BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Wutbürger machen mobil

09.08.2013: Zur Rationalität angeblich irrationalen Widerstandes gegen Großtechniken

  
 

Forum Wissenschaft 2/2013; Foto: photocase.com – kallejipp

Der Widerstand aufgeklärter Bürger (als unreflektierte "Wutbürger" geschmäht) gegen megalomanische Großprojekte wächst. Gleichzeitig mehren sich Stimmen aus Wissenschaft und Publizistik, die den kapitalistischen Wachstumswahn - auch in der Verkleidung als "Green New Deal" - angesichts der wachsenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen für verrückt halten. Besonders die Naturwissenschaften wissen um die "absolut verzweifelte Situation" (Klimaforscher Lutz Wicke). Gefährden die Aktivitäten dieser "Wutbürger" nun den Forschungsstandort Deutschland oder tragen sie zur Wiedergewinnung von Vernunft bei? Wolfgang Neef antwortet auf einen entsprechenden Spiegel-Beitrag.

Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen, so die Geowissenschaftler Andreas Dahmke, Martin Sauter und Frank Schilling im SPIEGEL Nr. 10/2013 unter dem Titel "Tabu im Untergrund", schaden nicht nur der Forschung, sondern gleich dem "Forschungsstandort" Deutschland, wenn sie gegen geplante Großtechnologien wie Fracking, CCS (unterirdische Lagerung von CO2) und Geothermie schon vorsorglich protestieren und so bereits die vorbereitende Forschung verhindern. Ihre Begründungen, so die drei Geowissenschaftler, kämen aus "Urängsten", und diese Art Katastrophen-Science-Fiction unwissender Bürger bewege dann auch Politiker, sich den Protesten zu beugen und Verhinderungs-Gesetze für diese Techniken zu verabschieden. So würden die aus Verantwortung um Nachhaltigkeit, in diesem Fall die "Energiewende", handelnden Wissenschaftler und Ingenieure und der technische Fortschritt aus irrationalen Gründen ausgebremst.

Die Zukunft als Paradies?

Bevor man sich über diese angeblich "nur" gefühlsgesteuerten Aktionen aufregt, wäre es vielleicht angebracht, die Erfahrungen mit technischen Großprojekten, die der Gesellschaft soziale Wohltaten und der Natur Entlastung von den Folgen eben dieses Fortschritts bringen sollten, Revue passieren zu lassen. Denn die andere, wissenschaftlich und technisch hoch rational und seriös daher kommende euphorische Science Fiction eines großen Teils der Naturwissenschaftler und Ingenieure im 20. Jahrhundert verhieß der Menschheit herrliche Zeiten. Schon der Flugpionier Otto Lilienthal prophezeite als Folge seiner Erfindung: "Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als in blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen..."1. In schneller Folge bekamen wir dann das unsinkbare Schiff, Hubschrauber und Senkrechtstarter-Flugzeuge als Massenverkehrsmittel, die autogerechte Stadt, das Atom-Auto und die unerschöpfliche Energie aus Kernkraft im "Atom-Zeitalter", Künstliche Intelligenz zum Management der gesamten Produktion in menschenleeren Fabriken sowie zur Steuerung der aus den Fugen geratenen Natur, die Gentechnik zur Ausrottung des Hungers und zur Heilung fast aller Krankheiten, die Wasserstoff-Gesellschaft, das papierlose Büro, überhaupt die Dematerialisierung aller Organisations- und Kommunikationsprozesse durch IT. Das Jahr 2000 spukte nicht nur in den Medien, sondern auch in der damals modischen "Zukunftsforschung" herum, Futurologen wie Hermann Kahn hatten Hochkonjunktur: Ihr werdet es erleben, war der Titel eines seiner Bücher2.

Schon in den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren wurde das wachsende Misstrauen der Bürger gegenüber diesen Heilsversprechen, exemplarisch ausgedrückt durch die Anti-Atomkraft-Bewegung, zur großen Sorge von Politik und Wissenschaft. "Technik-Feindlichkeit" wurde diagnostiziert und Untersuchungen in Auftrag gegeben, wo sie zu finden sei und welche Begründungen sie leiteten. In einer Allensbach-Studie aus dem Jahr 19813 zu diesem Thema wurden die Befragten auch gebeten, zur EURscheinlichkeit eines Super-GAUs in einem Atomkraftwerk Stellung zu nehmen. Nur gut ein Drittel befürchtete, dies könne in den nächsten 10 Jahren eintreten - das Vertrauen der Bürger in die Technik war immer noch zu groß, aber immerhin kritischer als zuvor. Von den befragten Technik-Experten aber, den dafür "zuständigen" wissenschaftlich ausgebildeten Fachleuten, hielten nur 4% für möglich, was dann nur 5 Jahre später in Tschernobyl (und 2011 in Fukushima) geschah. Und diejenigen, die gegen Stuttgart 21 protestierten, lagen ja mit ihren Prognosen zu diesem "besten jemals durchgeplanten Projekt" (Bahnchef Grube) schon bezüglich der Kosten nicht schlecht - dabei wurden die technisch riskanten Teile des Projektes bis heute noch nicht einmal angefangen.

Forschung mit Skepsis

Vielleicht sollten wir Techniker und Wissenschaftler daraus lernen, unsere eigenen, auch von materiellem Interesse geleiteten Hoffnungen in die segensreichen Wirkungen unserer Artefakte etwas skeptischer zu betrachten? Oder, wie im Fall der Asse, auf diejenigen KollegInnen hören, die die professionelle Tradition einer Sicherheits-Philosophie noch hochhalten: Immer den schlimmsten Fall annehmen und dann noch ein "Angst-Eisen" einziehen. Der Ingenieur, der die heute im Atommüll-Lager Asse eingetretene Entwicklung voraussah und öffentlich dokumentierte, hatte deswegen seitdem beruflich erhebliche Schwierigkeiten4. Und man machte unbeirrt weiter.

Nun handele es sich, so die drei Geo-Wissenschaftler, ja nur um Forschung, wenn auch um eine mit "strategischer Bedeutung" für Energieversorgung und Klimaschutz, für den Wissenschafts- und Industriestandort Deutschland. In der Tat: Fracking, CCS und Erneuerbare Energiewandlung sind unverzichtbarer Teil des seit der industriellen Revolution eingeschlagenen expansiven Entwicklungspfades von Technik und Wirtschaft, der um jeden Preis fortgesetzt werden soll, weil sonst der Standort Deutschland im Rattenrennen um mehr Wachstum zurückfallen könnte. Aber selbst wenn CCS irgendwann einmal im großen Maßstab praktikabel würde: Die zu bewältigenden Mengen von CO2 sind viel zu groß, die verfügbaren sicheren Speicherflächen viel zu klein, um einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Hinzu kommt: Auch wenn im Labormaßstab CCS beherrschbar wird (was durch Forschung vielleicht erreichbar wäre) - die Skalierung auf das Mehrtausendfache würde neue Probleme mit sich bringen, wie wir aus der Erfahrung mit fast allen technischen Entwicklungen wissen. Wenn es gelingt, ist diese Technik also im besten Fall nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein - im schlimmsten ein gefährliches und tödliches Desaster.

Zunkunftsfähige Technologie?

Generell müssen sich Forscher fragen: Ist die Strategie, die wir mit unserer Forschung ganz bewusst fördern, zukunftsfähig? Denn mit dem Versprechen, durch CCS und Geothermie die weitere Steigerung des weltweiten Energieverbrauchs "nachhaltig" zu gestalten (Fracking bewirkt das Gegenteil), wird heute eine Politik gerechtfertigt, die trotz aller Erkenntnisse zum Thema Klima verbissen auf weiteres Wachstum setzt und z.B. forciert Kohlekraftwerke baut.

Zudem wäre von Naturwissenschaftlern zu erwarten, dass sie grundsätzlich darüber nachdenken, ob der Entwicklungspfad der wachstumsabhängigen Industriegesellschaften bzw. ihrer Ökonomie biologisch und physikalisch weiterhin möglich ist. Max Frisch hat anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die TU Berlin im Jahr 1987 gefragt: "Die Saurier überlebten 250 Millionen Jahre; wie stellen Sie sich ein Wirtschaftswachstum über 250 Millionen Jahre vor?". Es könnte ja sein, dass Politik und Ökonomie noch ein paar Jahre brauchen, bis sie diese Frage nicht weiter verdrängen können - aber wir Techniker und Naturwissenschaftler haben schon heute keine Ausrede für unser Schweigen zu der verrückten Vorstellung, angesichts der im Jahr 2011 bereits 1,5-fachen ökologischen Überlastung der Erde bzw. ihrer Reproduktionsfähigkeit5 könne man diese Ökonomie weiter als Leitbild für die Politik akzeptieren.

Das gilt auch aus einem anderen Grund: Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, hat der neoliberal radikalisierte Kapitalismus gerade bezüglich der Risiken durch Technologien jeder Art zunehmend kriminelle Energie darauf verwendet, die Bevölkerungen aller Regionen und Nationen systematisch zu belügen. Aber auch in der Binnenstruktur der großen Unternehmen ist verantwortliche Technikentwicklung in den letzten 30 Jahren immer schwieriger geworden. Ingenieuren, die gute, langlebige, ressourcenschonende Produkte bauen wollen, wird das "Banane"-Prinzip und geplante Obsoleszenz aufgezwungen: Produkt-Lebenszyklen müssen zwecks schnellerer Kapitalverwertung kürzer werden, im Wettbewerb um Marktanteile werden unfertige Geräte auf den Markt gebracht, sicherheitsrelevante Wartungsintervalle bei ICE- und S-Bahn-Zügen werden auf Betreiben der Betriebswirtschaftler verlängert, Großprojekte mit undurchschaubaren Systemen von Subunternehmen und Billig-Arbeitskräften rentabel gemacht, aber technisch chaotisiert6. Wer glaubt, das werde bei Fracking, CCS und Geothermie anders sein, verhält sich als Ingenieur und Naturwissenschaftler nach dem Prinzip der drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen oder, wie es ein IBM-Betriebsrat und Ingenieur angesichts der Controlling-Orgien der betriebswirtschaftlichen Kostendrücker formulierte: "Tarnen, Täuschen und Verpissen". Wer noch qualitativ einigermaßen ordentlich arbeiten will - und das ist die Mehrheit unserer Berufsgruppe -, ist stolz darauf, es trotz dieses nur dem Shareholder-Value bzw. der Rendite verpflichteten Managements zu schaffen7, oft bis zum persönlichen Burn-out.

Ökologie im Kapitalismus?

Wer das nur für ein moralisches Problem hält, das durch Selbstverpflichtung und Ethik-Codices der Unternehmen und durch staatliche Regulierung zu bewältigen wäre, sollte sich vor Augen halten, dass es das Prinzip des Kapitalismus ist, den Erfolg von Unternehmen und deren innere Verfassung an der Erzielung von Rendite zu orientieren und an sonst nichts. Dieses völlig unterkomplexe Erfolgskriterium verbannt soziale und ökologische Kriterien, aber auch Fragen der technischen Sicherheit immer wieder in die zweite und dritte Reihe. Die Havarien im Bereich der "Eingriffe in den Untergrund" der letzten beiden Jahrzehnte, von den drei Autoren selbst benannt, gehen auf diese Systematik zurück und nicht auf technisches oder menschliches Versagen. Wo die "freie Wirtschaft" frei agiert, wie Shell in Nigeria und BP in der Karibik, wurden diese Prioritäten sichtbar und folgenreich demonstriert - als Spitze eines Eisbergs, und die Politik ist zunehmend hilflos, erpressbar oder korrumpiert angesichts der Macht der großen Konzerne. Die Geowissenschaften mögen es gut meinen wie Otto Lilienthal und viele andere Ingenieure und Naturwissenschaftler in der Vergangenheit - Shell, Vattenfall u. Co. setzen ihre Forschungs- und Entwicklungsergebnisse nach den Kriterien der Maximierung der Renditen und des Shareholder-Value in die Praxis um. Von Staaten gesetzte Regeln versuchen sie durch Lobbyismus zu verhindern oder zu unterlaufen, und wenn der Kostendruck durch die globale Konkurrenz zu groß wird, wird die Schwelle zur Kriminalität immer häufiger überschritten - die Lebensmittel-Skandale lassen grüßen.

Man kann das dem Management noch nicht einmal vorwerfen: Es ist eine Systemeigenschaft, und wer ihr nicht gehorcht, ist schnell weg vom Fenster. Die drei Autoren des SPIEGEL stellen die absurden Folgen dieser Systematik sogar anschaulich dar, wenn sie die Auswirkungen des systemkonformen Emmissions-Zertifikate-Handels beschreiben: Das Geschäft mit Kohlekraftwerken funktioniert bei den "niedrigen Preisen für Emissions-Zertifikate [...] mit bester Rendite", ohne CCS. Nur: Solange nur nach dem Geschäft gefragt wird, würde auch mit CCS nicht anders gehandelt. Und wenn man die Frage des Fracking auf die des Preises reduziert - "vom Schiefergas-Boom in den USA profitieren wir alle, weil die Preise für Erdgas innerhalb weniger Jahre in den USA um über die Hälfte gefallen sind" -, dann hat man nicht begriffen, dass wir schon jetzt mit irreversiblen Schäden für uns und mehr noch unsere Kinder und Enkel für diesen Profit und unsere viel zu billige Energie bezahlen, die wir mit uneffektiven Techniken (wie Autos und Flugzeuge) und ihrem Einsatz für unseren exzessiven Mobilitätswahn, Milliarden technischer Spielzeuge, schlecht gedämmten Häusern und einer alle Dimensionen sprengenden Rüstungstechnologie verpulvern.

Energieverbrauch senken

Es geht also darum, aus diesem Denken in eingefahrenen Bahnen herauszukommen. Im Fall der Energiewandlung ist dies relativ einfach: Statt ständigen Wachstums des Energie-Umsatzes - inzwischen durch die erneuerbaren Energien auch noch vorangetrieben - ist die Reduzierung unseres Bedarfs an Energie um eine Größenordnung angesagt. Ziel könnte sein, mit dem heutigen Stand erneuerbarer Energie-Wandlung oder dem in vielleicht 10 Jahren auszukommen. Dies kann man auf vielfältige Weise erreichen, nicht nur technisch, sondern auch durch Eingriffe in das ständig schneller laufende Hamsterrad "Mehr Arbeit für mehr Konsum - mehr Konsum für mehr Arbeit" nach dem Motto: Weniger Arbeit, weniger Konsum. Der Soziologe Hartmut Rosa macht darauf aufmerksam, dass wir in einem "Zeitalter der Beschleunigung"8 leben, dem inzwischen auch noch der Sinn dieser Maschinerie abhanden gekommen ist: In den "fortgeschrittenen" Industrienationen und inzwischen auch in den "Schwellenländern" wächst die Menge des Spielzeugs für Erwachsene, das niemand wirklich braucht, rasant, die Renditen und der Elektronik-Müll ebenfalls.

Naturwissenschaftler und Ingenieure wissen, dass trotz des Beitrags von Wissenschaft und Technik zu diesem Beschleunigungswahn die Grenzen dieser "Ziel-variablen Tempo-Ideologie" (Habermas9) nicht im ökonomischen System und offenbar auch nicht in menschlicher Vernunft, sondern in den natürlichen Prozessen zu finden sind, die auch die Technik nutzen und die Basis unserer menschlichen Existenz bleiben, auch wenn wir dies nicht wahrhaben wollen, seit Francis Bacon die "Herrschaft über die Natur" als Leitbild der Neuzeit und ihrer Wissenschaft propagiert hat. Zwar haben Naturwissenschaftler wie Hubert Markl, 1996 bis 2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, dieses Leitbild in einem Beitrag im SPIEGEL noch 1995 angesichts des "Katastrophen-Kurses" der menschlichen Zivilisation in Sachen Umwelt unter dem Titel "Pflicht zur Widernatürlichkeit"10 bekräftigt: wir müssten nun "die Natur in unsere Obhut nehmen". Schon damals widersprach ihm der Physiker Hans-Peter Dürr, ebenfalls im SPIEGEL11. Inzwischen, fast 20 Jahre später, deutet alles darauf hin, dass wir damit gründlich überfordert wären. Der Klimaforscher Lutz Wicke hat gerade "10 Thesen" veröffentlicht12, in denen er das "unentschuldbare...katastrophale klimapolitische Versagen" seiner Disziplin beschreibt, das hauptsächlich darin liege, dass die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse nur veröffentlicht, aber sich nicht politisch massiv eingemischt haben.

Nun handelt es sich nicht nur um das Klima, das aus den Fugen gerät, sondern um Wassermangel, Bodenerosion und -Versiegelung, Artensterben, Vergiftungen durch Pharmazie und Chemie, Plastik- und Elektronikmüll, durch die unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Auch hier fehlt, wie bei den Klimawissenschaftlern, weitgehend der Mut, die "politisch unerwünschten" Erkenntnisse im Sinne des alten Cato ("Ceterum censeo...")13 laut, deutlich und immer wiederholt in Politik und Öffentlichkeit zu tragen.

Die "besseren Alternativen", die Dahmke, Sauter und Schilling fordern, können deshalb kaum darin liegen, die Motoren des Hamsterrades mit immer mehr Energie zu füttern - sie liegen, auch wenn wir die damit erforderliche "Große Transformation" für unglaublich schwer machbar halten, im Ausscheren aus diesen Denkstrukturen und im Handeln nach grundsätzlich anderen Paradigmen14. Verantwortlich handelnde Naturwissenschaftler müssten genau dies fordern, anstatt sich zwecks Finanzierung ihrer Forschung an den Politik-Mainstream und die Konzerne anzubiedern: Statt endloser Expansion durch materielles Wachstum Reduktion von Verbrauch und Müll, statt Konkurrenz Kooperation, Geld als Tauschmittel statt als Zweck und Sinngebung von Wirtschaft, statt unserer Verschleiß-Wirtschaft eine "Raumschiff-Ökonomie" (Kenneth E. Boulding) und -Technik, die Gewinn und größtmöglichen Nutzen durch weniger Produktion und Verbrauch erzielt, die Vorräte möglichst unangetastet lässt, die Bestände an Technik deutlich reduziert und nach strenger Prüfung auf ökologische Verträglichkeit vorhandene, Nutzen bringende Technik pflegt und repariert, statt ständig und immer schneller technische "Innovationen" zu produzieren, die keiner wirklich braucht, die aber den Energie- und Rohstoffverbrauch und die Müllmengen exponentiell wachsen lassen. Es geht also um den Rückbau unseres hypertrophen Industriesystems auf einen Bruchteil seines Energie- und Stoffumsatzes, in den Industrienationen auf etwa ein Zehntel.

Aktive Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs

In meinen Lehrveranstaltungen mit Studierenden der Technik-Wissenschaften an der TU Berlin und der TU Harburg suchen und entwickeln diese 25- bis 30-Jährigen solche echten Alternativen seit mehreren Jahren systematisch: Ingenieurarbeit nach dem Open-Source-Prinzip, mit den Nutzern gemeinsam entwickelte Technik statt marktvermittelte Industrieprodukte, dezentrale, sparsamste und flexible Energiewandlung und -nutzung, und schließlich auf diese Techniken passende Ökonomien wie Genossenschaften und sozial-ökologisch agierende, durch die Mitarbeiter selbst geleitete und möglichst wenig fremdfinanzierte Unternehmen, ganz ohne "Investoren", denen Sinn und Eigenschaften der Produkte wurscht sind. Harald Welzer (Selbst denken - eine Anleitung zum Widerstand15) diagnostiziert das notwendige Ende der westlichen Industriegesellschaft und der kapitalistischen Ökonomie und empfiehlt: "Erweitern Sie Ihre Handlungsspielräume dort, wo Sie sind und Einfluss haben" - meine Studierenden tun das als zukünftige Ingenieure und Ingenieurinnen mit großem Engagement und ständig neuen Ideen.

Zu Galileis Zeiten beherrschte die Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt der Welt mit acht Kristallschalen oben drüber, an denen Sonne, Mond und Planeten angeheftet sind, im Einflussbereich der Kirche nicht nur die Bevölkerung, sondern fast die gesamte Wissenschaft, und sie schien nicht nur wegen der drohenden Scheiterhaufen, sondern auch mental unüberwindlich. Seitdem hat die Wissenschaft mehrere Paradigmenwechsel hinter sich gebracht. Wenn die Naturwissenschaftler und Ingenieure ihr altes Selbstverständnis als "Kamele, auf denen Kaufleute und Politiker reiten" endlich hinter sich lassen und damit die Gängelung durch eine aus den Fugen geratene verrückte Ökonomie abschütteln, die Forschung nur finanziert und Menschen sowie ihre natürlichen Lebensgrundlagen nur dann schützen kann und will, wenn es sich rechnet, könnten sie einen wirklichen Beitrag zu solchen Alternativen leisten.

"Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit", sagt Galilei bei Brecht: "In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können...Einige Jahre lang war ich ebenso stark wie die Obrigkeit..."16. Heute dürfte auch die Beteiligung der Bürger am wissenschaftlichen Diskurs einfacher zu erreichen sein als zu Galileis Zeiten - und könnte vielleicht ähnlich wirksam werden. Auch die Autoren des SPIEGEL halten trotz ihrer Kritik am Widerstand der Bürger eine solche Beteiligung für nützlich. Allerdings sollte sie mehr werden als nur die Sicherung von Transparenz und Akzeptanz: Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen würden gemeinsam mit der Wissenschaft die nötige Transformation praktisch betreiben, anstatt nur das Schlimmste zu verhindern, und wären so höchst konstruktiv.

Anmerkungen

1) Zitiert nach Michael Waßermann 1991: "Otto Lilienthal - Ein Leben für einen Menschheitstraum", in: 100 Jahre Deutsche Luftfahrt, Bertelsmann Lexikon Verlag / Museum für Verkehr und Technik, Berlin.

2) Anthony Wiener u. Hermann Kahn 1968: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000. Molden, Wien/München/Zürich. Aus dem Klappentext: "Die Medizin hebt die Lebenserwartung auf 100 bis 150 Jahre, sie hat fast vollkommene Kontrolle über Vererbungsvorgänge, und sie kann auf chemischem Wege Intelligenz und Charakter der Menschen beeinflussen... Die Technologie hat längst die Massenherstellung von Atomraketen und die Erzeugung von Klimaveränderern, Erdverbrennern und Laserwaffen möglich gemacht...".

3) Institut f. Demoskopie Allensbach, "Kritik an der Technik und die Zukunft einer Industrienation", Schriften des Min. f. Wiss. U. Kunst Baden-Württ., Nr. 47, Stuttgart 1981.

4) Der Bauingenieur Dr. Hans-Helge Jürgens, der an der TU Braunschweig als wiss. Angestellter arbeitete, verfasste 1979 nach 1 1/2-jährigen Recherchen eine Abhandlung Atommülldeponie Salzbergwerk Asse II -Gefährdung der Biosphäre durch mangelnde Standsicherheit und das Ersaufen des Grubengebäudes, und brachte diese in die Medien. Die Folge: Er hat anschließend bei mehreren Bewerbungen zu hören bekommen, er sei "für die Ingenieurindustrie unverlässlich", und fand dann in Emden nur deshalb einen neuen Arbeitsplatz, weil es "in Ostfriesland ... zu dem Zeitpunkt keine Probleme mehr mit Salzstöcken (gab)" (Niederschrift Untersuchungsausschuss Asse, Niedersächs. Landtag, 1.10.2009, www.anti-atom-aktuell.de/untersuchungsausschuss/verweise-text.htm ).

5) WWF (Hg.): Living Planet Report 2010. Biodiversity, Biocapacity and Development.

6) Vgl. dazu: W. Neef 2013: "Pleiten, Pech und Pannen", in: Sozialismus H. 2, 2013: 2 ff.

7) Zitat: Ich fühle "Befriedigung über all die guten Arbeiten, die ich trotzdem noch fertig bringe, gegen Bedingungen oder Chef" - aus: Kiefer/Müller/Eicken 2001: Befindlichkeit in der chemischen Industrie. WWZ-Studie Nr. 59, Mai 2001: 42.

8) Hartmut Rosa 2012: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, Berlin.

9) Zitiert nach Rosa 2012.

10) SPIEGEL Nr. 48, 1995: 206f.

11) "Pflicht zur Mitnatürlichkeit", SPIEGEL Nr. 5, 1996: 154 f.

12) www.sonnenseite.com/Umwelt,Klimakassandras+-+versagt+die+Klimawissenschaft,16,a25382.html.

13) Lutz Wicke, a.a.O..

14) Leider geht Wicke in seinen Thesen diesen Kern des Problems nicht an, sondern reduziert seine Argumentation und seine Vorschläge auf die Ebene politischer Klima-Vereinbarungen - die Ökonomie lässt er außen vor, anders als z.B. sein CDU-Parteifreund Heiner Geißler.

15) Frankfurt/M 2013.

16) Bertolt Brecht 1968: Stücke Band VIII, Aufbau-Verlag: 182.


Wolfang Neef ist Diplom-Ingenieur und promovierter Soziologe, arbeitete bis 2008 an der TU Berlin als wiss. Angestellter. Fachgebiete: Reform des Ingenieurstudiums; Soziologie des Ingenieurberufs; Technik und Gesellschaft; Technik, Ökologie und Ökonomie; Kooperation Wissenschaft-Gesellschaft. Nach wie vor als Dozent zu diesen Themen an TU Berlin und TU Hamburg-Harburg tätig.

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion