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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Hartz 3 und 4

15.12.2003: Das Ende der sozialen Absicherung bei Erwerbslosigkeit

  
 

Forum Wissenschaft 4/2003; Titelbild: E. Schmidt

Soll nun der erwerbslose Ingenieur etwa putzen gehen müssen, so die verschreckte Frage einzelner KritikerInnen der Agenda 2010 aus den Reihen der Regierungsfraktion. Die sozialen Folgen dessen, was unter dem Schlagwort "Hartz-Konzept" teilweise bereits verabschiedet, teilweise als Gesetzentwurf vorliegt, scheinen vielen noch nicht ganz klar zu sein - oder sie nehmen sie skrupellos zur Kenntnis. Anne Allex nimmt die aktuellen Vorhaben zur "Reform" des Arbeitsmarktes unter die Lupe und stellt einen massiven Abbau von Rechten und Leistungen für Erwerbslose und Beschäftigte fest.

Am 17. Oktober 2003 sollen das dritte und das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt im Bundestag beschlossen werden.1 Der Titel dieser Gesetze besagt genau so wenig wie "Hartz drei und vier", die dafür aber bisher zumindest dem Namen nach bekannt sind. Die deutschen Medien sind nicht willens darüber Bericht zu erstatten, was die Sozialreformen der Regierung Schröder im wesentlichen beinhalten, welche Veränderungen damit Einzug halten und wie diese politische Tendenz zu charakterisieren ist. Es reicht nicht, die Hetze der Bild mit einem aufgeklärtem Naserümpfen zu kommentieren. Die Medien haben bisher nur eine wichtige Mitteilung gebracht, nämlich die Chance eines Rücktritts von Schröder, falls er für seine Arbeitsmarktreformen keine eigene Mehrheit erhält.

Im Zentrum von Hartz 3 stehen die Neustrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit (BA), der Beschäftigungspolitik und der Leistung Arbeitslosengeld (ALG) im SGBIII. Hartz 4 regelt im neuen SGB II die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in die nicht sichernde und deshalb aktivierende Fürsorgeleistung ALGII. In der verfügbaren Länge dieses Beitrages wird eine Auswahl wesentlicher Veränderungen vorgestellt, wobei schon von jeder einzelnen dramatische Folgen auf Einkommen von Lohnabhängigen, Erwerbslosen und Lebensgemeinschaften ausgehen werden.

Die Regierung will "Reformen am Arbeitsmarkt" erreichen durch:

  • Höhere Verfolgungsintensität bei illegaler Beschäftigung2
  • Umstrukturierung der BA.3 Sie soll nicht mehr nach verlässlichen gesetzlichen Regelungen4 arbeiten, sondern soll durch so genannte Zielvereinbarungen zwischen BA und Bundesregierung gesteuert werden. Dem stehen noch die Rechtsansprüche der Versicherten entgegen. An ihre Stelle tritt ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den VermittlerInnen und den Arbeitslosen. Auf eineN VermittlerIn sollen 75 Erwerbslose kommen.5 Dieses Verhältnis soll durch Konzentration der BA auf das "Kerngeschäft Vermittlung" erreicht werden und durch eine Verringerung derjenigen, die unabwendbar noch zu vermitteln sind. Die Landesarbeitsämter bleiben zunächst als "Regionaldirektionen" erhalten und sollen die Einrichtung von "Job-Centern" unterstützen. Diese ehemaligen Arbeitsämter realisieren keine Rechtsansprüche mehr, sondern erbringen nach dem neuen merkantilen Verständnis eine Dienstleistung am Kunden.
  • Abschluss von "Eingliederungsvereinbarungen" mit "detaillierten Einzelfallregelungen" zur Kontrolle der Eigenbemühungen6 zwischen VermittlerInnen und Arbeitslosen, unter Androhung von Sanktionen.
  • Zusammenfassung und damit Streichung des weiten Spektrums arbeitsmarktpolitischer Instrumente, Erschließung "zusätzlicher" Beschäftigungen zur Wiedererlangung der "Beschäftigungsfähigkeit" Erwerbsloser bei begrenzter Aufnahmefähigkeit regionaler Arbeitsmärkte oder bei Vermittlungshemmnissen von Personen.7
  • "Aktivierende" Arbeitsmarktpolitik durch den Neuzuschnitt von Struktur- und Kurzarbeitergeld, Ausschluss der "Frühverrentung" Älterer.

Nach den Zielvorgaben der beschäftigungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union soll in Deutschland "Vollbeschäftigung" erreicht werden.8 Neu daran ist, dass nicht-sozialversicherte Tätigkeiten als Beschäftigung definiert werden. Ein Ziel dieser Leitlinien ist es, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abzubauen. Diese neue Form der Vollbeschäftigung sichert keine Existenz und muss bekämpft werden.

Obwohl eine riesige Steigerung der Arbeitsproduktivität in den 1990er Jahren objektiv die Möglichkeit einer generellen Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden mit vollem Lohn- und Personalausgleich bietet, geht die Bundesregierung andere Wege. Sinn der überwiegenden Anzahl ihrer Maßnahmen ist eine Verringerung der Anzahl der Erwerbslosen durch Abbau von Rechten und Leistungskürzungen.

Seit den 1990er Jahren hat dieses Herangehen Tradition. Schon die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe für Erwerbslose, die weniger als 12 Monate vor ihrer Kündigung gearbeitet hatten, hat die Statistiken frisiert. Im Zeitraum von Februar bis Juli diesen Jahres sank die Zahl der Erwerbslosen durch die Streichung der hypothetischen Arbeitslosenhilfe, des Erwerbstätigenfreibetrages bei PartnerInneneinkommen und durch neue Vermögensfreigrenzen (statt 520 Euro pro Lebensjahr nur noch 200 Euro) von 4,7 Mio. auf 4,25 Mio.9 Die Betroffenen existieren nun von Ersparnissen, Rückkauferträgen ihrer Lebensversicherungen oder leben auf Kosten ihrer PartnerInnen. Die Bundesregierung nennt diesen Erfolg "zukunftsorientierte Politik".10 Diese Politik ist reaktionär, da sie den Menschen die Altersvorsorge stiehlt, Familienbudgets schmälert, Altersarmut vergrößert, Lebensgemeinschaften durch Unterhaltsverpflichtungen zerstört und patriarchalische Abhängigkeiten neu begründet.

Mit solchen Mitteln würde die bundesdeutsche Arbeitslosigkeit statistisch im Jahr 2006 eine zu vernachlässigende Größe sein. Bereits ab 2004 würden allein "zwischen 400.000 und 1,2 Mio. Personen in Haushalten, in denen bisher Arbeitslosenhilfe (ALHI) oder Unterhaltsgeld im Anschluss an die ALHI bezogen wurde, keine Leistungen nach dem neuen System erhalten."11

Neue Zumutungen

Etliche "Aktivierungsmaßnahmen" verschärfen den stummen Zwang der Verhältnisse zur Annahme ganz niedrig bezahlter Jobs oder sind Arbeitspflicht-Maßnahmen. Die Parole "Fordern und Fördern" ist nichts anderes als Repression gegen Erwerbslose, denn "Fordern" ist mit Entrechtung (z.B. keine Kontraktfreiheit) und derben Sanktionen belegt. "Gefördert" wird in Minijobs und Arbeitsgelegenheiten. Objektiver Natur und "an sich" schon Repression ist die Tatsache, dass der "doppelt freie Lohnarbeiter" im weitesten Sinne unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen ökonomisch davon abhängig ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Die Regierung verstärkt mit dem Gesellschaftsentwurf der "Chancengerechtigkeit" und dem Sachzwangpostulat diese objektive Unfreiheit der Klasse von Lohnabhängigen durch Kontrolle und Überwachung.12

Viel mehr Menschen könnten qualifizierter Arbeit nachgehen, wenn öffentliche Aufgaben erledigt würden. Das liegt nicht im Kapitalinteresse. Denn die Produkte und Ergebnisse von Tätigkeiten, die beispielsweise soziale Entwicklungen oder Naturschutz zum Ziel haben, lassen sich nicht privat aneignen. Öffentliche Tätigkeiten können in Konkurrenz zu privaten Unternehmungen treten. Schröder folgt der Demagogie der Arbeitgeberverbände, dass Arbeitsplätze nur in der Wirtschaft entstünden und der zweite Arbeitsmarkt überflüssig sei. Die Regierung kommt diesem Interesse mit vereinfachten wirtschaftsfreundlichen Arbeitsförderinstrumenten nach:13 In den Landesarbeitsämtern entschieden Selbstverwaltungsausschüsse, in denen Arbeitnehmervertretung, Arbeitgeber und das Arbeitsamt vertreten waren, über die Steuerung der Arbeitsfördermaßnahmen. Dies tun nun die Landesarbeitsämter selbst. Die Ausschüsse werden nur noch informiert, ihre Zustimmung ist nicht mehr erforderlich. Stattdessen steht ihnen nur noch ein Widerspruchsrecht zu. Die ArbeitnehmervertreterInnen sind damit von der Mitbestimmung über die Fördermittel ausgeschlossen.

Eingliederungszuschüsse für Ältere, Schwervermittelbare, Jugendliche und Einarbeitung werden zu einem Eingliederungszuschuss für ArbeitnehmerInnen mit Vermittlungshemmnissen zusammengefasst (§§217-220). Das trägt den Spezifika der Gruppen nicht mehr Rechnung. Diese Ermessensleistung gibt es künftig für bis zu 12 Monate; u.U. für ältere Menschen über einen Zeitraum von bis zu 36 Monaten (bis 2009). Den Eingliederungszuschuss für Schwerbehinderte gibt es nur bis zu 24 Monaten. Auch das radikale Zusammenstreichen der Fördermittel für soziale Einrichtungen (Schuldnerberatung, Obdachlosenbetreuung, Frauenhäuser etc.) in Hessen folgt dieser Entwicklung. ABM (§260 Abs.1 Nr.2 neu SGBIII) sollen zwar weiterhin zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten beinhalten, doch nur dann, wenn keine Beeinträchtigung der Wirtschaft eintritt.

ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen sollen zur neuen ABM zusammengefasst werden. Statt Bedarfe der Kultur, des Sports, der Denkmalpflege, der Jugend- und Sozialarbeit abzudecken, sollen "Problemschwerpunkte der regionalen und Teilarbeitsmärkte" bezuschusst werden. Der Kreis der zusätzlichen Arbeiten wird in §261 SGBIII erweitert um Fördertatbestände, die ungefördert "nicht in diesem Umfang" möglich wären: "notwendige Finanzierung der Arbeitsassistenz für schwerbehinderte Menschen" (§270a), "Bewältigung von Naturkatastrophen"14 und Maßnahmen "zur Erhaltung und Verbesserung der Umwelt" nach den in §279a vorrangigen Vergabemaßnahmen für die Infrastrukturförderung. Die Förderung wird so auf körperlich schwere und gesundheitsbeeinträchtigende "Notstandstätigkeiten" neu justiert. Privatwirtschaft und öffentliche Kassen zahlen ungern dafür, da diese Arbeiten aus Sicht der Kapitalverwertung unproduktiv sind. Dies belegt auch der Umgang mit den betreffenden Arbeitskräften, denn ausschließlich "Arbeitslose ohne Chancen am Arbeitsmarkt" sollen zur "Erhaltung resp. Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit" gefördert werden. Die Geringschätzung dieser Arbeit zeigt sich in der Freistellung der ABM von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen.

Grundrechte nur nach Vereinbarung

In den 1990er Jahren war die Zumutbarkeit der Arbeit noch an Qualifikationsstufen gebunden. Seit 1998 galten alle Arbeitsangebote des Arbeitsamtes nach SGBIII als zumutbar, deren Nettoarbeitsentgelt nicht unter dem ALG oder der ALHI lagen. Mit der wegfallenden ALHI und dem neuen Arbeitslosengeld II (ALGII) sollen im SGBII nunmehr die wesentlich niedrigeren Zumutbarkeitskriterien gleichermaßen für ehemalige EmpfängerInnen von ALHI und Sozialhilfe gelten.

Der Entwurf des SGBII erklärt in §10 nun für erwerbsfähige Hilfebedürftige jede Arbeit als zumutbar, zu der sie körperlich und geistig in der Lage sind, "außer, wenn die Ausübung der Arbeit ihnen die künftige Ausübung der bisherigen überwiegenden Arbeit erschwert, weil die bisherige Tätigkeit besondere körperliche Anforderungen stellt, wenn sie mit der Kindererziehung bzw. der Pflege von Angehörigen unvereinbar ist oder ihr nicht ein anderer wichtiger Grund entgegensteht." Eine Arbeit soll auch zumutbar sein, wenn sie einer früheren beruflichen Tätigkeit nicht entspricht und sie geringwertiger ist als die Ausbildung. Zumutbar ist auch, dass der Arbeitsort vom Wohnort weiter entfernt ist und die Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als vorher. Das gilt auch für die Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen in Arbeit.

Solche Vorschriften schaffen die Voraussetzungen für eine Entsicherung von Erwerbsarbeit für Beschäftigte und Erwerbslose auf breiter Front. Über Mini-Job und ALGII hinaus soll es kein Recht mehr auf eine ergänzende Sozialhilfe bei besonderer Bedürftigkeit (§5 Abs.2 SGBII) geben. Bisherige Hilfen des SGBIII und BSHG sollen im SGBII zu Eingliederungsmaßnahmen in Arbeit (§16 SGBII) zusammenfließen. Nach dem Grundsatz "Fordern und Fördern" sind sie nunmehr vorrangige Leistungen (§3 Abs.3 SGBII). Erst wenn erwerbsfähige Hilfebedürftige die Maßnahmen akzeptieren, können sie passive Leistungen (ALGII) zur Sicherung des Lebensunterhaltes erhalten. Sie haben keinen Rechtsanspruch darauf und verlieren ihre wehrfähige Position. Dieses Existenzminimum gibt es nur gegen Gegenleistung, es ist nicht mehr voraussetzungsloses Grund- und Menschenrecht.

Die BA soll mit jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die für seine Eingliederung erforderlichen Leistungen in einer jeweils sechs Monate geltenden Eingliederungsvereinbarung festlegen (§15 SGBII). Die Vereinbarung enthält Eingliederungsleistungen in Arbeit, Mindestmaß und Häufigkeit von Bemühungen und ihre Nachweisform. Sie kann auch durch Verwaltungsakt festgelegt werden. Nach Vermittlerermessen werden Leistungen für Personen der Bedarfsgemeinschaft in den Vertrag aufgenommen.

Die Agentur für Arbeit soll persönliche Ansprechpartner für jede/n erwerbsfähige/n Hilfebedürftigen und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden nach §§14, 38 SGBII benennen. Der bzw. die "Bevollmächtigte" (voraussichtlich der Mann) legt dann "in Vollmacht" für die anderen erwerbstätigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (Familie, Ehe oder WG) deren "zumutbare" Tätigkeiten fest und erhält das zweifelhafte "Recht" über die Pflichten der anderen zu entscheiden. Kurz gesagt: Die Behörde erhält das Recht, sich das kooperationswilligste Mitglied der "Sippe" als VertragspartnerIn zu wählen. Die dann in Aussicht gestellten Kann-Leistungen zur Eingliederung in Arbeit sind zum Beispiel Berufsbildungsbeihilfen, ABM und Einsatz in Personalserviceagenturen nach SGBIII.15 Dazu können die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder, die häusliche Pflege von Angehörigen, die Schuldnerberatung, die psychosoziale Betreuung, die Suchtberatung gehören und die Übernahme von Mietschulden als Darlehen, aber nur dann, wenn der drohende Verlust der Wohnung die Aufnahme einer konkret in Aussicht stehenden Beschäftigung verhindern würde. Dem Ermessen der FallmanagerInnen anheim gestellt, sollen auch geförderte Gelegenheitsarbeiten im öffentlichen Interesse zum ALGII plus Mehraufwandsentschädigung sein. Sie sind keine Arbeitsverhältnisse im Sinne des Arbeitsrechts, aber den Gesetzen zum Arbeitsschutz und zum Urlaub unterworfen.

Was sich wohlmeinend fürsorglich und betreuend anhört, wandelt sich, angesiedelt bei einer privatrechtlichen Behörde und einem sanktionsbewährten Kontrahierungszwang, in höchste Kontrolle von Privatangelegenheiten.

Neue Stütze

Oben wurde schlaglichtartig der geplante Abbau sozialer Rechte und die Ausweitung sozialversicherungsfreier Erwerbsarbeit ausgeleuchtet. Zu den Elementen von Hartz 3 und 4 gehören weitere Elemente wie z. B. die "Skelettierung" des klassischen Arbeitslosengeldes (ALG).

Zukünftig sollen weniger Menschen ALG erhalten. Die Bezugsdauer wird erheblich gekürzt. Viele werden ihre bisherigen Ansprüche nicht mehr einlösen können oder keinen Zugang zum ALG finden. Für den ALG-Anspruch gilt nur eine einheitliche Anwartschaftszeit von zwölf Monaten (§123), Sonderregelungen einer sechsmonatigen Anwartschaftszeit für Saisonarbeitskräfte entfallen (§§26, 123 neu). Die Rahmenfrist für den ALG-Bezug wird von derzeit drei auf zwei Jahre abgesenkt. Erwerbslose erhalten nur 12 Monate ALG bis zu ihrem 55. Lebensjahr,16 Ältere nach 36 Monaten versicherungspflichtiger Beschäftigung maximal 18 Monate. Diese Rahmenfristenregelung nimmt allen nicht durchgehend Beschäftigten in Kultur, Medien, Kultur, Sport und Wissenschaft die Möglichkeit zur Ansammlung ausreichender Anspruchszeiten. Verlängerte Rahmenfristen für Zeiten des Bezuges von Unterhalts- oder Übergangsgeld, für Zeiten selbstständiger Tätigkeit sowie Pflegezeiten von Angehörigen entfallen (§124 neu SGBIII). Wehr- und Zivildienstleistende, Pflegende, Existenzgründende und sich vorübergehend im Ausland befindliche Beschäftigte müssen sich privat versichern.

ALG soll es nach §130 Abs.1 nur für "typische" Arbeitsverhältnisse geben, für "atypische" Beschäftigungen wie Kindererziehung (§28a neu) soll keine ALG-Berechnung (§130 Abs.2) nach SGBIII erfolgen. Ein schnellerer Rausschmiss aus der Arbeitslosenversicherung ist aber garantiert. Sperrzeiten wegen der Aufgabe der Arbeit oder eines Meldeversäumnisses sollen zum Erlöschen des Leistungsanspruches führen. Nach §119 neu gelten bei einer Arbeitszeit von mehr als 15 Stunden selbstständig Nebentätige und mithelfende Familienangehörige nicht mehr als beschäftigungslos.

Bei ABM entsteht kein Neuanspruch auf ALG.17 Obgleich ältere Menschen bis zu drei Jahre ABM-Förderung erhalten können, gelangen sie u.U. nur mit ALGII bis zur Rente. Das neue Strukturkurzarbeitergeld und die Zuschüsse zu Sozialplanmaßnahmen zu Transfermaßnahmen (§216 neu SGBIII) sollen zwar der Überleitung in neue Arbeitsverhältnisse dienen, aber "eine Frühverrentung ausschließen." Denn ältere ArbeitnehmerInnen sollen "nicht zu Lasten der Versichertengemeinschaft in einer längeren Nichterwerbsphase finanziert werden."18 Vereinfachte Lohnberechnung und verbindliche Insolvenzsicherung der Altersteilzeitleistung soll kleine und mittlere Unternehmen interessieren. Zu Beginn der Förderung soll nur einmalig ein Bemessungsentgelt für den Gesamtzeitraum und für die Ermittlung des Aufstockungsbetrages festgelegt werden. Die Teilhabe an Tariferhöhungen ist dann ausgeschlossen. Die an Tarifregelungen gekoppelte gesetzliche Vorschrift der Altersteilzeit soll entfallen, nach der die bisherige Arbeitszeit auch bei nicht tarifgebundenen ArbeitnehmerInnen auf die Hälfte der betrieblichen Arbeitszeit zu reduzieren ist. Diese AltersteilzeitlerInnen werden dann evtl. ihre alte Arbeit für eine kleine Pauschale leisten. Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für nichttarifgebundene Unternehmen wird für die Altersteilzeit aufgehoben.

Die Pflicht zur Arbeitslosenversicherung wird also gelockert. Die Ausgaben der BA für das ALG sinken in Höhe und Dauer. Der Anteil des steuerfinanzierten ALGII an den Gesamtausgaben wächst. Aus der Arbeitslosenversicherung wird eine neue Form der steuerfinanzierten staatlichen Unterstützung, die das Kapital von der Mitfinanzierung der sozialen Folgen ihrer Unternehmungen entlastet. Der angestrebte Bedeutungsverlust dieser Sozialversicherung wird sichtbar in der Vorschrift, die Mitteilungspflicht von freien Stellen der Unternehmen an die BA (§39 SGBIII) zu lockern. Die Konzentration der BA auf das "Kerngeschäft Vermittlung" ist weniger ernst gemeint als zunächst behauptet.

Weitere Schritte zur Zerstörung dieser Versicherung sind die neuen ABM, ihre wesentliche Verringerung im Westen, aber auch die "vorrangigen" Vergabemaßnahmen für die Infrastruktur nach §279a, z.B. für die Bereiche Wasser/Abwasser, Gas, Kultur usw. Letztere bieten kaum Fördermöglichkeiten, da ehemalige öffentlich-rechtliche Träger überwiegend privatisiert sind. Stagnierende Aufwendungen für ABM erklären sich aus ihrer pauschalen Förderung (nach Qualifikationsstufen gestaffelt), die die Höhe von Tariflöhnen vergleichbar dem öffentlichen Dienst längst nicht mehr erreichen. Das ermuntert Arbeitgeber zum weiteren Drücken der Löhne im ersten Arbeitsmarkt. ABM werden gem. §27 SGBIII von der Versicherungspflicht der BA freigestellt. So entstehen keine neuen Einnahmen in die Arbeitslosenversicherung. Beitragsorientierte Leistungen verringern sich durch die Weiterbildungsförderung, da nur Erwerbslose mit 70%iger Einstellungschance gefördert werden. Auch nachrangige ABM gemäß §269 SGBIII sparen Arbeitsförderung: Arbeitskräfte können aus einer langfristigen ABM in einer kurzfristige Arbeit im so genannten ersten Arbeitsmarkt abberufen werden.

Bereits seit dem 1.1.03 leisten die Firmen keinen Beitrag mehr zur Arbeitslosenversicherung, wenn sie 55-Jährige neu einstellen. Zur Auflösung dieser Versicherung gehören die Abschaffung des Unterhaltsgeldes für Weiterbildung (§§77, 78, 117 SGBIII) und die Transformation des ALG-Anspruches von einer Tatsachen- in eine Willenserklärung (§118 Abs.2 SGBIII) zur Beeinflussung des Termins der Anspruchsentstehung. Weiter sind es die Zumutbarkeit der Vermittlung in Teilzeit nach §120 Abs.4 und die Trends, Erwerbslose in fast jede Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Im SGBII werden LeistungsbezieherInnen kranken-, pflege- und rentenversichert, aber nur auf Mindestbeitragsbasis.

Das Geld der Sippe

Im Jahr 2003 leben 2,76 Mio. Menschen von Sozialhilfe, seit Mai 2003 mindestens 2 Mio. von Arbeitslosenhilfe. Für diese Menschen wird das ALGII als neue Leistung kreiert, die sie angeblich zur Aufnahme jeder Tätigkeit "aktivieren" soll. Dies gilt für Erwerbsfähige, die nicht fähig sind, sich selbst aus Erwerbstätigkeit, Einkommen, Vermögen, anderen Sozialleistungen, Versicherungsansprüchen und Unterhaltsansprüchen zu erhalten. Sie und die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Nichterwerbsfähigen müssen nach §2 SGBII vorrangig alle Möglichkeiten zur Beendigung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Denn "jeder Mensch soll grundsätzlich selbst dafür verantwortlich sein, seinen Bedarf und den Bedarf seiner Angehörigen zu sichern. Nur soweit er dazu nicht in der Lage ist, hat der Staat die entsprechende Verantwortung"19 ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen und den Lebensunterhalt zu sichern. Die aufwendigen "Kosten für die Arbeitssuche"20 werden aber nicht gesondert abgegolten.21 Betroffene haben für eine intensive Arbeitssuche gar keine finanziellen Mittel zur Verfügung.

Gemeinsames Leben ist billiger. Für gewöhnlich überwiegen wirtschaftliche Gründe bei der Eheschließung. Unstrittig sind sie bei der Gründung einer Wohngemeinschaft. Der SGBII-Entwurf fasst all diese Lebensformen einheitlich als Bedarfsgemeinschaft zusammen. Anspruchsberechtigt für SGBII-Leistungen sind alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und ihre Angehörigen, die bis zu drei Stunden täglich erwerbstätig sein können (§7 SGBII), Personen, die mit Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, die dem Haushalt angehörigen minderjährigen, unverheirateten Kinder (PartnerInnen, Kinder, Mitwohnende).

Kommen aber die Erwerbsfähigen etwaigen Auflagen der Agentur für Arbeit nicht nach, dann werden Abhängige und Kinder mitbestraft, da sie keinen unabhängigen Rechtsanspruch auf Leistungen (Sozialgeld) mehr haben sollen.22 Die Agenturen für Arbeit sollen nach §31 Abs.2 S.4 in solchen Fällen minderjährigen SozialgeldempfängerInnen ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewähren können.23 Dieses Ermessen liegt bei den FallmanagerInnen, ist abhängig vom Budget und seiner bzw. ihrer Laune. Der Zwangscharakter des ALGII führt zur "Sippenhaftung" in der Bedarfsgemeinschaft. Die familiären Abhängigkeiten werden nach §33 Abs.1 mit den Unterhaltsverpflichtungen von Eltern und Kindern erweitert. Andere Familienangehörige trifft die Pflicht u.U. nach §33 Abs.2 nur dann, wenn sie in der Bedarfsgemeinschaft leben.

Zum ALGII gehören Regelleistungen, Mehrbedarfe sowie "angemessene Wohn- und Heizkosten." Die Regelleistung (RL) nach §20 umfasst Mittel für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens, in vertretbarem Umfang Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben und beträgt für alleinstehende oder alleinerziehende Personen im Westen inkl. Berlin (Ost) 345 Euro, im Osten 331 Euro im Monat. Zwei Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft nach Vollendung des 18.Lebensjahres erhalten jeweils 90% der RL, sonstige erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft erhalten 80% der RL. Kinder zwischen 14 und 17 Jahren erhalten Sozialgeld unterhalb der Sozialhilfe. In den RL sind Pauschalen von rund 46Euro für einmalige Leistungen, z.B. für Elektrogeräte, Möbel, Bekleidung enthalten, die bisher einzeln beantragt werden konnten. Wenn nach §23 SGBII ein unabweisbarer Bedarf nicht allein gedeckt werden kann, wird er als Sach- oder Gelddarlehen erbracht und in den Folgemonaten mit bis zu 10% auf die RL angerechnet. Nur außergewöhnliche Sonderbedarfe (wie z.B. Wohnungsbrand ) sind durch die neue Sozialhilfe zu decken.

Für Unterkunft und Heizung sollen angemessene Kosten übernommen werden. Der Bundeswirtschaftsminister soll ermächtigt werden, die Höhe und die Voraussetzungen für eine Pauschalierung ohne Zustimmung des Bundesrates festzulegen (§27 Nr.1). Roland Kochs hessisches Existenzgrundlagengesetz will sofort die generelle Pauschalierung. Bei einem beabsichtigten Wohnungswechsel soll vorher die Zustimmung der Agentur für Arbeit zu Miethöhe, Wohnungsgröße, Kaution, Maklergebühren und Umzugskosten eingeholt werden müssen.

Erwerbsfähigen Hilfebedürftigen soll die RL für drei Monate um 30% gekürzt werden können, wenn sie eine Maßnahme verweigern oder abbrechen, oder sie der Vorwurf mangelnder Eigenbemühungen trifft. Melde- und Terminversäumnissen sollen eine Kürzung von 10% für drei Monate nach sich ziehen. Die Kürzungen können bei Wiederholung sogar addiert werden. Greifen mehrfach Sanktionen, dann sind erwerbsfähige Hilfebedürftige u.U. gar nicht mehr abgesichert. Jugendlichen und den bis zu 25-Jährigen soll die Leistungen für drei Monate nach §31 Abs.4 auch gänzlich gestrichen werden können. Solche Sanktionen sind schon heute Ursache dafür, dass viele Jugendliche obdachlos sind.

ALGII ist eine Leistung unterhalb des Sozialhilfeniveaus, die vorrangig die Annahme fast jeder Arbeit vom erwerbsfähigen Hilfebedürftigen verlangt. Das ALGII ist ein trojanisches Pferd, weil dadurch die neue Sozialhilfe gekürzt wird, die im Windschatten von Hartz 3 und 4 derzeit im SGB XII neu geregelt wird.24

Ausblick

Diese Entwicklung kann nicht mehr als "Privatisierung von Risiken" charakterisiert werden; es muss von Entsicherung gesprochen werden. Entsicherte Arbeit ist die Zukunft. Die in den Gesetzen vorgesehenen Maßnahmen beschleunigen diesen Entsicherungsprozess. Eine Privatversicherung gegen Erwerbslosigkeit können viele Menschen nicht aufbringen. Für Erwerbslosigkeit, Krankheit und Alter kann es überhaupt keinen breiten Weg der privaten Vorsorge für die Massen geben. Schon die Riester-Rente ist ein Ladenhüter in den Regalen der Versicherungsunternehmen. Die Masse weiß ihren Arbeitsplatz und damit ihr zukünftiges Einkommen gefährdet und kann aus dieser einfachen Erwägung heraus solche Prämien nicht aufbringen. Postulate der PolitikerInnen und der Versicherungswirtschaft über die Alternative einer privater Arbeitslosenversicherung sind daher nichts als Phantastereien. Private Sozialversicherungen sind notwendigerweise zu einem nicht unbedeutenden Teil kapitalgedeckt. Im konjunkturellen Abschwung entwerten sich diese Einlagen, die dann flüssig gemacht werden müssten, ebenfalls. Es ist dieser Tage oft von einer drohenden "Privatisierung des Risikos der Arbeitslosigkeit" zu lesen. Richtiger ist es, von Entsicherung zu sprechen. Kurz gesagt: Diese Regierung entfernt soziale Sicherungen.

Anmerkungen

1) Gesetzentwürfe der Bundesregierung zum Entwurf eines Dritten und eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BMWA, 25.07.2003, 13.08.2003, Drucksachen 15/1515, 15/1516

2) Ebenda, S.9

3) Eckpunkte zu einem dritten und vierten Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, 26. 6.2003, S.1

4) Gesetzentwurf a.a.O., 25.7.2003, Begründung Allgemeiner Teil, S.10

5) Ebenda, S.11

6) Ebenda, S.33/34

7) Ebenda, S.12

8) Eckpunkte a.a.O.,26.6.2003, S.2

9) www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/detail/l.html

10) ARD-Tagesschau, 7.7.2003

11) Kaltenborn, B.: Zusammenlegung von ALHI und Sozialhilfe, Wirtschaftsdienst 2003, 5, S.299

12) Spindler, H.: "Überfordern und überwachen". In: Sozial/ Extra 8/9 2003. S.11-14

13) Eckpunkte, a.a.O., S.17

14) Gewöhnliche Naturereignisse wie Gewitter, Hagel, Schlechtwetterperioden fallen nur unter Naturkatastrophen, wenn diese wegen besonderer geographischer und klimatischer Verhältnisse zu besonders schweren Folgen führen. Sonstige außergewöhnliche Ereignisse können z.B. Terroranschläge sein. Dies korrespondiert mit Artikel 87 Abs. 2 Buchst. b des EU-Vertrages und des EU-Gründungsvertrages. Beihilfen zur Beseitigung von Schäden durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse sind mit dem gemeinsamen Markt vereinbar.

15) Nach §16 SGBII sind alle im SGBIII in 3.Kap., 4.Kap., Abschnitt 1-7, 5.Kap. Abschnitt 1-2, 6. ap. Abschnitte 1,5,7 und die in §§417, 421g , 421i und 421k des §8, §41 (3) Satz 4, §57 (4) Satz 1, 2 (Überbrückungsgeld bei ALHI), das Einstiegsgeld nach §29, Leistungen nach dem Altersteilzeitgesetz geregelten Leistungen für das SGBII gültig.

16) Der neue Bemessungszeitraum und die ALG-Bezugsdauer im §127 Abs.1, 2 SGBIII wurde am 25.9.2003 im Deutschen Bundestag als "Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt" beschlossen.

17) Gesetzentwurf, a.a.O., 25.07.2003, S.233

18) Ebenda, S.19

19) Eckpunkte a.a.O., S.23

20) Siehe dazu Behrens, info also 2001, 78.

21) Die BAG-SHI schlägt im Eckpunktepapier zur Agenda 2010 einen Arbeitssuchenden-Mehrbedarf von 10% der RL vor.

22) "Entfällt (…) bereits die Hilfebedürftigkeit des erwerbsfähigen, vernichtet dies unmittelbar den Anspruch der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auf Sozialgeld." So Uwe Berlit, Richter am Bundessozialgericht, in info also Heft 5/2003: Vorabdruck "Zusammenlegung von ALHI und Sozialhilfe."

23) Vgl. Viertes Gesetz a.a.O., 13.8.2003, S.141

24) Vgl. Beitrag von E.Biehn, F. Jäger in diesem Heft.


Anne Allex ist Maschinenbauerin, Ökonomin und Mitglied im Bundesvorstand des BdWi

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