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Klaus Holzkamp

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Kritische Soziale Arbeit?

09.04.2016: Ein kurzer Blick zurück

  
 

Forum Wissenschaft 1/2016; Foto: Pressmaster / shutterstock.com

Das später zum Symbol gewordene Jahr 1968 markiert eine Aufbruchszeit, in der bestehende Zustände auf allen möglichen Feldern kritisch hinterfragt wurden. Diese Kritik-Bewegung weitete sich, was den Bereich der Hochschulen betraf, über deren Strukturen hinaus auch auf die Inhalte von Forschung und Lehre und auf die akademischen Berufsbereiche aus, für die ausgebildet wurde. So entstanden Initiativen und Bewegungen für neue Berufsbilder und entsprechende fachliche Orientierungen wie z.B. eine Kritische Medizin, Kritische Justiz, Kritische Psychologie oder auch eine Kritische Sozialarbeit, deren Geschichte Richard Sorg nachzeichnet.

Die kritischen Neuorientierungen in verschiedenen akademischen Berufsbereichen schlugen sich auch im BdWi nieder. Hier entstanden bereits in den 1970er Jahren entsprechende Arbeitskreise, so auch für den Bereich der Sozialen Arbeit. Zu den Initiatoren (Frauen waren auch hier wie in den anderen Bereichen damals kaum vertreten) zählten u.a. Kurt Bader, Dankwart Danckwerts, Dieter Oelschlägel, Norbert Preusser, Richard Sorg, Margarete Tjaden-Steinhauer oder Armin Wöhrle. Um die Einheit der beiden Hauptstränge, Sozialarbeit und Sozialpädagogik, auch im Namen kenntlich zu machen, wurde der Ausdruck Soziale Arbeit und Erziehung (SAE) gewählt.1 Als theoretische Vergewisserung des Arbeitskreises brachten wir eine kleine Publikation heraus.2

Welche Art von Kritik?

Gebraucht man die Begriffe Kritische Sozialarbeit bzw. Kritische Soziale Arbeit, wäre zu klären, auf welche Art von "Kritik" man sich dabei bezieht. Immerhin haben nicht nur die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, sondern auch der Kritische Rationalismus eines Karl Popper das "Kritische" in ihre Selbstbezeichnung aufgenommen.

Das Kritische (vom griechischen krinein: unterscheiden, trennen, beurteilen) reicht weit in die Geschichte des Denkens zurück. Fängt man - in eurozentrischer Verengung - mit den (alten) Griechen an, so wären hier, etwas vereinfacht formuliert, vor allem zwei Stränge zu nennen: der eine, in dem sich Ansätze des Materialistischen zeigen (von den vorsokratischen Naturphilosophen bis hin zu Demokrit und Epikur), der andere, in dem das Dialektische auftaucht (angefangen von Heraklit bis hin zu Platon), sowie schließlich noch die Verknüpfung beider Stränge in der Philosophie des Aristoteles.3 In dem Parforceritt muss viel Einschlägiges übersprungen werden, das in diese Traditionslinie hineingehört, wie z.B. die arabische Philosophie des Mittelalters, ebenso die beginnende neuzeitliche, kritisch-empirische Wissenschaft eines Galilei, um dann kurz in der "Aufklärung" genannten Zeit zu verweilen, z.B. bei Immanuel Kant und seinen drei Kritiken (der Kritik der reinen Vernunft, seine Erkenntnistheorie, der Kritik der praktischen Vernunft, seine Moralphilosophie sowie seiner Kritik der Urteilskraft, seine Ästhetik). Zwischen Kant und Marx und dessen Kritik der politischen Ökonomie liegt das wichtige Verbindungsstück der Philosophie von Hegel. Er gehört gleichfalls zur aufklärerisch-kritischen Traditionslinie, führt diese aber mit seinem Dialektikverständnis, in dem Negation und Widerspruch eine zentrale Rolle spielen, über die Kantsche Kritik der Metaphysik hinaus. Entgegen seinem Ruf als Spitzenvertreter des Deutschen Idealismus und "preußischer Staatsphilosoph" enthält sein Denken unterschwellig mehr Materialistisches, als seine "Verlautbarungen" (z.B. über den "absoluten Geist", die "absolute Idee" oder das "Spekulative") vermuten lassen (weshalb ein Materialist und Revolutionär wie Lenin z.B. die Hegelsche Logik als Verständnisvoraussetzung des Marxschen Kapital betrachtete, so Lenin: Werke, Bd. 38: 170). Gemäß dieser angedeuteten Ambivalenz in der Einschätzung Hegels war auch das Verhältnis von Marx zu seinem einerseits sehr geschätzten, andererseits heftig kritisierten "Lehrer" zwiespältig und widerspruchsvoll, was auch neuere Forschungsarbeiten bestätigen.4

Auf welche Kritik-Tradition soll man sich also beziehen? Gibt es sinnvolle Kriterien für eine solche "Wahl"? - Aus wissenschaftlichen Gründen spricht einiges dafür, solche Ansätze zu präferieren, die für die Erforschung der Wirklichkeit ein möglichst reichhaltiges und fruchtbares heuristisches Potenzial bieten. Dies leistet, so meine These (die im einzelnen natürlich nur durch entsprechende Forschungen bestätigt oder falsifiziert werden könnte), am ehesten die dialektisch-materialistische Linie einer Kritik, eines wissenschaftlichen Ansatzes, der nicht bei der Kritik stehen bleibt.

Von Marx zur Sozialen Arbeit?

Der nächste Schritt wäre: Wie gelangt man von der Ebene der Philosophie und von dem Plädoyer für die dialektisch-materialistische Linie der Kritik und Theorie - also (vor allem) von Marx - zur Sozialen Arbeit? Gibt es da Verbindungsstücke oder Übergänge?

Blicken wir kurz in das 19. Jahrhundert zurück, in die Zeit, als in Europa die alte, feudale Produktionsweise unter heftigen Geburtswehen allmählich ersetzt wurde durch die neue bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation! Auch für heutige Studierende der Sozialen Arbeit, die etwas über die Geschichte ihrer Profession und Disziplin erfahren möchten, empfiehlt sich als eine erhellende Grundlektüre - unbeschadet solcher wichtigen Studien wie die von Michel Foucault (z.B. Überwachen und Strafen, dt. 1976), etwa das 24. Kapitel des Marxschen Kapital, Bd. 1: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation (Marx/Engels: Werke [MEW] 23: 741- 791). Es ist eine Fundgrube u.a. für historische Vorformen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit in Gestalt etwa der Arbeits- und Armenhäuser, die in Verbindung mit der sog. "Blutgesetzgebung" zur Zeit des Absolutismus in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus als Einrichtungen und Maßnahmen zur Herstellung der nunmehr neu geforderten Sozialcharaktere dienten. Es ging bei der ursprünglichen Akkumulation nicht nur um die Anhäufung von Kapital (u.a. durch das Ausrauben der Kolonien) als Voraussetzung kapitalistischer Profitproduktion, sondern auch um die Schaffung einer neuen Klasse von Lohnarbeitern und um die Sozialisation der Individuen dieser neuen Klasse, denen die alten, vorkapitalistischen Sozialeigenschaften ausgetrieben wurden, um ihnen die geforderte neue Arbeitsdisziplin einzubläuen.

Marx schilderte diesen alles andere als idyllischen Gesamtprozess, zu dem u.a. auch die Kindersklaverei gehörte und den man noch bis in die Gegenwart hinein in Ländern der Dritten Welt strukturell ähnlich wahrnehmen kann, wenn deren Bevölkerungen unter die Gesetze und Mechanismen des kapitalistischen Weltmarkts gezwungen werden. Er schrieb, aus einer 1842 publizierten französischen Schrift von Marie Augier zitierend: "Wenn das Geld [...] ›mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt‹, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend."5

Die "Soziale Frage" im Deutschland des 19. Jahrhunderts

Während die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Umwälzungen, etwa Verarmung und Verelendung großer Teile der Bevölkerung, auch vom Bürgertum wahrgenommen und als "Soziale Frage" thematisiert wurden, unterschieden sich die Antworten auf dieses Problem gravierend.6 Während Marx und Engels sowie Teile der Arbeiterbewegung bekanntlich für die "Umwälzung" der Verhältnisse kämpften; beschränkte man sich dagegen im Bürgertum im Wesentlichen auf die Bekämpfung der "Auswüchse", und dies vor allem mittels privater Wohltätigkeit. Man denke etwa an Johann Hinrich Wichern, protestantischer Pfarrer und Gründer des Rauhen Hauses in Hamburg, der sein Konzept alternativ zu dem der Arbeiterbewegung verstand, die er aufs heftigste bekämpfte. Wichern hatte 1848, im Jahr der März-Revolution und im Erscheinungsjahr des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels, angesichts der Abkehr breiter Teile der Arbeiterschaft von der Kirche auch die "Innere Mission" gegründet, gleichsam als Pendant zur "Äußeren Mission", die der "Zivilisierung" der "primitiven" Völker dienen sollte, als geistliche Ergänzung der kolonialen Eroberungspolitik.

Am Ende der jahrzehntelangen, das 19. Jahrhundert bestimmenden Auseinandersetzungen um die "Soziale Frage" stand angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung ein Klassenkompromiss: die von Bismarck durch "Zuckerbrot und Peitsche" geprägte Form der Sozialpolitik, die im Verlauf der weiteren Jahrzehnte, ausgehend von den ab den 1880er Jahren gesetzlich eingeführten Sozialversicherungen, ausgebaut wurde zu dem, was dann bis heute Sozialstaat genannt wird, zu dem man auch die Soziale Arbeit zählen muss. Die Janusköpfigkeit des teils erkämpften, teils um des sozialen Friedens willen "zugestandenen" Sozialstaats prägte dann auch die Soziale Arbeit.

Für die Revolutionäre Marx und Engels stellte die Privatwohltätigkeit natürlich kein Heilmittel gegen die Gebrechen des Kapitalismus dar. Und so war von ihnen auch keine Theorie Sozialer Arbeit zu erwarten, die damals vor allem Armenfürsorge war. Dennoch kann die Marxsche Kapitalismustheorie als Grundlagentheorie hilfreich sein etwa bei der Analyse der Ursachen von Problemen, mit denen Soziale Arbeit zu tun hat, z.B. die ökonomischen Erklärungen von Arbeitslosigkeit und Armut als einem auch heute noch wichtigen Problemfeld der Sozialen Arbeit.

Soziale Arbeit heute, im 21. Jahrhundert

In einer entwickelten, ausdifferenzierten, arbeitsteiligen, "modernen" Gesellschaft haben sich besondere Professionen für bestimmte Bereiche der Bedürfnisbefriedigung und der gesellschaftlichen Reproduktion herausgebildet, darunter, neben z.B. dem Bildungs- und dem Gesundheitssystem, auch die Soziale Arbeit als, allgemein gesprochen, Bearbeitung sozialer Probleme - von der Milderung bis zur "Lösung", einem eher selten erreichten Grenzfall.7 Menschen als gesellschaftliche Wesen (vgl. die 6. Feuerbachthese von Marx, MEW 3: 6) bedürfen der Hilfe Anderer. Das beginnt mit der Geburt, setzt sich fort bei der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen, aber auch etwa bei Missbrauchserfahrungen oder bei Drogenabhängigkeit, ferner bei Krankheit und Behinderungen, bei Pflegebedürftigen und älteren Menschen sowie im Falle von Armut und diversen Diskriminierungen durch Klassenlage, Geschlecht und ethnisch-kulturelle Herkunft (class, gender, race).8 Soziale Arbeit ist also überall dort gefragt, wo die Möglichkeiten einer eigenen, weitgehend selbständigen Lebensbewältigung eingeschränkt, Hilfe und Schutz erforderlich sind.

Dabei ist zu beachten: In antagonistischen Gesellschaften, zu denen auch die unsrige zählt, sind diese Hilfen immer auch mit "sozialer Kontrolle" verknüpft, wobei Hilfe und Kontrolle bisweilen kaum unterscheidbar sind. Man könnte hier von der "Formationsspezifik" auch vieler Aktivitäten der Sozialen Arbeit sprechen, ein Begriff, der für die Marxsche Theorie von großer Bedeutung ist, um z.B. zu unterscheiden (hier: zu kritisieren), wann und wo etwas als "Sachzwang" ausgegeben wird, das in Wahrheit durch Herrschaftsverhältnisse (in diesem Fall: kapitalistische) "formbestimmt" ist. Der Grad der "Fortschrittlichkeit" Sozialer Arbeit wäre dann darin zu sehen, wie weit es gelingt, die Kontroll- und Disziplinierungsfunktion zugunsten ihrer Hilfefunktion zurückzudrängen, eine im Einzelfall nicht einfach zu bestimmende Unterscheidung. Hier käme dann auch die immer wieder diskutierte Frage der "Parteilichkeit" der Sozialen Arbeit ins Spiel.9

Heute gehören zur alltäglichen Lebensbewältigung auch Zugänge zur Bildung und Weiterbildung, zur Kultur, kurz zu allen Formen gesellschaftlicher Teilhabe. Es sind dies alles Felder der Sozialen Arbeit, deren Aufgabenbereiche immer vielgestaltiger geworden sind. Die bekannte Kurzdefinition Sozialer Arbeit als "Hilfe zur Selbsthilfe" hat darin ihre Berechtigung, dass Hilfe nur dann wirksam wird, wenn sie die eigenen Kräfte und Potenziale der Adressaten zu aktivieren vermag. Es geht im Blick auf diese um die Gewinnung einer erweiterten Handlungsfähigkeit (ein von der Kritischen Psychologie um Klaus Holzkamp - einen der "Gründungsväter" des BdWi - und Ute Holzkamp-Osterkamp geprägter Begriff) und eines möglichst hohen Maßes an Selbstbestimmung und Realitätskontrolle. Das oft gehörte Entweder-Oder eines Ansetzens bei den Stärken (empowerment-Ansatz) versus bei den Problemen (sog. Defizit- oder Problem-Ansatz) ist ein Scheingegensatz, denn beide Momente und Ansätze bilden eine notwendige Einheit.

Zusammengefasst ließe sich vielleicht sagen: Soziale Arbeit ist ein historisch herausgebildetes, vielfach auch durch soziale Bewegungen erkämpftes, gesellschaftlich institutionalisiertes und mehr oder weniger professionalisiertes Hilfesystem, insbesondere zur Unterstützung von Individuen und Gruppen, die ihre materiellen und sozialen Probleme (z.B. ihre soziale Integration) nicht ohne fremde Hilfe zu lösen vermögen.

Soziale Arbeit unter Globalisierungsbedingungen

Dem Grad der heutigen Internationalisierung und Globalisierung der Probleme, die unterstützende Hilfen nötig machen, entspricht es, über den engen nationalen Rahmen hinaus zu denken und sich normativ an den UNO-Menschenrechtserklärungen sowie an den einschlägigen Beschlüssen internationaler Organisationen der Sozialen Arbeit zu orientieren. Wo in einzelnen Ländern oder weltweit die nötigen Unterstützungen von Hilfebedürftigen fehlen oder missachtet werden, ist es die Aufgabe vor allem auch der Professionellen (ob SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen oder Angehörige anderer Berufsgruppen), sich als Sachverständige kompetent, kritisch und politisch zu Wort zu melden, motiviert durch eine humanistische Ethik und Moral. Jede soziale Gemeinschaft bedarf für ein gedeihliches, sozialverträgliches Zusammenleben ihrer Mitglieder normativer Regeln, also einer moralischen Basis (als Gesamtheit von wertebasierten Normen), deren systematische Begründung die Aufgabe der jeweiligen Ethik ist, wobei unter "sozialverträglich" ein Zusammenleben zu verstehen ist, das die Belange auch der jeweils Anderen respektiert.

Formuliert wurde eine "Global Definition of Social Work" samt normativer Orientierung z.B. durch einen gemeinsamen Beschluss der IFSW (International Federation of Social Workers) sowie der IASSW (International Association of Schools of Social Work) im Juli 2014 und am 6.8.2014 publiziert. Sie lautet:

"Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing. -The above definition may be amplified at national and/or regional levels".10

Woher gewinnt die Soziale Arbeit ihr Wissen?

Um wirksam praktisch zu handeln, braucht Soziale Arbeit zutreffende Kenntnisse über den Gegenstand und seine Kontexte. Vielfach reicht dafür zunächst das Erfahrungswissen. Aber je vielschichtiger die Gegenstände und die Probleme, umso mehr wird wissenschaftliches Wissen erforderlich. Ein Beispiel aus den aktuellen Auseinandersetzungen: Im letzten Sommer gab es einen monatelangen, von den Gewerkschaften ver.di und GEW geführten Streik um eine höhere Eingruppierung von Beschäftigten im Bereich der Sozialen Arbeit. Dahinter stand u.a. die Frage, ob z.B. für die Betreuung und Förderung der Kinder in Kitas das Fachschulwissen ausreicht oder ob für ErzieherInnen zunehmend wissenschaftliches Wissen und darum auch eine wissenschaftliche Ausbildung, z.B. an Fachhochschulen, nötig ist, statt nur an berufsbildenden Fachschulen. - Ein anderes Beispiel: Angesichts der momentanen Situation der sog. Flüchtlingskrise bedarf es neben der praktizierten solidarischen und professionellen Hilfe auch des Wissens über Ursachen und Hintergründe der angestiegenen Migrations- und Fluchtbewegungen, wenn man längerfristig an die Lösung der Probleme gehen will.11

Professionen und die ihr zugehörigen Disziplinen brauchen neben praktischem Erfahrungswissen also auch wissenschaftliches Wissen, und dies umso mehr, je komplexer die Probleme sind oder werden, die zu bearbeiten sind. Mehr noch als andere Professionen bezieht die Soziale Arbeit Anregungen für ihre fachlich-theoretischen Grundlagen aus disziplinär sehr unterschiedlichen praktischen und theoretisch-disziplinären Zusammenhängen, die sie in ihre eigenen theoretischen Konzeptionen integriert, nachdem sie die Eignung der "Theorieimporte" für ihre eigenen, sozialarbeitsspezifischen Aufgaben daraufhin überprüft hat, ob und inwieweit sie hilfreich sein können für ihre Praxis: die Bearbeitung sozialer Probleme.

Zur etwas zerklüfteten Ausbildungslandschaft

Die beiden Stränge der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik, aus denen die Soziale Arbeit hervorgegangen ist, manifestierten sich lange Zeit, z.T. bis heute, auch in unterschiedlichen Ausbildungsstätten und -niveaus: Es gab und gibt die Fachschulen und zusätzlich ab etwa 1969/1970 zum einen die Fachhochschulen, zum andern die Universitäten, diese mit einem Schwerpunkt "Sozialpädagogik" innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Fachbereiche. Die Ausbildung auf unterschiedlichen Niveaus des tertiären Sektors sorgte für einen jahrelangen, bis heute nicht abgeschlossenen Streit zwischen den Vertretern der Fachhochschulen und denen der Universitäten (z.B. zu Fragen des Lehrdeputats, der Forschungsmittel oder des Promotionsrechts), der sich u.a. auf die Frage zuspitzte, wie die wissenschaftliche Disziplin der Sozialen Arbeit aussehen und dann auch benannt werden sollte: entweder Sozialpädagogik, unter dem wissenschaftlichen Dach der Erziehungswissenschaft, so die Universitätsvertreter; oder aber Sozialarbeitswissenschaft bzw. Wissenschaft der Sozialen Arbeit, so die Fachhochschulvertreter, welche die erziehungswissenschaftliche Perspektive als zu eng für die Soziale Arbeit betrachten, die es ja nicht nur mit pädagogischen, sondern auch mit juristischen, ökonomischen, politischen oder medizinischen Fragen und entsprechenden Ausbildungsinhalten zu tun hat.12 Nachdem dieser zuletzt angedeutete Streit momentan etwas abgeflaut ist, kann man als Minimalkonsens verbuchen: Unbeschadet der diversen Ausbildungsniveaus und Ausbildungsinstitutionen besteht heute weithin ein Konsens darüber, den Begriff "Soziale Arbeit" als überdachenden Oberbegriff zu verwenden für die Profession und Disziplin sowie für die in sich äußerst heterogenen Handlungsfelder und Perspektiven sozialarbeiterischer wie sozialpädagogischer Art.

Schlussbemerkung

Es wurde in diesem Artikel ausgegangen von der Frage, worin das Kritische der Sozialen Arbeit bestehen könnte. Plädiert wurde für diejenige Kritik-Tradition, die man die materialistisch-dialektische nennen könnte. Wie die daraus zu gewinnenden theoretisch-methodischen Anregungen für die Soziale Arbeit im Einzelnen aussehen könnten, wäre Gegenstand weiterer Artikel.13

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Dankwart Danckwerts 1981 (1. Aufl. 1978): Grundriß einer Soziologie sozialer Arbeit und Erziehung. Zur Bestimmung und Entwicklung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der BRD, Weinheim/Basel.

2) Kurt Bader/ Dieter Oelschlägel / Richard Sorg (Hg.) 1984: "Fortschrittliche Sozialarbeit unter Krisenbedingungen - Möglichkeiten und Probleme", Demokratische Erziehung. Sonderheft Soziale Arbeit und Erziehung, Köln.

3) Zur Problemgeschichte vgl. Hans Heinz Holz 2011: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, 5 Bände, Darmstadt.

4) So z.B. Sahra Wagenknecht 1997: Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelrezeption des jungen Marx, oder: Das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode, Bonn; ferner Andreas Arndt 2008: "Was ist Dialektik? Anmerkungen zu Kant, Hegel und Marx", in: Das Argument Nr. 274, 37-48; Richard Sorg 2016: "Das Dialektische in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹. Kommentierende Bemerkungen zum Schlusskapitel: ›Die absolute Idee‹", in: Aufhebung. Zeitschrift für dialektische Philosophie (im Erscheinen).

5) MEW 23: 788.

6) Vgl. für die Verhältnisse im schon ein knappes Jahrhundert früher entstandenen englischen Kapitalismus die eindrucksvolle Darstellung von Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845, MEW 2, 225-506.

7) Vgl. zur Bestimmung der Sozialen Arbeit z.B. Silvia Staub-Bernasconi 2007: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Systemtheoretische Grundlagen und Praxis der Profession Sozialer Arbeit, Bern; sowie Werner Obrecht 2001: "Das Systemtheoretische Paradigma der Disziplin und der Profession der Sozialen Arbeit", in: Zürcher Beiträge zur Theorie und Praxis Sozialer Arbeit Nr. 4.

8) Die theoretische Verknüpfung dieser Differenz- oder Ungleichheitskategorien wird heute im Konzept der "Intersektionalität" versucht; diese "triple-oppression-theory" wurde vor allem in der neueren feministischen Theoriebildung entwickelt, vgl. z.B. Gabriele Winker / Nina Degele 2010: Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld; Cornelia Giebeler / Claudia Rademacher / Erika Schulze (Hg.) 2011: Intersektionen von race, class, gender, body: Theoretische Zugänge und qualitative Forschungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, Opladen.

9) Vgl. dazu z.B. Richard Sorg 2001: "Annäherungen an die Frage, ob die Soziale Arbeit ein politisches Mandat hat", in: Roland Merten (Hg.): Hat Soziale Arbeit ein politisches Mandat? Positionen zu einem strittigen Thema, Opladen: 41-54.

10) Nachzulesen unter:ifsw.org/policies/definition-of-social-work/. Die vom DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.) publizierte Übersetzung ins Deutsche lautet: "Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin, dessen bzw. deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung der Menschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen der Sozialen Arbeit. Gestützt auf Theorien zur Sozialen Arbeit, auf Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und indigenem Wissen, werden bei der Sozialen Arbeit Menschen und Strukturen eingebunden, um existenzielle Herausforderungen zu bewältigen und das Wohlergehen zu verbessern. - Die obige Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene noch erweitert werden." (www.dbsh.de/beruf/definition-der-sozialen-arbeit.html).

11) Vgl. hierzu Richard Sorg 2016: "Zum Thema Flucht: Ursachen und Hintergründe", in: standpunkt: sozial (im Erscheinen).

12) Vgl. zu diesem Streit z.B. Hans Pfaffenberger / Albert Scherr / Richard Sorg (Hg.) 2000: Von der Wissenschaft des Sozialwesens. Standort und Entwicklungschancen der Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft, Rostock.

13) Zu Ansätzen dazu siehe z.B. Richard Sorg 2014: "Einige Grundzüge des Theorieansatzes von Karl Marx - Anregungen für die Soziale Arbeit. Gegen die Eindimensionalität eines neo-liberalen Denkens", in: neue praxis 1: 45-59; ferner Ders. 2007: "Soziale Arbeit und Ökonomisierung. Essay", in: neue praxis 2: 207-213.


Richard Sorg, Jg. 1940, Prof. Dr. phil., Studium der Theologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie. Nach Lehrtätigkeiten an der Uni Marburg und an der Fachhochschule Wiesbaden dann bis zur Pensionierung 2005 Professor für Allgemeine Soziologie im Bereich Soziale Arbeit der ehemaligen Fachhochschule Hamburg, der heutigen HAW; war mehrere Jahre lang im Vorstand des BdWi.

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