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Klaus Holzkamp

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Des Kaisers neue Kleider

01.10.2016: Über Erfolgssimulation, kontraproduktive Ausleseprozesse und Wissenschaftslenkung

  
 

Forum Wissenschaft 3/2016; Foto: Arbeitsstelle Forschungstransfer (Eigenes Werk) CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Die Geschlechterforschungseinrichtungen der Berliner Universitäten haben 2016 neue Kooperationsprojekte gestartet. Damit soll der Open-Access-Ansatz gestärkt und es sollen die Möglichkeiten zur Publikation von Forschungsergebnissen verbessert werden. Doch diese Zentralisierungstendenzen sind nicht unproblematisch, findet Sabine Koloch, und beschreibt, warum sie sich als Literaturwissenschaftlerin und speziell als frauenorientiert forschende Frühneuzeitlerin an den BdWi wendet.1

Die Open-Access-Bewegung ist auch in der Frauen- und Geschlechterforschung angekommen. Die Geschlechterforschungseinrichtungen von drei Berliner Universitäten realisieren seit 2016 zwei Open-Access-Projekte, ein "Megajournal zur Geschlechterforschung" und ein DFG-gefördertes "Repositorium für die Geschlechterforschung". Die konzeptionell federführenden Projektverantwortlichen gehören folgenden Einrichtungen an:

  • Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung der FU Berlin (vormals Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung)
  • Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der HU Berlin

  • Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin
  • Die geplanten Plattformvorhaben tragen die Handschrift der Projektrealisierenden: Man schwört auf "disziplinenübergreifende" Konzeptionen und einigt sich auf Schlüsselbegriffe, die scheinbar für sich sprechen: Modernisierung, Internationalität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Wie überzeugend sind die öffentlich zugänglichen Kurzbeschreibungen dieser Projekte? Wer zieht daraus am Ende des Tages welchen Nutzen? Wie wichtig sind für Fachwissenschaftler_innen "disziplinenübergreifende" Plattformen? Wann werden Open-Access-Projekte zu Instrumenten der Selektion, der Wissenschaftslenkung und der Fehlinvestition?

    Als quellenintensiv forschende Literaturwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Frühe Neuzeit (1500-1800) und Frauen- und Geschlechterforschung ziehe ich bezogen auf das Periodikum Querelles, das mit dem geplanten "Megajournal zur Geschlechterforschung" zusammengeführt werden soll, zuerst eine vorläufige Bilanz, beleuchte nachfolgend in aufklärerischer Absicht einige Kehrseiten der im Aufbau befindlichen Community-Projekte und gehe abschließend ins Grundsätzliche. (siehe Abb.)

    Vom Jahrbuch zur Fachzeitschrift

    Das angekündigte "Megajournal zur Geschlechterforschung"2 soll das von der DFG in den Jahren 2000-2001 und 2011-2013 im Programm "Publikationsbeihilfe für Zeitschriften" geförderte disziplinenübergreifende Periodikum Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung in sich aufnehmen (= QJB) (Abb. 1). Die Printfassung von QJB (1996-2010) wurde wegen der mehrdeutigen Bezeichnung "Jahrbuch" von so gut wie niemandem als das wahrgenommen, was sie war: eine Buchreihe, bestehend aus Sammelbänden. Da QJB bis 2010 keinen offenen Publikationsbereich hatte, richtete man im QJB-Ergänzungsprojekt querelles-net (seit 2000), einer Rezensionszeitschrift(!), eine Rubrik für Aufsätze ein, "Forum" genannt. Die thematisch wechselnden Jahrgangsbände von QJB wurden nicht, wie bei wissenschaftlichen Buchreihen sonst üblich, Qualitätsprüfungen unterzogen, vorgenommen von einem eigens dafür eingesetzten unabhängigen Herausgabegremium. Erst durch die Umschaltung auf Open Access 2011 wurde aus dem "Jahrbuch" eine Fachzeitschrift im landläufigeren Sinne. Ein Integrationsmedium für die disziplinär verankerte Frauen- und Geschlechterforschung in ganz Deutschland oder ein wissenschaftlicher Innovationsleuchtturm mit weltweiter Ausstrahlung war die über den Buchhandel verkaufte Buchreihe im Ganzen betrachtet sicherlich nicht. Vorderhand kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass QJB sich schon vor der Umstellung auf ein Open-Access-Journal im Jahr 2011 auf dem Buchmarkt immer weniger behaupten konnte und daher verlegerisch nicht mehr den erhofften Erwartungen entsprach.

    Enttäuschenderweise ging die elektronische Fassung von QJB mit meinen Bedürfnissen nicht zusammen: Die gewählte DTP-Satzgestaltung erwies sich für quellen-, fußnoten- und abbildungsreiche Beiträge als ganz ungeeignet. Der von der zweiköpfigen Redaktion zu verantwortende Gestaltungswille erinnert mich an den Versuch, Wissenschaft und Wissenschafts- und Kulturjournalismus einander anzunähern und dadurch zur Entwissenschaftlichung der kulturellen Errungenschaft Wissenschaft beizutragen. Dergestalt fand schon auf der Ebene der redaktionellen Vorentscheidungen ein Selektionsprozess statt. Dieser steht in auffallendem Widerspruch zum anvisierten Ziel des Arbeitsbereichs Publikationsförderung am Margherita-von-Brentano-Zentrum, die "Vernetzung und Kommunikation innerhalb der interdisziplinären Community" zu verbessern. Es gilt zu beobachten, in welchem Geist und Gewand sich das geplante Megajournal präsentieren und wie es sich in der Praxis bewähren wird.

    Mangelnde Publikationsmöglichkeiten

    Der deutschen Literaturwissenschaft, dem Fach, dem ich angehöre und für das ich eintrete, fehlt es aus meiner Warte in besorgniserregender Weise an der netzbasierten Sichtbarmachung seiner originären Forschungsleistungen gegenüber der eigenen Community und gegenüber anderen Disziplinen. Wir verfügen nicht einmal über ein integrations- und kommunikationsförderndes Fachportal, das diesen Namen verdient - Germanistik im Netz (GiN), auch Virtuelle Fachbibliothek Germanistik genannt, ist von seiner Kernfunktion her eine von der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg auf die Beine gestellte Metasuchmaschine und somit ein wissenschaftliches Arbeitsmittel. Die Nutzungsfunktionen von GiN wurden unter anderem durch die Einrichtung von GiNDok (2008 freigeschaltet) erweitert, einem DINI-zertifizierten Open-Access-Repositorium für die Germanistik, über das ich keine Aussage machen kann, weil die gehosteten Inhalte nicht durch ein Überblick gebendes Register erschlossen sind.

    Hinzu tritt, dass es zur germanistisch-literaturwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung schon übermäßig lang keine deutschsprachige Print- oder E-Fachzeitschrift mehr gibt, bei der unaufgeforderte Einreichungen möglich sind. Und das obwohl neben Publikationen, die das Wort "Gender"3 im Titel führen, auch der Strom frauenfokussierter und geschlechtervergleichender Veröffentlichungen nicht abreißt. Für mich ist diese Lücke von großem Nachteil.

    Dürfte ich allgemeine Leitlinien für eine Fachzeitschrift, die mir bezogen auf meine Forschungsschwerpunkte bedarfsgerecht und zeitgemäß erschiene, aufstellen, so lautete meine Antwort: Eine Fachzeitschrift hat dem Forschungsfortschritt und den Nutzer_innen zu dienen, ob Print oder online. Sie hat allen zu wissenschaftlicher Innovation Befähigten ohne Ansehen der Person jederzeit und in gleicher Weise offen zu stehen. Redaktionsmitglieder und potentielle bzw. akzeptierte Beiträger_innen haben sich ebenbürtig, ehrlich, verlässlich und konstruktiv zu begegnen. Die auf redaktioneller Ebene eingeführten Selbstkontrollmechanismen haben in alle Richtungen zu greifen, das heißt Verstößen gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis ist mit der gleichen Sorgfalt und Entschiedenheit entgegenzutreten wie Eigennutz, Privilegienwirtschaft, Interessenvermengung und Willkür in den eigenen Reihen oder auf gutachterlicher Seite. Redaktionsmitglieder haben sich dem lebendigen Dialog zu stellen, was auch die Pflicht einschließt, begründete Kritik an der redaktionellen Arbeit zuzulassen, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen und besonnen und empathisch darauf zu reagieren. Fachzeitschriften sollten aus Gründen der Chancengleichheit zumindest dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein Lektorat bieten. Statt Hierarchien auszuspielen sollten Mut zum Risiko, zu unabhängigem Denken, zum Ausbau von vorhandenen Stärken und zu einem eigenen Stil ebenso gefördert werden wie akribische Quellenarbeit, gründliche Forschungsüberblicke und Experimentierfreudigkeit. Um in dieser Hinsicht produktive Arbeit leisten zu können, ist eine wertemäßige Grundhaltung vonnöten, die für die einzelne Person, die Scientific Community und für die Allgemeinheit das Beste will.

    Die Vielfalt, die durch Fachkulturen entsteht und die die Grundlage für Interdisziplinarität bildet, fördert Innovation und diese fördert wiederum Vielfalt; es handelt sich hierbei um einen sich selbst verstärkenden Prozess. Fachdisziplinen erfüllen im Rahmen der Selbstkontrolle von Wissenschaft und unter forschungspolitischen Gesichtspunkten eine wichtige Funktion, da nur eine Fachgemeinschaft ihre eigene Innovationsproduktion überblicken und die Belange und Interessen derjenigen, die an diesem enormen Kraftakt beteiligt sind, wahrnehmen und nach innen und außen vertreten kann. Außerdem sind nicht nur der disziplinenübergreifende und der internationale Austausch sowie der globale Forschungsblickwinkel Werte an sich, sondern auch der fachinterne Austausch und die lokale, regionale und nationale Forschungsperspektive.

    Problematische Zentralisierung

    Zentralisierung und Modernisierung gingen in der Geschichte schon häufiger mit zu Bedenken Anlass gebenden Entscheidungen und Entwicklungen einher. Die Verantwortlichen des Projekts "GenderOpen - ein Repositorium für die Geschlechterforschung" führen im Namen ihrer dienstgebenden Institution den Auftrag aus, für alle, die eine entsprechende Publikationsplattform suchen, einen "renommierten"4 Netzort zu schaffen. Kein Wort darüber, dass aus der Nutzung von Repositorien auch Nachteile - zum Teil nicht unerhebliche - entstehen können, und dass strukturelle Probleme auf fachwissenschaftlicher Ebene, die zulasten von Frauen bzw. von Frauen-, Transpersonen-, Geschlechter- und Genderforscher_innen gehen, durch ein disziplinenübergreifendes "Repositorium für die Geschlechterforschung" (und auch durch ein disziplinenübergreifendes "Megajournal zur Geschlechterforschung") nicht im Entferntesten gelöst, sondern eher verdeckt werden. Bezeichnenderweise wirbt auch QJB auf seiner Homepage mit dem Prädikat "renommiert"5, doch ist Peer Review kein hinreichender Grund für eine solche Selbstprädikatisierung, da dieses Verfahren der Qualitätssicherung seit vielen Jahren in der Kritik steht bis hin zum Zensurvorwurf. Und auch "renommierte" Verlage und das Prädikat "Exzellenzuniversität" sind keine Garanten für handwerklich gut gemachte, innovative, weiterwirkende Forschung. Davon abgesehen ist "Renommee" nichts, das man sich in wissenschaftlichen Kontexten aus eigenen Gnaden zuschreiben kann, es sei denn, man verwendet die Selbstdeklaration als Mittel, um in provokativer Weise auf himmelschreiende Benachteiligungen und Rechtsverletzungen aufmerksam zu machen.

    In der Kurzbeschreibung von "GenderOpen", aufrufbar über die Datenbank GEPRIS (Geförderte Projekte der DFG), heißt es: "Die Kooperation der Geschlechterforschungseinrichtungen von drei Berliner Universitäten mit einschlägigen Fachgesellschaften und Projekten ermöglicht es, das Repositorium als zentrales Vorhaben für die Modernisierung des Publikationsverhaltens in Richtung Open Access zu konzipieren, von dem das gesamte wissenschaftliche Feld profitieren kann. Die Erfahrungen beim Aufbau des Repositoriums sollen für andere inter- und transdisziplinäre Felder nutzbar gemacht werden." Mit Blick auf die Pionierzeit digitalen Publizierens und Langzeitarchivierens und auf das sich in den letzten Jahren stark ausweitende E-Buch- und E-Zeitschriften-Angebot von Wissenschaftsverlagen sowie im Hinblick auf die Vielzahl hochspezialisierter, weitverzweigter Disziplinen und auf das weltweit betrachtet gigantische Volumen an wissenschaftlichen Neuerscheinungen überzeugt mich weder die Aussage, das geplante Repositorium für die Geschlechterforschung dürfe "als zentrales Vorhaben für die Modernisierung des Publikationsverhaltens in Richtung Open Access" gelten, noch die geäußerte Hoffnung, "das gesamte wissenschaftliche Feld" könne davon profitieren, noch die beanspruchte Modellfunktion für ähnliche Projekte. Die Reichweite von Repositorien hängt von der anvisierten Zielgruppe, ihre Wirkung von dem, was die Nutzer_innen darauf abspeichern, ab.

    Der Wert von Projekten für die Scientific Community manifestiert sich zuvörderst in deren Nutzen für die Rezipient_innen, das heißt Projekte müssen etwas bieten, was Forscher_innen kurz- oder langfristig voranbringt. Erfolg im Sinne von "erreichen" stellt sich bei wissenschaftlichen Großprojekten und bei Grundlagenforschung manchmal erst nach Jahrzehnten ein. Den Vorgang, für wissenschaftskontextuell eingebettete Projekte in fast schon aufdringlich werbender Manier Erfolg zu prognostizieren oder zu reklamieren, ohne hierfür Anhaltspunkte bzw. stichhaltige Belege liefern zu können, bezeichne ich in anderen Zusammenhängen als "Erfolgssimulation". Die Duden-Definition von "Erfolg" lautet: "positives Ergebnis einer Bemühung; Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung". Erfolgssimulation kann dann zum Problem mit Negativfolgen für andere werden, wenn dadurch faktengegründetes, umsichtiges, maßvolles, gezieltes, vorausschauendes, verantwortungsbewusstes Handeln be- oder verhindert wird.

    Von der Kritik zur Lösung

    In Hinblick auf die besondere Verantwortung, die öffentliche Hochschulen und Forschungseinrichtungen "für die Umsetzung des Verfassungsgrundsatzes der Gleichstellung von Frauen und Männern"6 und für den wissenschaftlichen Nachwuchs haben, werfen die geplanten Community-Projekte generelle Fragen auf:

  • Worin bestehen die Unterschiede zwischen einer Gleichstellungsfördereinrichtung und einer Forschungseinrichtung?
  • Fachzeitschriften sind Kommunikationsmittel der Forschung, Förderprogramme sind dazu da, Chancengleichheit und Zukunft zu sichern, etwa durch Schaffung gerechterer Rahmenbedingungen, durch hochwirksame Beratungsstellen, durch nachhaltige Aufklärungsarbeit oder durch die Bereitstellung von Finanzierungsmitteln, und Repositorien sind Serviceangebote für die Wissenschaft. An welchen Kriterien bemisst sich die Qualität von Forschung, an welchen die Qualität von Förderung und an welchen die Qualität von Serviceangeboten für die Wissenschaft?
  • In welchem Verhältnis stehen Projekte, die unter das Stichwort "Publikationsförderung" subsumiert werden, zur Sicherung von wissenschaftlichen Qualitätsstandards und zum Gerechtigkeitsprinzip?
  • Wie gestaltet sich in Bezug auf den weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchs effektive Förderung und wie wichtig sind in diesem Zusammenhang der fachwissenschaftliche Austausch und das persönliche Engagement von Hochschullehrer_innen? Wie wichtig sind geschlechterdemokratisch organisierte Fachkulturen? Wie wichtig sind funktionierende Arbeitskreise und die netzbasierte Sichtbarkeit der fachwissenschaftlichen Community? Wie wichtig sind wissenschaftliche Arbeitsmittel, die auch für Frauen- und Geschlechterforscherinnen funktionieren? Wie wichtig sind für die Finanzierung insbesondere von langfristig angelegten, arbeits- und/oder forschungsintensiven Grundlagenforschungs- und Netzprojekten im Bereich fachwissenschaftlicher Frauenforschung (= frauenorientierte Forschung im Gegensatz zu männer- oder transpersonenorientierter Forschung) Fonds aus öffentlichen Mitteln?
  • Auf welcher empirischen Basis7 wurden die Community-Plattformprojekte der Geschlechterforschungseinrichtungen der FU, HU und TU in Angriff genommen?
  • Zum Schluss noch ein Wort zur Verwendungsweise der Fachtermini "Interdisziplinarität" und "Transdisziplinarität".8 Der irreführend unpräzise, schlagwortartige Gebrauch dieser Begriffe ("freies Publizieren in einem inter-/transdisziplinären Feld") und ihre Verabsolutierung9 durch die zur Debatte stehenden Geschlechterforschungseinrichtungen sind Zeichen für Wissenschaftslenkung. Die in Wortwahl und -gebrauch zum Ausdruck kommende Auffassung, inter- und transdisziplinäre Forschung teile sich einen Gegenstand, der anders als inter- und transdisziplinär nicht (zufriedenstellend) zu erforschen sei, wird qua institutioneller Autorität festgeschrieben. Die jüngere Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen, die beweisen, dass auch und vor allem disziplinäre Frauen-, aber auch disziplinäre Geschlechterforschung Hochkarätiges und Wegweisendes hervorbringen, und es gibt nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen keine Anhaltspunkte, die es nahelegen, von einem Ersterben des Innovationspotentials disziplinärer Forschung auszugehen, ganz im Gegenteil. Die skizzierte Verwendungsweise der Begriffe "Inter-/Transdisziplinarität" arbeitet, ob gewollt oder nicht, blickverengenden, selektionsfördernden Prozessen zu. Lenkungs- und Ausleseprozesse dieser Art lassen sich auch in anderen institutionellen Zusammenhängen beobachten. In ihnen spiegeln sich institutionelle Selbstverständnisse und Gestaltungsabsichten, die mit den hohen Idealen Wissenschaftsfreiheit, ergebnisoffene Forschung, Respektkultur und Fairness wie auch mit der gelebten Vielfalt der Fachkulturen und mit den individuellen forscherlichen Fähigkeiten, Bedürfnissen, Interessen und Visionen oft nur schwerlich zu vereinbaren sind und viele Fragen offen lassen. An diesen Punkten setzt meine Sorge an und nicht zuletzt deshalb wende ich mich an die Leser_innen dieser Zeitschrift.

    Mein Anliegen lautet kurz und bündig: Ich suche Personen, die ähnliche Erfahrungen machen oder sich durch den vorliegenden Text angesprochen fühlen, vor allem aber suche ich Literaturwissenschaftler_innen, die gemeinwohlorientiert und integrativ denken und bereit sind, über die geschilderten Probleme und über Wege aus der Krise der deutschen Literaturwissenschaft nachzudenken. Für konstruktive Rückmeldungen jeglicher Art bin ich dankbar (sabinekoloch@zedat.fu-berlin.de).

    Anmerkungen

    1) Eine ausführliche Darlegung des Anliegens der Autorin kann online unter www2.bdwi.de/uploads/koloch_des_kaisers_neue_kleider.pdf nachgelesen werden.

    2) Insgesamt achtzehn Megajournale listet der folgende Artikel: en.wikipedia.org/wiki/Mega_journal (08.07.2016).

    3) Die Unterscheidung zwischen "Geschlecht" (engl. "sex") als biologischer und "Gender" (engl. "gender" = Geschlecht) als relationaler und prozessualer Kategorie richtet sich gegen biologistische Verkürzungen. Mein auf terminologische Klärung zielender Definitionsvorschlag für "Gender" lautet: Gender ist ein Sammelname für geschlechts- und geschlechterbezogene Selbst- und Fremdzuschreibungen. Folglich handelt es sich bei dem Fachausdruck "Gender" um eine sozialpsychologische Kategorie. Vgl. Sabine Koloch: Wissenschaft, Geschlecht, Gender, Terminologiearbeit ? Die deutsche Literaturwissenschaft (im Erscheinen).

    4) gepris.dfg.de/gepris/projekt/286526860.

    5) "Das Jahrbuch Querelles ist ein bekanntes und renommiertes Periodikum der Frauen- und Geschlechterforschung." www.querelles.de/index.php/qjb/about/history - Dass dem Renommee-Aspekt in den skizzierten Frauen- und Geschlechterforschungszusammenhängen so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hat historische Gründe. 1993 bezeichnete die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter das Phänomen des Ausbleibens von Anerkennung infolge der systematischen Verdrängung und Leugnung des Beitrages von Wissenschaftlerinnen in der Forschung als Matilda-Effekt. Margaret W. Rossiter 2003: "Der <X>Matthäus<X*> Matilda Effekt in der Wissenschaft", in: Theresa Wobbe (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: 191-210.

    6) Wissenschaftsrat 1988: Empfehlungen zur Chancengleichheit von Frauen in Wissenschaft und Forschung, Köln: 75.

    7) Vgl. das vorbildliche österreichische Projekt "e-Infrastructures Austria", aus dem die Publikation Forschende und ihre Daten. Ergebnisse einer österreichweiten Befragung. Report 2015 hervorging, veröffentlicht auf: phaidra.univie.ac.at/detail_object/o:407736.

    8) Als deskriptive Termini bezeichnen sie Forschungsgrundkonzepte.

    9) Inter- und Transdisziplinarität im Übermaß begünstigt innerhalb der Scientific Community Verflachung, Mangel an Exaktheit des Unterscheidens und Abgrenzens, Wirrnis, Aufwertung von konzeptueller, thematischer Forschung und von Theoriebildung auf Kosten von fachwissenschaftlicher Grundlagenforschung, Publizieren ohne klar definierte Zielgruppe.

    Sabine Koloch promovierte an der FU Berlin über "Kommunikation, Macht, Bildung. Frauen im Kulturprozess der Frühen Neuzeit" (2011). Sie erstellt derzeit in Kooperation mit dem Londoner Germanisten John L. Flood ein "Verzeichnis kaiserlich gekrönter Dichterinnen". Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Literaturwissenschaftliche Autorinnenforschung, Terminologiearbeit, Wissenschaftsgeschichte, Zukunftsforschung. Die Autorin engagiert sich für die Verbesserung der öffentlichen Sichtbarkeit des geistig-kulturellen Erbes von Frauen.

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