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Klaus Holzkamp

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Wiederbegegnung mit Humboldt

24.09.2012: Die Zukunft der Erziehung: Mehrdimensionalität, Multidisziplinarität, Integration zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften.

  
 

Forum Wissenschaft 3/2012; Foto: Fotolia.com – koya79

Der Soziologe und Politikwissenschaftler Roland Benedikter (47), der heute an den Universitäten von Kalifornien in Santa Barbara und Stanford lehrt, gilt als einer der profiliertesten europäischen Vertreter eines zeitgemäßen Zusammenschlusses zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften und als Vordenker einer konsequent interdisziplinären Erziehung für die Anforderungen der Globalisierung. Adrian Wagner hat ihn zu seiner Vision für die Zukunft des europäischen Bildungsbereichs befragt.

Adrian Wagner: Nicht nur die europäischen, sondern auch die internationalen Bildungssysteme scheinen derzeit im Umbruch - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Roland Benedikter: Ja. Während Europa sich an das angelsächsische System anpasst, nimmt das soziale und Zugangs-Problem in den USA mit wachsender sozialer Ungleichheit massiv zu; daher muss nicht nur das europäische, sondern auch das System Amerikas in seiner Gesamtheit neu zusammengeschaut und als Ganzes neu strukturiert werden. Und der dritte globale Macht-Pol China hat das - sowohl quantitativ wie qualitativ - wachsende Problem, den Spagat zwischen Bildung der Bevölkerung im Dienst wirtschaftlichen Fortschritts und den mit Bildung heute unweigerlich verbundenen Demokratisierungstendenzen zu schaffen. Chinas System versucht derzeit, Bildung auf ein globales Niveau zu heben und gleichzeitig Demokratisierung zu verhindern - was im internationalen Vergleich des Umbruchs am schwierigsten sein dürfte. Während China heute so viele Studenten wie nie in den die USA sendet, um dort alles verfügbare Know-how einzusammeln und nach China zurückzubringen, hat es das Problem, dass diese Studenten unweigerlich mit Ideen der individuellen Freiheit und Gleichheit infiziert werden, also mittelfristig einen zutiefst "westlichen" Impuls in die chinesischen Mittel- und Oberklassen, aber auch in die Eliten hineintragen. Mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Gesellschaft.

Adrian Wagner: Was bedeutet das?

Roland Benedikter: Es bedeutet: Keines der drei Systeme wird das bleiben, was es bisher war. Ein guter Teil der Erneuerung wird sich zudem in Interaktion zwischen ihnen abspielen. Das bringt ebensolche Chancen wie spezifische Probleme. Die Unterschiede zwischen "atlantischen" (USA-Europa) und "pazifischen" (China-USA) Interaktionen und wechselseitigen Beeinflussungen werden dabei eine Rolle spielen.

Adrian Wagner: Wo liegt heute das Zentrum der Transformation? Eher noch im Atlantik oder schon im Pazifik?

Roland Benedikter: Meine Erachtens weiterhin im Atlantik: In der Beziehung, in den vielen Komplementaritäten, aber auch Gegensätzen und Wechselwirkungen zwischen den Bildungssystemen Europas und der USA. Und das wird noch auf absehbare Zeit so bleiben, weil die atlantischen Bildungssysteme global so lange führend oder zumindest beispielgebend bleiben werden, solange China keine Demokratie ist. Ohne Demokratie und die entsprechende Öffnung wird China niemals zum Westen aufschließen können - egal, was es auch investiert.

Adrian Wagner: Worin besteht der Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Erziehung?

Roland Benedikter: Im Gegensatz zu Europa hat in den USA die Durchlässigkeit, in vielen Aspekten auch bereits der Zusammenschluss zwischen verschiedenen Wissenschaften und Wissenspraktiken, darunter insbesondere der Geistes- und Sozialwissenschaften, eine lange Tradition. Namen wie Bruce Mazlish (*1923, MIT Boston), Ronald Inglehart (*1934) oder Immanuel Wallerstein (*1930) haben die intellektuelle Tradition über ein halbes Jahrhundert hin in Richtung interdisziplinäre Erziehung beeinflusst. Zentraleuropa hat hier noch starken Aufholbedarf. Das ist meines Erachtens deshalb der Fall, weil vor allem Mitteleuropa unter dem Eindruck des zweiten Weltkriegs das Humboldt-Modell der Erziehung, welches diesen Zusammenschluss bereits praktizierte und ausdrücklich multi- und transdisziplinär angelegt war, aufgab und durch eine sehr weitgehende, sehr früh einsetzende und durchgängige Spezialisierung von Bildungs- und Qualifikationsbiografien ersetzte. Zum eigenen Schaden, wie ich finde. Denn dadurch ging die Fähigkeit zu mehrdimensionaler Betrachtung von Problemen und zu interdisziplinärer Denkweise und Analyse verloren - zumindest als aktiver, bewusster Strukturbestandteil des Bildungssystems.

Adrian Wagner: Und die USA?

Roland Benedikter: Im Gegensatz dazu übernahmen die USA das Humboldt-Modell von Mitteleuropa, behielten es relativ "rein" bei und setzen es bis heute konsequent um - was ihnen die globale Führungsrolle im höheren Erziehungs- und Bildungsbereich sicherte. Die Ironie ist, dass Europa heute sich an angloamerikanische Standards anpasst, die Amerika von Europa übernommen hat - die Europa selbst aber für ein halbes Jahrhundert über Bord warf.

Adrian Wagner: Was ist die Lehre für Europa?

Roland Benedikter: Wenn Europa in seinem Bildungsbereich gegenüber aufsteigenden Nationen wie China, Südostasien oder Lateinamerika nicht zurückfallen und eine globalisierungsfähige Erziehung will, wird es Humboldt wiederentdecken müssen. Und zwar nicht mehr nur in Lippenbekenntnissen oder den eher oberflächlich bleibenden formalen Angleichungen von Qualifikationsgraden im Rahmen des Bologna-Prozesses, sondern mittels Entwicklung konsequent transdisziplinärer Curricula; ganzheitlich und multidisziplinär ausgerichteter Forschungseinrichtungen und -projekte; sowie in der Berufungspraxis von Lehrenden. Wir brauchen die Wiederbegegnung mit Humboldt wie das tägliche Brot.

Adrian Wagner: Worin sehen sie die größten Herausforderungen an die Erziehung der Generation der zwischen 14 und 35 Jahren alten Menschen in den kommenden Jahren - also derjenigen, die heute als "Jugend" gelten?

Roland Benedikter: Das ist das grundlegende Thema für Europas Zukunft. Die größte Herausforderung ist, der Jugend dabei zu helfen und sie nicht nur temporär, sondern nachhaltig dazu in die Lage zu versetzen, die wirkliche Komplexität der heutigen Veränderung zu verstehen. Weil immer mehr Dinge mit immer mehr anderen zusammenhängen, werden die Ordnungslogiken gesellschaftlicher Prozesse, aber auch die dazugehörigen Diskurs- und Argumentationsformen vernetzter, mehrschichtiger, aufeinander hin durchlässiger. "Richtig" zu denken heißt in Zukunft, multidimensional, integrativ, in "zusammengesetzten Schichten" (Thomas Fararo) und synchron zu denken. Erst dann kann man begründete Entscheidungen treffen.

Adrian Wagner: Ein Beispiel?

Roland Benedikter: Denken Sie etwa an die Politiken der muslimischen oder konfuzianisch-taoistischen Welt, ja selbst der neo-religiösen USA. Sie können all diese Politiken nicht mehr verstehen, wenn sie nur klassische Politikwissenschaft mit ihrem Fokus auf Partei- und Institutionenpolitiken als Grundlage haben; sie brauchen nun unabdingbar auch ein vertieftes Verständnis von Religion, ja von Weltreligionen dazu. Und Sie können die Wirtschafts- und Finanzkrisen der Gegenwart nicht wirklich in ihrer Hartnäckigkeit und in ihren tieferen Hintergründen verstehen, wenn Sie nicht eine Grundlage in Sozialpsychologie, zivilisatorischen Typologien, ihrer Interaktion und ihrem Wandel haben. Sie können, um dies noch etwas zu spezifizieren, zum Beispiel die wachsende Dialektik zwischen US- und europäischen Krisenbewältigungs-Vorstellungen nicht verstehen, wenn Sie nicht um die unterschiedlichen Zivilisations- und Kulturmodelle wissen, einschließlich der historisch gewachsenen Wirtschafts- und Sozialkulturen, und um den Ort der Wirtschaft im gesellschaftlichen System. Sie können aber auch klassische kulturelle Identitätsmuster nicht mehr ohne ein Wissen um Grundgesetze von Ethnopolitiken verstehen, welche heute die Welt zunehmend prägen und ihrerseits wiederum stark von Transformationen in Wirtschaft und Religion informiert sind.

Adrian Wagner: Das klingt in der Tat nach wachsender Komplexität. Bildung muss darauf reagieren.

Roland Benedikter: Ja. Was wir benötigen, ist ein inter- und transdisziplinäres Gesellschaftsverständnis, wenn wir die Probleme der heutigen Welt noch angemessen angehen wollen. Mit einem Wort: Wir müssen die neuen Generationen auf ein komplexitätsadäquates, und das heißt: multidimensionales Verständnis vorbereiten, indem wir es mit ihnen so früh und so konsequent wie möglich einüben. Und natürlich, indem wir dazu eine zur Breitendidaktik geeignete Methode entwickeln.

Adrian Wagner: Wie kann das geschehen? Und wo steht Europa diesbezüglich heute im internationalen Vergleich?

Roland Benedikter: Ein stärker "ganzheitliches" Verständnis kann angesichts des Problemniveaus nicht mehr zufällig oder - wie heute noch meist üblich - instinktiv durch einzelne Lehrende geschehen. Sondern es muss auf einer entsprechend gewollten transdisziplinären Erziehungs- und Studienorganisation beruhen. Diese hat Mitteleuropa noch kaum. Es muss sie aber dringend schaffen, wenn es nicht hinter die USA und aufstrebende Mächte wie China zurückfallen will. China zum Beispiel, aber darüber hinaus auch große Teile von Südostasien, darunter Korea und zunehmend auch Japan, strukturieren bereits seit Jahren ihren gesamten Erziehungsbereich in Richtung einer konsequenten Multi-, Inter- und Transdisziplinarität (diese drei Worte beschreiben drei verschiedene Dimensionen, die nun zusammenwirken müssen - wie, müssten wir genau erörtern!), hin zu komplexitätsadäquaten Verständnisformen. Europa hat im Vergleich hier - neben der Schaffung einiger interdisziplinär spezialisierter Think-tanks - vor allem im Breitenbereich, das heißt in den Grundlagen des Bildungssystems, bisher noch zu wenig getan. Es scheint zu glauben, dass mit der Angleichung der Qualifikationsformen an das anglo-amerikanische System wie Bachelor, Master und PhD das Wesentliche getan ist. Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss.

Adrian Wagner: Wie könnte man die nötige Erneuerung inhaltlich und curricular umsetzen?

Roland Benedikter: Ich schlage dazu einen sieben-dimensionalen Ansatz vor. Dieser müsste die sechs typologischen Kerndimensionen des heutigen globalen Wandels abdecken: Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demographie und Technologie, die verschiedene Rationalitätstypen, Strukturordnungen und Diskursformationen darstellen, die sich ganz unterschiedlich, aber immer stärker ineinanderwirkend in den Raum der Globalisierung hineinstellen. Und dazu auch noch die - daraus hervorgehende - siebte Dimension, die aus Ganzen dieser sechs Dimensionen besteht, das mehr ist als die Summe seiner Teile und deshalb auch auf keine Einzeldimension reduziert werden kann. Eine Ausbildung in den Grundlagen, den Wechselwirkungen und der wechselnden Schwerpunkte dieser Dimensionen sowie in der - durch Hyperkomplexität und Tiefenambivalenz gekennzeichneten - Gesetzmäßigkeit des sich daraus ergebenden Ganzen müsste im Prinzip künftig für jeden Bildungslebenslauf, unabhängig von seiner Spezialisierung, verpflichtend sein. Ich meine damit kein "Studium generale", sondern viel mehr: einen roten Faden einer zeitgemäßen Bildungsbiografie. Am besten wäre, den Umgang damit rhythmisch - durchaus im Sinn eines "Epochenunterrichts" - einzuüben. Das heißt durch einen Schwerpunkt in der Grundschule, die Wiederaufnahme in der Mittelschule, dann wiederum in der Oberschule und dann mindestens einmal im tertiären Bereich, also im Universitätsstudium sowie in "Post-doc" Bereichen und der Erwachsenenbildung. Aber natürlich wären auch andere Formen denkbar. Wichtig ist nur, dass die Multidisziplinarität konsequent, anwendungs- und phänomenorientiert im Zentrum steht.

Adrian Wagner: Geht es dabei im wesentlichen um das, was heute oft "Komplexitätsmanagement" genannt wird?

Roland Benedikter: Nein, sondern um ganzheitliches Verstehen. Das ist etwas ganz anderes. Es geht ausdrücklich nicht nur um "Komplexitätsmanagement"; das wäre eine grobe Reduktion auf Machen und Bewältigung. Es geht aber um viel mehr: Um Öffnung, um ein umfassenderes Verständnis, um eine angemessenere Stellung zu dem, was uns umgibt.

Adrian Wagner: Im einzelnen? Ein "Mehr" als "Über-Funktionalität-Hinaus" scheint doch eine sehr anforderungsreiche Aufgabe?

Roland Benedikter: Gehen wir die sieben Kern-Dimensionen kurz durch. Die erste und zur Zeit vielleicht wichtigste Dimension ist es, in Grundzügen zu verstehen, wie die Wirtschaft bzw. das Finanzsystem funktioniert. In dieser Hinsicht ist die Breitenausbildung der Jugendlichen, sei es in den Mittel- und Oberschulen, sei es bis zum Abitur, aber auch danach an den Universitäten weitgehend unzureichend. Das Gebiet der "Wirtschafts- und Finanzbildung für alle", das in den USA "financial literacy" oder "finanzielle Alphabetisierung" genannt wird, ist in Europa noch nicht erwähnenswert entwickelt. Weil sie zu 90% keine Ahnung haben, wie das Finanzwesen, wie das Kapital in unserer postmodernen, globalisierten Welt funktioniert, sind viele "Jugendliche" mit einem Verstehen der Bezüge zwischen Finanzkrise, Schuldenkrise und täglichem Leben überfordert. Das muss sich ändern, wenn wir die großen Richtungsentscheidungen der kommenden Jahre demokratisch treffen wollen.

Adrian Wagner: Also sollen Schüler und Studenten zuallererst "Das Kapital" von Marx (wieder) lesen?

Roland Benedikter: Es gilt, die heutige multidisziplinäre Funktionsweise der Dinge frei und kritisch zu verstehen - und eben nicht mehr gebunden an Ideologie, die allzu oft unkritisch, weil gläubig macht. Es genügt da nicht mehr nur, wenn ich Karl Marx’ "Das Kapital" lese. Obwohl auch das heute im Bildungsbereich massiv unterbewertet wird. Selbstverständlich sollte jeder mündige Bürger das "Kapital" gelesen haben. Dieses Gelesenhaben würde ein riesiger Gewinn sein, individuell und sozial - ein gesamtgesellschaftlicher Gewinn also. Marx war selbst ja kein "Marxist", sondern konnte den "Kapitalismus" auf seine Art durchaus wertschätzen. Sie finden im "Kapital" nirgends eine Stelle, wo Marx inhaltlich sagt, er will über den Kapitalismus hinaus in eine nachkapitalistische Welt. Sondern es sagt im Grunde: "Das Kapital muss anders genutzt werden und allen Teilen der Bevölkerung zugutekommen; die Produktion muss anders laufen; die Distribution muss anders laufen, es muss Gerechtigkeit geben."

Adrian Wagner: Damit ist eine soziale Utopie beschrieben.

Roland Benedikter: Ja. Damit wäre das Kapital als Ausbeutungsverhältnis, als das er es für seine Zeit zu Recht beschreibt, aufgehoben. Gleichzeitig bleibt es als soziales Blut und als Mittel der Zukunftsantizipation, also der Hereinlockung von Zukunft in die Gegenwart, bestehen und wird bezogen auf das Wohl aller weiterentwickelt. Genau darum geht es heute, im Gefolge der längsten und umfassendsten Krisen des "postmodernen" Kapital- und Finanzsystems, mehr denn je. Vielleicht zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wird das auch in breiter und grundlegender Weise erkannt auch von denen, die die Entscheidungen treffen. Damit ist Marx sehr aktuell, und sein Denken wird heute auch in den USA neu entdeckt von den "99%" und "Occupy Wall Street" Bewegungen. Die Marxschen Gedanken können heute weiterhelfen, aber sicher nicht mehr im Sinn des sogenannten "Marxismus". Sondern jenseits ihrer Entstehungsbedingungen im Sinn eines heute zeitgemäßen "Metamaterialismus".

Adrian Wagner: Also sollte die heutige Jugend, die in eine "andere" Vision des Kapitalismus voraus will, nicht mehr "links" sein? Aber wenn ich Sie richtig verstehe, auch nicht mehr "rechts"?

Roland Benedikter: Beides nicht. Es reicht heute nicht mehr, nur eine Ausbildung in eine bestimmte weltanschauliche oder ideologische Richtung zu haben, und einen Blick auf die Dinge aus ihr heraus. Sondern sie müssen versuchen, aus ihren eigenen Lebens-Zusammenhängen heraus reflektierend über das, was sie umgibt, die Grundmechanismen des Kapitals zu verstehen. Genau das geschieht heute in breiten Teilen der amerikanischen Mittelklasse. Aus Betroffenheit, unmittelbarem Leiden wird Bewusstsein gebildet. Die Allerwenigsten haben irgendetwas von Marx gelesen, kommen aber zu ähnlichen Schlüssen - aus ihren eigenen Beobachtungen, ihrer eigenen Lebenssituation heraus. Das kommt einer echten Revolution gleich. Das Bildungssystem müsste das, was heute ohnehin in den Bevölkerungen der modernen Gesellschaften geschieht, aufgreifen und institutionalisieren. Leider haben wir dazu noch zu wenig Ansätze in unserem Bildungssystem, jedenfalls keine flächendeckenden.

Adrian Wagner: Worin liegt das Problem?

Roland Benedikter: Das Problem ist, dass das heutige System Spezialisten mit Spezialansätzen bevorzugt, ja fast ausschließlich auswählt als Lehrende, und ausbildet als Studierende. Das ganze Schulsystem, das ganze Bildungssystem müsste in einer viel mehr generalistischen Weise angelegt werden. Eine Ausbildung im kritischen Verständnis der Grundlagen des Kapitals, des Verhältnisses zwischen Realwirtschaft und Spekulationswirtschaft, und was dies dann mit der Gesellschaft in verschiedenen Teilen der Welt tut, zum Beispiel. Und die Frage, wie sich das auf dem Globus einerseits lokal unterschiedlich auswirkt und wie sich das andererseits dann zu einem Puzzle verbindet. All dies müsste flächendeckend im Sinne einer neuen "Humboldt-Konzeption der Bildung" verpflichtend vorgesehen werden. Jeder - ob Handwerker, Universitätsprofessor, Zivilgesellschafter, Kapitalmagnat oder Umweltschützer - müsste diese Ausbildung in einer zukünftigen Wissensgesellschaft durchlaufen haben.

Adrian Wagner: In einem Slogan zusammengefasst?

Roland Benedikter: Macht euch kundig jenseits von Gut und Böse Reduktionen! Versucht vieldimensional zu verstehen - erst dann habt ihr die Skulptur der Realität zur Anschauung gebracht. Und zwar nicht in dem Sinne, das man sagt: Ich gehe jetzt protestieren gegen die Frankfurter Banken, weil da sind auf der einen Seite die Bösen und die, die nicht mit Geld arbeiten; und auf der anderen Seite diejenigen, sich ihre Kartoffeln selbst anbauen, das sind die Guten. Sondern wir müssen zunächst einmal Anteil nehmend und anerkennend verstehen, d.h. von innen heraus nachvollziehen, was da insgesamt zwischen den verschiedenen Spielarten und Handhabungsweisen des Kapitals geschieht. Und dann sollten wir eine kritische, emanzipative, darauf aufbauende, aber weitergehende Perspektive entwickeln.

Adrian Wagner: Das war jetzt eine Dimension von den sechs, die sie aufgezählt haben: Die Wirtschaft. Was wäre die zweite?

Roland Benedikter: Die zweite Dimension ist die Politik. Sie müssen ganz unbedingt die Globalisierung im Bereich herkömmlicher politischer und diplomatischer Beziehungen verstehen, und das Politische zugleich weiter verstehen als Partei- und Institutionenpolitik, wie es die bisherigen Politikwissenschaften noch weitgehend ausschließlich tun. Der wichtigste Bereich heute ist die "kontextuelle Politikanalyse", das heißt das Verstehen der rasch zunehmenden politischen Bedeutung von Faktoren wie Sozialpsychologie, Philosophien, Weltanschauungen, Ideengeschichte, Mentalitäten. Auch hier gilt: Wir sind noch weit davon entfernt, uns in einer generalistischen Weise und unter Einbeziehung von Kontextpolitiken im Erziehungsbereich nachhaltig zu bewegen. Doch die Fragen, die sich hier stellen, sind grundlegende: Was bedeutet es, dass heute eine multipolare Welt der "competing modernities" (Martin Jacques) entsteht, in der der Westen nicht mehr die alleinige Führungsrolle hat? Und was hat das für kulturelle Implikationen? Warum steht etwa Amerika von seiner kulturellen Psychologie her eher expansiv da? Hat das seine Gründe im "Individualitätsprinzip", im Recht des Verfolgens des persönlichen Glücks, wie es in der amerikanischen Verfassung von 1776 angelegt ist? Warum hat China dies nicht? Versucht es daher auch, ganz anders mit seiner neuen politischen Rolle umzugehen - auf Grundlage seiner taoistisch-konfuzianischen Kulturgrundlagen? Ist es wirklich "der Berg, der sich nicht bewegt", oder, wie der Name "China" nahelegt, "das Zentrum nicht nur der Welt, sondern des Kósmos"? Wie wirken heute die "Post-Empire-Depression" des Westens, eher bewusst durchlebt in den USA und eher unbewusst in Europa, mit der "unaufhaltsamer Aufstieg"-Psychologie Asiens zusammen? Welche politischen Grundmuster entstehen daraus? Wird die Zukunft der Welt, wie die heutige Führungsriege der USA glaubt, wirklich nicht mehr im Atlantik, sondern im Pazifik entschieden werden - in der Konfrontation zwischen liberalen und illiberalen, demokratischen und autoritären Gesellschaften, mit den zwei Führungsmächten USA und China? Was bedeutet das für Europa? All dies sind Dimensionen, zu denen die Jugend Kontakt braucht. In Zukunft nicht mehr nur Englisch, sondern auch Chinesisch zu lernen ist gut. Aber wir müssen mehr können als nur Sprachen. Wir brauchen ein Verständnis für die neue Weltkonstellation.

Adrian Wagner: Drittens?

Roland Benedikter: Drittens die Rolle der Kultur im engeren, in modernen Kulturen meist säkular und laizistisch gebrauchten Sinn. Dazu gehört zum Beispiel die sogenannte "Kreativitätsindustrie", wie man sie heute wohl nennt, mit Architektur, Kunst, Film, Musik, Literatur. Sie bildet Selbstverständnisse ab und aus, und sie macht Verfahrensweisen und Habitus, also soziale Grundhaltungen, weitergebbar. Sie verwirklicht in diesem Sinn ein Verständnis von Kultur als das "Tradierbare des Sozialen". Dazu gehört aber auch die Rolle von Kultur im Sinn der Definition von Gruppenzugehörigkeiten und kollektiven Seinsverständnissen. Aspekte davon sind zum Beispiel Ethnizität, traditionelle Formen von "Identität" oder das sozial bedingte Geschlechterverhältnis. Nicht nur die globale Migration macht diese letzteren Aspekte von Kultur zu einem immer wichtigeren Faktor, sondern auch die weltweit rasch zunehmenden Ethno-Nationalismen. Diese führen zur immer rascheren Aufspaltung von Staaten und zur Unabhängigkeit von immer kleineren, oft auch nicht lebensfähigen Gebilden, die - aus ethnischen und Kulturgründen und aufgrund der entsprechenden Konflikte - sich als unabhängig erklären, aber von Anfang an "failed states" ("gescheiterte Staaten") sind wie zum Beispiel zuletzt Kosovo oder Südsudan, weil sie sich eigentlich selbst nicht erhalten können. Kultur im Sinn der Begründung von Nationalstaaten ist eine Form des 18. und 19. Jahrhunderts, die längst überholt ist. Trotzdem wirkt sie immer weiter. Hatten wir noch im 19. Jahrhundert etwa 50 große Staaten, so sind es heute weit über 150 - Tendenz steigend. Kultur muss also, wie Wirtschaft und Politik, in ihrer transdisziplinären Breite verstanden und zusammengeschaut werden als Impuls- und Diskursfaktor der heutigen Phase der Globalisierung - kein leichtes, aber ein unverzichtbar notwendiges Unterfangen. Denn ohne die Kultur als eigenständige Rationalitätsform zu berücksichtigen, können wir künftig weder Wirtschaft noch Politik angemessen verstehen. Das zeigt zum Beispiel das dauernde Aneinander Vorbeireden zwischen den USA und Europa, wenn es um Bewältigungsstrategien der Wirtschafts- und Schuldenkrise geht. Beide haben völlig unterschiedliche Auffassungen nicht deshalb, weil sie anders mit Kapital in offenen Gesellschaften umgehen, sondern weil sie aus völlig unterschiedlichen Wirtschafts- und Finanzkulturen heraus Lösungen suchen. Wenn diese kulturellen, historisch begründeten Unterschiede in den Grundauffassungen nicht bewusst gemacht werden, wird es auch weiterhin keine nachhaltigen gemeinsamen Lösungen geben.

Adrian Wagner: Viertens?

Roland Benedikter: Viertens müssen sie die Rolle der Letztbegründungsdiskurse, einschließlich der Religion und der heute sehr unterschiedlichen Spielarten von Spiritualität, in der Welt in Zukunft verstehen. Sie müssen verstehen, wie diese zusammenwirken mit Wirtschaft, Politik und Kultur, sie wechselseitig durchdringen und vernetzen. Sie müssen verstehen, dass Zivilreligion, das Glauben an die Ideale von Demokratie, Freiheit und Individualität, nicht dasselbe ist wie mythologische Religion, das Glauben an übergeordnete, kollektiv verstandene Heilsgeschichten meist eschatologischen oder messianischen Zuschnitts. Das bedeutet: Sie müssen in der kommenden Weltkonstellation von klein auf verstehen, dass Spiritualität nicht gleich Spiritualität und Religion nicht gleich Religion ist. Ganz wichtig wird sein zu unterscheiden zwischen progressiven und regressiven Formen der Spiritualität, was heute ja noch überhaupt kaum erfolgt. Was wäre denn eigentlich eine progressive Art, in mir Letztbegründungswerte zu finden, zu pflegen und dann auch aufzuheben? Wie geschieht dies auf konstruktive Weise, damit ich diese weniger explizit in die Welt hinauspredige, sondern damit ich sie eben als ontologischen Vollzug in mir lebe? Was ist der Unterschied einer progressiven Haltung im Sinn einer Erfahrungsspiritualität zu den oft eher traditionalistischen konfessionellen Glaubensreligionen, wo ich etwas glaube, was mir gesagt wird von formal, von hierarchisch höher gestellten Menschen? Was ist der Unterschied zwischen geistiger Erfahrung, die bewusst und geordnet induziert wird, und dem traditionellen Verständnis letzter Sinnbegründung als Erzählung, als Geschichte? Wie wirkt sich das ganz grundlegend verschieden aus, wozu fühle ich mich hingezogen, und wo will ich hingehören? Das sind Orientierungsfragen für den heutigen Jugendlichen, die man nicht unterschätzen kann. Ich bin manchmal konfrontiert mit Schülern meiner Frau. Die ist College-Professorin und die Schüler sind 17 bis 19 Jahre alt. Die leben diese Fragen in einer fast schon gewaltsamen Intensität. Den Jugendlichen wird ja schulisch, akademisch überhaupt nichts in diese Richtung an Unterscheidungsinstrumentarien gegeben. Meist kommen sie zu ihren individuellen Richtungsentscheidungen nur durch Zufall. Da ist wenig kritisch strukturierende Komponente in ihrem üblichen Curriculum, doch genau das müsste es geben. Wir brauchen die vierte Dimension: Die Auseinandersetzung mit progressiven und regressiven Formen der Letztbegründung, und mit ihrer Dialektik in der heutigen Welt.

Adrian Wagner: Und die fünfte Dimension?

Roland Benedikter: Fünftens: Ein guter Mentor müsste Jugendliche auf die neue Rolle der Demographie vorbereiten. Das heißt gerade diejenigen, die versuchen, "Metamaterialisten" zu sein, müssten verstehen, wie wichtig in Zukunft die demographischen Verschiebungen sind. Mit den Migrationsbewegungen, mit dem Aufstieg Chinas mit 1,4 Milliarden Menschen, mit dem Schrumpfen der westlichen Bevölkerungen, auf das ja nicht zuletzt der große deutsche Staatsmann Helmut Schmidt immer wieder als zentralen Globalisierungsfaktor der Zukunft hinweist, sind tiefgreifende Schwerpunktverlagerungen verbunden. Die Leute fragen mich oft, was meine größte Hoffnung für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts ist, und worin meine größte Sorge besteht. Ich sage dann immer: Meine größte Hoffnung ist, dass China eine Demokratie wird. Dann wird es im Pazifik keinen - kalten oder heißen - Krieg geben, denn Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Und meine größte Sorge? Dass China eine Demokratie wird. Denn dann wird die Demographie endgültig zum entscheidenden Faktor der globalen Systemverschiebung werden. Heute hat China 1,4 Milliarden Menschen, von denen aber nur 40, 50 Millionen kreativ sein können, der Rest wird vom Regime ruhiggestellt, weil China keine Demokratie ist. Dagegen haben die USA 305 Millionen Einwohner, Europa 500 Millionen, und alle von ihnen können kreativ sein, weil wir Demokratie haben, also Individualität und Freiheit. China wird niemals zum Westen aufschließen, weder technologisch, im Know-how, noch sozial, solange es keine Demokratie ist. Wenn China aber demokratisch sein wird, dann hat es plötzlich 1,4 Milliarden kreative Menschen. Dann wird es für den Westen in Bezug auf seine Innovationsführerschaft eng, weil dann der Faktor Demographie voll zum Tragen kommt.

Adrian Wagner: Sechstens?

Roland Benedikter: Sechstens: Die rasch zunehmende Rolle der Technologie. Viele von uns unterschätzen diesen Systemdiskurs und übersehen, dass er mittlerweile eine ganz eigene Rationalitätsform ausgebildet hat, die unabhängig von den anderen wirkt, von diesen nicht mehr kontrolliert wird und jeden Tag massiv an Bedeutung zunimmt. Der Systemdiskurs der Technologie ersetzt einerseits immer rascher und umfassender den Systemdiskurs der Kultur, indem sie Selbstverständnisse und Identitätspraktiken ständig entlokalisiert und in einen globalen Zusammenhang hineinstellt - ob wir das wollen oder nicht. Aber der technologische Diskurs ist heute noch viel mehr. Die Technologie hat heute auch einen Schwellenpunkt der menschlichen Entwicklung erreicht, wo Sie z. B. in Gestalt des "Trans­humanis­mus" eine Weltanschauung haben, die den Menschen mittels Verschmelzung seines Körpers mit Technologie in ein jenseits seiner bisherigen physischen Gestalt überführen will. Die Universität Oxford hat an ihrer James Martin 21st Century School das bislang einzige "Zukunft-der-Menschheit"-Institut gegründet, dort dominiert diese Weltanschauung. Ähnliches geschieht an der Universität Reading und an führenden Universitäten und Forschungseinrichtungen weltweit. Hier wird Technologie nicht mehr zum Entwicklungs-, sondern - erstmals in der Geschichte - zum Überwindungsfaktor des Menschen. Und damit auch der gesamten bisherigen Geschichte des Menschseins, die - einschließlich der Kultur- und Geistesgeschichte aller Zivilisationen - als Randnotiz und bloß vorübergehende Illusionsphase begriffen wird, die sehr kurz dauerte und bald vorüber sein wird.

Adrian Wagner: Was sagt der Transhumanismus?

Roland Benedikter: Der "Transhumanismus" sagt: Alles, was Menschen bisher an Wissen, Kunst, Kultur, Ästhetik produziert haben, war nur Ausdruck einer primitiven Phase. Das alles beruhte auf Nichtwissen und Nichtbewusstsein und war letztlich nur dem Bewusstsein eines Höhlenmenschen geschuldet, der im Grunde überhaupt nichts verstanden hat und Kultur nur brauchte, um seine unerträgliche conditio humana zu ertragen: zu sein, und zu wissen, dass Leiden und Sterben Inhalt und Ziel sind. Wir, so sagt der Transhumanismus, haben zum ersten Mal in der Geschichte mit dem Erreichen eines Schwellenpunktes der technologischen Entwicklung die Möglichkeiten, diese ganze Geschichte der Primitivität zu beenden. Letztlich, so sagen herausragende Vertreter wie Nick Bostrom oder Kevin Warwick, wollen wir das alles ja gar nicht, keinen Thomas Mann und keinen Wim Wenders und keine indische Philosophie, sondern wir wollen nicht mehr leiden, ein gesteigertes Bewußtsein und Verstehen und unsterblich sein. Deshalb wollen wir über den bisherigen Menschen hinaus, indem wir den Menschen zu einem Cyborg machen. Die technologischen Fähigkeiten dazu haben wir heute erstmals. Wir sollen und werden sie nutzen, denn dazu sind sie da.

Adrian Wagner: Wie soll das gehen?

Roland Benedikter: Am Ursprung des Menschseins hat der Mensch die Technik aus sich hervorgebracht und als seine Dienerin instrumentell genutzt. Das erste technologische Instrument war ein Beil, das sich ein Jäger zusammengebaut hat, indem er Wahrnehmung und Begriff aufspaltete und neu zusammensetzte: die Wahrnehmung "Ast" an einem Baum wurde vom lebendigen Organismus des Baums geistig abgetrennt, und zur "Axt" umgeformt, sodass der Jäger aufgrund dieser kognitiven Primäroperation dann tatsächlich den Ast zur Axt umwidmen konnte zum eigenen Vorteil. Am Ursprung der Technik stand die Abspaltung der Ich von seiner fraglosen Eingebundenheit in die Welt, und die Subjekt-Objekt-Spaltung. Das damit verbundene Heraustreten des Menschen aus der Natur haben die Weltmythologien "Ursprung" oder auch "Erbsünde" genannt - ein grundlegender Vorgang für das Werden des Menschen. Die Technik, ursprünglich im Dienst des Menschen, hat dann eine rasche, sowohl in Geschwindigkeit wie Tiefe exponentiell zunehmende Entwicklung durchgemacht. War sie ursprünglich sozusagen eine Verlängerung, ein Medium und eine Extension und bis zu einem gewissen Grad auch eine Prothese des menschlichen Körpers, mit der er besser leben konnte, so wurde sie über viele Zwischenschritte in der Moderne vom Objekt des Menschen zu seinem neuen Subjekt. Das bedeutet: die Technik, die aus dem Menschen hervorgegangen ist und sich sozusagen exterritorialisiert hat, in dem die Funktionen zum Beispiel der menschlichen Hand durch Hammer, Beil usw. erweitert wurden, kehrt heute als Souveräne von ihrerseits von außen in den menschlichen Körper zurück. Sie beginnt, den menschlichen Körper nicht nur zu infiltrieren, sondern zu ersetzen. Dies geschieht zum Beispiel in Gestalt von Gehirnimplantaten, in Gestalt von hochentwickelten Prothesen wie beim südafrikanischen Athleten Oskar Pistorius, dem seine Beinprothesen mittlerweile nicht mehr einen Nachteil, sondern einen Vorteil gegenüber seinen "gesunden" Konkurrenten verschaffen. Damit ist eine Umwertung aller Werte und eine Umkehrung aller Verhältnisse verbunden. Menschen werden durch Roboter ersetzt, künstliche Intelligenz ersetzt Funktionen der menschlichen Vernunft, "Hybridwesen" entstehen. In England - gerade auch im Umfeld des "Zukunft-der-Menschheit"-Instituts - haben Wissenschaftler wie Kevin Warwick bereits aktiv damit begonnen, ihren gesunden Körper durch technologische Substrate zu ersetzen. Sie wollen bewusst und aktiv ein Cyborg werden und glauben, damit die Speerspitze der Menschheit zu bilden.

Adrian Wagner: Was bedeutet das?

Roland Benedikter: In dem Moment, wo die Technik - wie gerade heute zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte! - in breiter, nachhaltiger Weise inversiv wird und in den menschlichen Körper eindringt, haben Sie eine ganz neue Phase der Menschheitsentwicklung, die einige Philosophen allerdings schon vorhergesehen haben, wie etwa Martin Heidegger oder Alvin Toffler. Wobei ich beide wegen ihrer Einseitigkeiten kritisiere. Martin Heidegger war ein Apokalyptiker der Technik und konnte - in stark mythologisch verbrämten Sichtweisen - nur das Schlechte, Untergehende an dieser Entwicklung sehen. Das ist einseitig und daher genau so abzulehnen wie der Enthusiasmus der technologischen Fortschrittsideologie, den wir bei Alvin Toffler und der Mehrzahl heutiger Trend- und Zukunftsforscher finden. Heidegger und Toffler sind im Grunde beide Mythologen. Sie betrachten die gegenwärtige Entwicklungsphase der Technik mythologisch, als metaphysisch - entweder als das absolute Gut, das Gott ersetzt (Toffler), oder als das absolute Böse, das versucht, den Menschen von der Erde zu verdrängen (Heidegger). Beides erfasst Einzelaspekte dessen, was vorgeht, ist aber unvollständig und unzureichend. Die Wahrheit liegt wie meist in der ambivalenten Mitte. Auch hier brauchen wir, wie bei allem künftig, Multidimensionalität, die Fähigkeit zur Anschauung der Gegensätze in einem, d.h. Skulpturen-Denken, um dem Ungeheuerlichen dessen, was in unserer Zeit sich vollzieht, auch nur einigermaßen gerecht zu werden.

Adrian Wagner: Worin liegt der Unterschied zwischen einem heutigen jungen "Metamaterialisten", den Sie beschwören, und einem "Transhumanisten", wie er bereits existiert? Wollen nicht beide dasselbe: nämlich über den bisherigen kruden Materialismus, über die Begrenzungen der Materie, und also letztlich auch des menschlichen Körpers, hinaus?

Roland Benedikter: Was mir wichtig erscheint ist, dass ein "Metamaterialist" die Gefahren der Technologie weniger als solcher, wohl aber in Verbindung mit den heute zunehmend dominierenden, kritiklos-positiven Weltanschauungen, zu denen auch die Transhumanisten gehören, erkennt. Die "Transhumanisten" sagen: Es ist gut, wenn wir den menschlichen Körper technologisch aufrüsten, wenn wir ihn nicht sogar ersetzen. Das persönliche Ziel des Direktors des "Instituts für die Zukunft der Menschheit", Nick Bostrom ist es, sich in das Internet herunterzuladen, nämlich das, was er für sein "mind", und damit - in seiner Auffassung - für sein "Ich" hält, in technologischen Algorithmen zu reproduzieren bzw. virtuell zu rekonstruieren, und sich dann sozusagen als individuelle Formel unsterblich zu machen und allgegenwärtig als "reiner Geist" weiterzuleben, da Sie im Internet ja überall und nirgends zugleich sind. Für die Transhumanisten ist das einfach "gut", und durch einen menschlichen Körper zu gehen ist einfach "schlecht". Ob mit der Ersetzung des menschlichen Körpers dann auch möglicherweise das "Ich" verlorengeht, da Sie natürlich nicht einfach die Leber, die Nieren, das Herz, die Lunge ersetzen können, ohne dass das Auswirkungen auf das Selbst hat, ist den "Transhumanisten" völlig egal, da dieses "Ich" ja sowieso nur leidet. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Ein "Metamaterialist" lehnt technologischen Fortschritt nicht ab; aber er ist ein Neohumanist, dem das menschliche Ich der alles entscheidende, zentrale Wert ist, der geschützt werden muss vor denen, die den Menschen heute so radikal umbauen wie noch nie in der menschlichen Geschichte, aber letztlich nicht wirklich wissen, was sie da eigentlich tun.

Adrian Wagner: Was sind diese Transhumanisten eigentlich für Menschen? Sie sind einerseits strenge Wissenschaftler, anerkannt von den besten Universitäten der Welt, andererseits stark zukunftsorientiert in radikalen Weisen. Was motiviert sie? Sind sie einfach Technofreaks, oder ist da mehr dahinter?

Roland Benedikter: Das ist eine neue Kategorie von Menschen, die ich "materialistische Idealisten" nenne. Ein übertriebener Idealismus "nach oben" verbindet sich mit einem übertriebenen Materialismus "nach unten" in einer Weise, die noch vor wenigen Jahren, im Zeitalter ideologischer Polarisierung, undenkbar gewesen wäre. Heute verbinden sie sich "nach-ideologisch" zu einer gemeinsamen Strömung, die sie "Transhumanismus" nennen. "Transhumanisten" sind einerseits reine Idealisten. Die wollen das menschliche Leiden beenden. Sie wollen über die bisherige "conditio humana" hinausgehen in einen Raum des reinen Geistes. Aber sie konzipieren das andererseits paradoxerweise rein materialistisch, indem sie den menschlichen Körper durch einen Cyborg, durch technologisches Gewebe ersetzen wollen. Sie glauben, dies sei das Rätsels Lösung, um die Menschheit auf eine neue Stufe zu erheben.

Adrian Wagner: Wie kann man das beurteilen?

Roland Benedikter: Ein führender Vertreter hat mir einmal gesagt: Ja, wenn er das einmal geschafft hat in 20 oder 30 Jahren, mittels der fortgeschrittensten Technologien sich selber als Algorithmus im Internet zu rekonstruieren und dann dieses unverwechselbare, einmalige algorithmische Konstrukt, das ja nichts anderes sein kann als er selber, dort lebt, dann hat er ja nur noch eine Aufgabe: Nämliche diejenige, sich vor den Computer hinzustellen und sich seines Leibes zu entledigen, weil es ihn ja nicht zweimal geben kann. Ich habe versucht, mit ihm einen Pakt zu schließen. Da wäre ich dann gerne dabei, wenn er sich dann vor dem Computer das Messer ans Herz setzt und sich nur noch zu entleiben braucht, um alle Rätsel gelöst zu haben. Denn dann wird dieser Mensch das erste Mal merken, was wirklich ein "Ich" ist - und was nicht ein "Ich" ist. In dem Moment, wo er sich selber entleiben muss, wird er merken, dass das "Ich" etwas ganz anderes ist als ein reproduzierbarer Algorithmus in einem Computer. Eine ganz bedeutende Wegscheide liegt da vor uns für die Zukunft der Menschheit. Und die Jugend auf diese Wegscheide vorzubereiten, ist für mich eine wesentliche metamaterialistische Aufgabe.

Adrian Wagner: Fassen wir zusammen und ziehen die Schlussfolgerungen. Wir haben also sechs Dimensionen, aus denen sich zeitgemäße Bildung und Erziehung künftig transdisziplinär und multidimensional zusammensetzen muss. Worin besteht ihr Ansatz insgesamt? Und worauf verweist er in seinem Kern?

Roland Benedikter: Ich habe meinen Ansatz den Namen "System-Aktionstheorie" gegeben. Der Name versucht, das, was mit dem Ansatz gemeint ist, auf den Punkt zu bringen. Es geht darum, System und Individualität gleichermaßen wichtig zu nehmen, mittels der Individualität das System zu verändern und damit den großen Kampf zwischen Luhmann und Habermas mittels Integration zu beenden. Dazu müssen wir die sich heute vollziehende "globale Systemverschiebung" verstehen. Am besten geschieht das meiner Meinung nach, indem wir systematisch die Veränderungen in den sechs Feldern Wirtschaft, Politik, Kultur, Letztbegründung (einschließlich Religion und Spiritualität), Demographie und Technologie zu untersuchen, und dann zusammenzuschauen versuchen. Das Wesentliche dieser Zusammenschau wird dann eine siebente Dimension bilden, die dann im besten Fall der "Realitätsprozess" selbst wäre. Im Grunde bedeutet zeitgemäße Erziehung nichts anderes und (leider) nicht weniger, als die Jugend in diesem insgesamt sieben-dimensionalen Sinn vorzubereiten. Wichtig dabei ist zu sehen, dass all diese Felder, die ich genannt habe, auf dem Weg von einer materialistischen Grundierung und Funktionsweise hin zu einer immateriellen Funktionsweise sind. Es bleibt kein einziges dieser Felder rein materialistisch verhaftet, vielmehr bewegen sich all diese Felder in eine neue Dimension hinein, die in ganz anderer Weise funktionieren wird als vorher. Diese muss man antizipativ verstehen und sich handelnd aneignen. Wie man die Welt versteht, so bildet man sie zugleich auch aus - im Sinn: schafft man sie zugleich mit. Wer glaubt, Samuel P. Huntington habe mit seiner These vom "Kampf der Zivilisationen" nur die Realität abgespiegelt, wie er behauptete, wäre naiv; er hat mit seiner Theorie diese Realität mindestens so sehr mit geschaffen. Dasselbe gilt für die "System-Aktionstheorie", für den siebendimensionalen Ansatz zeitgemäßer Erziehung: Wir versuchen die Welt multidimensional zu verstehen, aber dabei erschaffen wir dieser Welt auch zugleich mit, und zwar in viel umfassenderen und weiterreichenden Weisen, als dies Erziehern im Alltag oft bewusst werden kann. Um heute bewusst "Metamaterialist" zu sein, muss man die Komplexität und die Relationen zwischen den sechs Grundfeldern und ihre Verbindung zu einem siebten Ganzen in sich ständig verschiebenden und verändernden Konstellationen verstehen. Dazu ist das Finden und die Analyse historischer Symptomatologien, das heißt von Schlüsselereignissen, -informationen und -entwicklungen wichtig. Wir müssen lernen, Schlüsselereignisse von unwichtigen Vorgängen zu unterscheiden. Ein Maßstab dafür kann sein, an wie vielen der sechs Grunddimensionen ein Ereignis zugleich Anteil hat: An je mehr, desto wichtiger ist das Ereignis. All dies müssen wir lernen, wir beherrschen es noch nicht. Jetzt können Sie natürlich zu mir sagen: "Ja, aber diese Herausforderung ist viel zu hoch! Unser Erziehungssystem wird es nie schaffen, in einer Sechs- oder gar Sieben-Eindimensionalität flächendeckend im Sinne der Humboldtschen Universität und des Humboldtschen Bildungsgedankens jedem Menschen eine kameralistische Ausbildung zukommen zu lassen. Das werden wir nie schaffen!"

Adrian Wagner: Ich würde nicht sagen, dass wir es nicht schaffen können, jedoch stellt es zweifelsohne eine gigantische Herausforderung dar. Was gibt Ihnen das Vertrauen, dass sie gemeistert werden kann?

Roland Benedikter: Selbstverständlich ist das eine hohe Anforderung. Aber die Globalisierung verlangt das von uns. Wir nähern uns einer Welt, in der der Komplexitätsgrad so hoch ist, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt. Und das wird die Zukunft sein. Schaffen wir dies nicht, dann wehe uns und dann wehe auch den "Materialisten", die dann zu reinen Protestiberern und Randalierern werden könnten. Und das wäre natürlich der größte Verlust, den man sich vorstellen kann. Das Vertrauen geben mir die heute lebenden jungen "Materialisten" selbst, die ich beobachte und die ich als außergewöhnlich begabt und aufmerksam erlebe, so wie einen ganz großen Teil der heutigen, erstmals wirklich globalisierten Jugend. Meine Studenten in Kalifornien, die gegen die Ungerechtigkeit des Wirtschafts- und Finanzsystems kämpfen und mit Pfefferspray niedergemacht werden auf brutalste Weise und dann aufstehen und weitermachen; oder meine Studenten in Berlin, die mit aller Kraft versuchen, die Welt, die sie umgibt, zu verstehen und vielleicht die offenste Generation aller Zeiten sind - sie alle sind wunderschön. Sie sind die Zukunft.

Adrian Wagner: Könnte man so etwas auch in Form eines Trainings für junge Erwachsene anbieten z. B. in einer mehrwöchigen Fortbildung, einem Training?

Roland Benedikter: Ja, das könnte man schon. Wichtiger ist aber, dass das über Jahre hin eingeübt wird, was bedeutet, es immer wieder neu zu versuchen, zu vergessen, dadurch zu verinnerlichen, dann wieder anzusetzen. Die Rhythmen und die Kontinuität sind das Entscheidende, und dass multidimensionales Verstehen über längere Zeiträume geübt wird. Was Sie zunächst brauchen, ist eine ganz einfache, aber grundlegende Bildung der "forma Dementis". Wie kann ich mich heute überhaupt verstehend in die Welt hinein stellen? Es ist alles so komplex, alles hängt mit allem zusammen, und gleichzeitig wirken ganz verschiedene Logiken. Die Rationalität des "Kapitals" ist eine ganz andere als die z. B. der "Spiritualität", zumindest an der Oberfläche scheint dies so. Die Logik, die sich in der Universalisieren Technik auswirkt, ist eine ganz andere als die Logik, die in der postmodernen Kultur wirkt usw., denn die Technik vereinheitlicht und homogenisiert die Menschen eher, die postmoderne Kultur setzt auf Unterschiede. All das überlagert sich und wirkt zusammen, noch dazu auf der Grundlage unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten zwischen den sechs Grunddimensionen sowie mittels Diskontinuitäten und Brüchen, auch Konkurrenzen und Konflikten zwischen den sechs Dimensionen. Was es daher zur Bildung einer ersten "forma Dementis" eigentlich zunächst einmal braucht, ist ein theoretisches Gebilde. Da kommen sie in Zukunft noch viel weniger darum herum als in der Vergangenheit. Auch in den am vollständigsten anwendungsorientierten Bereichen Emanzipation Engagements wie denen der Zivilgesellschaft muss man ja immer wieder festhalten: "Theorie" kommt vom Wort "Theorie", und dieses bedeutet "das Ganze sehen", "den Blick Gottes einnehmen". Da ist also der "Theos" mittendrin. Das heißt nichts anderes, als dass Theorie eine erste Möglichkeit ist, geordnet auf etwas Ganzes hinzuschauen. Ohne diese erste Grundlage wird das Weitere nicht gelingen - heute noch viel weniger als früher.

Adrian Wagner: Theorie also als Zentrum der künftigen Welt, der zeitgemäßen Seinsweise in ihr?

Roland Benedikter: Bis zu einem gewissen Grad ja. Eine ganzheitliche Sichtweise, die Entwicklungen und Zusammenhänge klärt, brauchen Sie in Zukunft in allen Bereichen; ob Sie Ästhetik-Professor oder Mechaniker werden, Sie sollten sich das angeeignet haben - in der einfachsten Form zumindest. Das wäre das Sieben-Dimensionen-Modell. Wenn man sich das dann erarbeitet hat - und das sollte jetzt nicht so sein, dass das 20 Jahre dauert, aber es sollte immer wieder erfolgen -, dann schafft dies einen Orientierungsrahmen. Das ist eine Sache von wenigen Wochen oder Monaten, dass man sich die Kernbegriffe der sechs Dimensionen in ihrer Grundfunktionsweise und den unterschiedlichen Rationalitätstypen erarbeitet hat. Danach geht es darum, wie diese Dimensionen prinzipiell typologisch wirken und wie sie sich heute innerlich dialektisch weiterentwickeln und zueinander in Beziehung stehen. Das kann man sich in kurzer Zeit in typologischer Reduktion aneignen, also in ganz einfachen Bausteinen, die trotzdem dann, wenn man sie zusammensetzt, schon sehr komplexe Denkweisen ermöglichen. Und dann - da bin ich ganz bei Ihnen - muss man die jungen Leute hinausschicken, muss versuchen, sie ganz konkret den Milieus, den sozialen Lebenswelten auch im Sinne des eigentlichen Begriffs von "Sozialarbeit" auszusetzen. Man muss versuchen, sie dazu zu inspirieren, mit diesen ganz konkreten Umgebungen, Lebenswelten und Lebensstilen unter Zuhilfenahme des Sieben-Dimensionen-Modells Erfahrungen zu machen. Damit sie die Theorie sozusagen in diese ganz konkreten Zusammenhänge hineintragen und daraus ableitend dann aber anhand der gemachten Erfahrungen wieder die Theorie weiterentwickeln oder falsifizieren können.

Adrian Wagner: Es geht also zentral um das Wechselspiel zwischen Realität und Theorie.

Roland Benedikter: Ja. Dieses Wechselspiel neu zu konzipieren und auch spannender als bisher zu machen, anregender für die Jugend, das wird die große Herausforderung sein - und zwar in allen Bereichen. Das brauchen Sie für die Wohlhabendsten, welche die oberen 10.000 der Gesellschaft ausmachen, und Sie brauchen das in Zusammenhängen, in denen Sie "Sozialarbeit" machen. Das brauchen Sie für Arbeitslose ebenso wie für Postdoktoranden. Das brauchen alle in die Zukunft blickenden Menschen der kommenden Jahre. Und die Frage wird sein, wie ich das auf die jeweilige Zuhörerschaft kalibriere. Aber ich kann ihnen sagen: In den Gruppen, mit denen ich in Amerika, zum Teil auch in Deutschland, mit diesem Ansatz der "globalen Systemverschiebung" arbeite, dort herrscht der größte Enthusiasmus auf allen Altersstufen von 15 bis 85. Ich muss zugeben, ich habe es noch nie nachdrücklich ausprobiert mit unter 15-jährigen oder mit über 85jährigen, und daher weiss ich auch nicht, ob das sinnvoll wäre.

Adrian Wagner: Wie lang wird es dauern, bis wir einen derartigen Ansatz konkret im Bildungssystem verankert zur Verfügung haben?

Roland Benedikter: Fest steht: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich ein multidimensionaler Ansatz, der natürlich dann wiederum "Transdisziplinarität" voraussetzt, als Methode durchsetzt. In Deutschland und Zentraleuropa wird das zwar bisher noch vernachlässigt, wohl auch aufgrund einer in der Geschichte begründeten Skepsis gegenüber "ganzheitlichen" Ansätzen. Ich glaube aber, es ist letztendlich nur eine Frage der Zeit, bis sich das im gesamten Bildungssystem durchsetzt. Wie gesagt: Die Kunst wird sein, das so zu machen, dass die jungen Leute fasziniert sind, dass sie begeistert sind für einen Ansatz, der eben multidimensional statt ideologisch ist. Der also die Ideologie eines Klassenkampfes ersetzt durch eine möglichst vielgestaltige Anschauung der Komplexität der heutigen Welt. Das ist meine Arbeit, und ich würde mir wünschen, dass ein größerer Teil dessen, was man heute die postmaterialistische Bewegung, einschließlich die Zivilgesellschaft mit all ihren Widersprüchen und in ihrer Vielgestaltigkeit nennt, sich nachhaltig in diese Richtung bewegt. Weil Sie, wie gesagt, mit den klassischen Ansätzen, so wichtig sie bleiben, z. B. dem "Marxismus, dem "Postmodernismus" oder dem "Kommunikativismus" nicht so an die Komplexität herankommen, wie das in Zukunft eben gefordert ist.

Adrian Wagner: Wie verhalten sich bei alledem Denken und Wollen? Also das Verstehen und das Handeln?

Roland Benedikter: Das "Hereinholen von Zukunft" in die Willensdimension ist zweifellos die zentrale Herausforderung der Globalisierung an den Bildungsbereich. Dazu ist die Rollenfindung im sozialen Zusammenhang wichtig, um progressiven Strömungen eine Stimme zu geben, sie zu organisieren, ihnen zur Selbstverwirklichung zu verhelfen. Das haben viele erkannt. Was mir dabei heute aber bei allem guten Willen in Zentraleuropa noch immer fehlt, ist die systematische "Multidimensionalität" - also diese Sechs- oder Sieben-Gestaltigkeit, die ich versuche einzubringen. Und was mir auch noch fehlt, ist eine breitere Ausstrahlung eine solchen multidimensionalen Denkens auf den Mainstream des Handels und - als notwendige Voraussetzung dafür - eine aktivere Auseinandersetzung mit ihm. Viele innovative Konzepte bleiben bisher bisher stark auf alternative, ich möchte jetzt nicht sagen Gegengruppen, aber doch auf eine bestimmte, zum Teil auch elitäre Klientel beschränkt. Heute würde ich mir eine konstruktivere und breitere Auseinandersetzung wünschen - auch mit dem zum Beispiel, was an Wall Street lebt oder in mehr traditionellen, materialistischen Formen unserer Gesellschaft. Weil davon alle nur profitieren können - vor allem jene, die heute immer noch Materialisten sind.

Adrian Wagner: Welche Beispiele kennen Sie, wo solch ein multidimensionaler Diskurs, wie Sie ihn vorschlagen, heute bereits konkret eingeübt wird und Realitätswirkungen zeitigt?

Roland Benedikter: Mit Kollegen gemeinsam versuche ich, diesen Ansatz einerseits für Universitätsstudenten umzusetzen, sowohl in den USA wie auch in Deutschland. Andererseits gibt es zunehmend auch Politikberatung in erstaunlich vielen Teilen der Welt, weil sowohl regionale wie nationale Regierungen notgedrungen immer stärker an multidimensionalen Zugängen zur Realität interessiert sind. Im wesentlichen besteht die diesbezügliche Arbeit aus Seminaren, Vorträgen und Beratungsleistungen, wo wir versuchen, zunächst in "Schnellsiedekursen" von zwei, drei Wochenenden die Leute in eine bestimmte Geisteshaltung zu bringen und sie von mehrdimensionalem Denken zu begeistern. Davon aufbauend erfolgt eine Vertiefung über frei zu wählende längere Zeiträume, oder auch konkrete Handlungsempfehlungen unter bestimmten Bedingungen und in sich ständig wandelnden Kontexten, die unser Modell zu immer neuen Analysen und Ansätzen der Problemlösung herausfordern. Verglichen mit dem, was notwendig sein wird, ist das Ganze zweifellos noch am Anfang. Ich denke aber, dass die quantitative Intensität rasch zunehmen wird, weil heute gerade durch die Krisen die Sensibilität für die Notwendigkeit einer komplexitätsadäquaten Sichtweise massiv gestiegen ist. Der multidimensionale Ansatz ist eine Antwort auf die Herausforderung unserer Zeit.

Adrian Wagner: Sie wollen dazu auch Ihr eigenes "Zukunft der Menschheit" Institut gründen?

Roland Benedikter: Ja. Mit Freunden wie Wolfgang Riehn und anderen arbeite ich derzeit an der Finanzierung. Das "Future of Humanity Institute" in Oxford braucht eine gesunde Konkurrenz aus neohumanistischer Perspektive. Warum sollten wir das Feld nur den "Transhumanisten" überlassen? Ich bin zuversichtlich, dass es Sponsoren gibt, die sich in diesen großen Zeitkampf der Paradigmen unserer Zeit, mit mittel- bis langfristig massiven praktischen Folgen, hineinstellen wollen.

Adrian Wagner: Da war jetzt sehr viel an Neuem. Wo liegt die Gesamtperspektive?

Roland Benedikter: Wie Sie wissen, gibt es im anglo-amerikanischen Bereich bereits seit dem 18. Jahrhundert den - zum Beispiel für das US-Selbstverständnis grundlegenden - Spruch "Crisis Creates Consciousness" ("CCC"). Dieser Spruch bezeichnet - bei aller Problematik, die ihm zugleich auch inhärent ist - etwas Richtiges, ja Zentrales für moderne, das heißt im Prinzip arbeitsteilige und also in ihrer Grundinklination pluralistische Gesellschaften: Eine Krise schafft immer Bewusstsein - und zwar mittels Distanzierung, Entfremdung, Differenzierung, Vergleich: also letztlich mittels kritischer Überprüfung der verschiedenen Aspekte individueller und sozialer Sphären. Man kann letztlich sogar sagen: Die Menschheit bildet Bewusstsein durch Leiden, was mittels des Begriffs "Ausdifferenzierung" beschrieben ist; und Krisen sind immer ein Teil davon. Das Interessante bezogen auf den heutigen Zeit-Augenblick ist: Wir gehen heute durch so außergewöhnlich viele Krisen zugleich, in so vielen Dimensionen gleichzeitig wie vermutlich noch nie in der Moderne.

Adrian Wagner: Ist das denn das zentrale Kennzeichen der Gegenwart, ihre Signatur sozusagen: Die synchrone Multidimensionalität von Krisen in allen sechs Grunddimensionen?

Roland Benedikter: Ja, das ist das Kennzeichen der Gegenwart: Dass heute ein Umbruch stattfindet in allen Dimensionen, die wir genannt haben, und zwar nicht mehr wie bisher in einer nach der anderen, sondern zugleich. Europa ist nun seit sechs Jahren ununterbrochen in Krise: Zunächst die Wirtschafts- und Finanzkrise, dann die Schulden- und Politikkrise. Es kriegt die "synchrone Multidimensionalität" der Krisen offenbar einfach nicht in den Griff. Deshalb sage ich: Die Zeit ist jetzt reif für ein umfassenderes, komplexitätsfähigeres Denken, obwohl es noch nicht sehr viel in diese Richtung gibt. Und genau hier: in der bisherigen Vernachlässigung eines konsequent transdisziplinären und multidimensionalen Denkens durch Europa und der sich nun bietenden Möglichkeit dieses Denkens wegen der offenbaren Schwierigkeiten oder gar des Scheiterns der bisherigen disziplinären Ansätze liegt die Chance auf Erneuerung des Bildungs- und Erziehungsbereichs mittels der Krise. Also auch die individuelle Chance derer, die gesellschaftspolitisch und sozial engagiert sind - und die zugleich beide Dimensionen des Wissens und Verstehens: das Erkennen mit der Erfahrung sozialen Engagements verbinden wollen.

Adrian Wagner: Für diese Chance sollten wir dankbar sein.

Roland Benedikter: Ja. Und vor allem: Wir sollten die damit verbundene Herausforderung annehmen!

Roland Benedikter dient als Europäischer Stiftungsprofessor für Zeitanalyse und Interdisziplinäre Politische Soziologie am Orfalea Center for Global and International Studies an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und am Europa Zentrum der Stanford Universität. Seit 2011 auch Lehrbeauftragter für multidisziplinäre Zeitanalyse an der Viadrina Universität Frankfurt/Oder. Autorisierte Internetseiten: Kontakt: rben@stanford.edu.

Zugehörige Dateien:
Ungekürzte Fassung von: "Wiederbegegnung mit Humboldt. Die Zukunft der Erziehung: Mehrdimensionalität, Multidisziplinarität, Integration zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften. (24.09.2012).Download (132 kb)
Gekürzte Druckfassung von: "Wiederbegegnung mit Humboldt. Die Zukunft der Erziehung: Mehrdimensionalität, Multidisziplinarität, Integration zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften. (24.09.2012). Wie abgedruckt in Forum Wissenschaft 03/12.Download (159 kb)

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