark von Frauen frequentierten Teilen der Berufsfelder. Verweiblichung wäre hingegen positiv vorstellbar als Annäherung der eher männlichen Lebensläufe und Haltungen an die traditionell eher weiblich konnotierten; vgl. bspw. N. Fraser: Nach dem Familienlohn. Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: dies.: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Frankfurt a.M. 2001, S.67-103

9) H. Simeaner, U. Döbele, T. Bargel: Datenalmanach. Studierendensurvey 1983-2001 nach Geschlecht (Hefte zur Bildungs- und Hochschulforschung 37), Konstanz 2002

10) Vgl. Isserstedt u.a. 2004, 90; zugespitzt bei Hartmann 2004, S. 546

11) T. Bargel: Lebensgefühle und Zukunftsperspektiven von Studierenden – Empirische Befunde studentischer Befragungen, Referat am 28.7.2000 [http://www.unikonstanz.de/FuF/SozWiss/…/hoc/vortraege/LebensgefuehlBerg2000.htm]

12) Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie, Opladen 2002, S.13-27

13) Ebd., S. 33

14) Einige der kläglichsten, aber nicht uninteressanten Kategorien der Werteforschung sind damit genannt.

15) vgl. Bourdieu 2004, S. 107f.

16) Vgl. zum folgenden etwas ausführlicher T. Köhler: Hochschulfeld, Studierendenmilieu und Protest, Sopos 9/2005, unter www.sopos.de


Dr. Thomas Köhler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er arbeitet am sozialwissenschaftlichen Institut der Stiftungsuniversität Hildesheim zu Kulturtheorie und Bildungssoziologie.

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