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Grenzgänger

15.03.2007: Nicos Poulantzas: politisch und theoretisch

  
 

Forum Wissenschaft 1/2007; Foto: Hermine Oberück

Nicos Poulantzas wäre in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Nicht in dessen Dogmen, aber mit den Fragen des Marxismus und an ihnen entlang argumentierend, erkundete er gesellschaftliche und politische Prozesse teils lange bevor sie sich in der Realität bemerkbar machten. Ein Erbe ist anzutreten und fruchtbar zu machen. Lars Bretthauer führt in es ein und zeigt, woran mit Poulantzas weiter gearbeitet werden kann.1

Die Suche nach emanzipatorischen Handlungsperspektiven ist seit der Genese moderner Staatlichkeit immer auch eine Frage nach dem Umgang mit staatlichen Institutionen, deren Veränderung, Instrumentalisierung oder Außerkraftsetzung gewesen. Dies zeigt sich auch in den heutigen politischen Bewegungen, sei es in der globalisierungskritischen, den Linksparteien Südamerikas oder der deutschen Linkspartei, die alle versuchen, ihre Ziele über den Staat durchzusetzen. All diesen politischen Bewegungen liegen ausformulierte oder stillschweigend vorausgesetzte Annahmen über die Struktur und Veränderbarkeit des kapitalistischen Staates zu Grunde.

Der griechische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas (1936 bis 1979) widmete sich diesen Fragen Zeit seines Lebens aus der Perspektive der marxistischen Gesellschaftstheorie. Grundlegend für seine theoretische Entwicklung war seine akademische Ausbildung in Frankreich, wo er zusammen mit Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty arbeitete und sich im Umkreis des französischen Strukturalisten Louis Althusser bewegte. In seinem Spätwerk begann Poulantzas sich vom strukturalen Marxismus zu distanzieren und sich stärker mit Autoren wie Antonio Gramsci und Michel Foucault auseinanderzusetzen, um den jeweiligen Konjunkturen von Kräfteverhältnissen und lokalen Disziplinierungstechniken in seiner Staatstheorie einen größeren Raum zu geben. Als Folge von Depressionen nahm sich Poulantzas 1979 das Leben.2

Poulantzas heute lesen

Aus heutiger Perspektive ergibt der Rückblick auf die Arbeiten von Poulantzas ein vielschichtiges Bild. Es resultiert sowohl aus seinen Forschungsgegenständen, seinen theoretischen Interventionen als auch dem historischen Kontext seines Schaffens. Dabei weisen Poulantzas’ Schriften Merkmale auf, die aus heutiger Sicht ungewöhnlich sind bzw. durch theoretisch wie historisch bedingte Grenzgänge bei der praktischen wie theoretischen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Staat zu ihrer Zeit neue Terrains öffneten.

Im Verhältnis zur heute stark ausgeprägten Arbeitsteilung und Spezialisierung im sozialwissenschaftlichen Feld zeichnet sich Poulantzas’ Werk durch die übergreifende theoretische Analyse von sowohl wohlfahrtsstaatlichen als auch autoritären Staaten der 1960er und 1970er Jahre aus. Seine Auseinandersetzungen mit dem kapitalistischen Staat beruhten dabei maßgeblich auf seinen eigenen politischen Erfahrungen. Anlässlich der griechischen Militärjunta (1967-74) setzte sich Poulantzas in Die Krise der Diktaturen3 (1975) mit den autoritären Staaten der 1960er und 1970er Jahre in Mittel- und Südwesteuropa auseinander und kritisierte Vorstellungen eines neu aufkommenden Faschismus, denen er sein Konzept des „Ausnahmestaates“ entgegensetzte. Hierzu hatte er bereits in Faschismus und Diktatur4 (1970) aus klassentheoretischer Perspektive die spezifischen Verlaufsformen der faschistischen Perioden in Deutschland und Italien herausgearbeitet.

Gleichzeitig untersuchte Poulantzas in Klassen im Kapitalismus – heute5 (1974) und der Staatstheorie6 (1977) die westeuropäischen Staaten der 1960er und 1970er Jahre, in denen er in Folge des aufkommenden Neoliberalismus und der zunehmenden Schwächung repräsentativ-demokratischer Prinzipien die neue Staatsform des „autoritären Etatismus“ konstatierte. Er kritisierte damit Vorstellungen einer (bis heute immer wieder ausgerufenen) „Krise der Demokratie“, die in den meisten Fällen entweder den „demokratieverdrossenen“ WählerInnen oder den „uneinsichtigen“ Parteibasen geschuldet sein soll. Stattdessen verwies er auf die zunehmende autoritäre Kontrolle der Bevölkerung in neoliberalen Arbeitsmarktprogrammen und die politische Entmündigung der Bevölkerung und Parteibasen durch Parteispitzen, Teile der Staatsbürokratie und informelle Netzwerke der Macht. Diese hätten sich soweit verfestigt, dass von einem neuen Typus des kapitalistischen Staates gesprochen werden müsse.

Konstitutive Präsenz des Politischen

Poulantzas’ primäres wissenschaftliches Interesse war die Weiterentwicklung der materialistischen Staatstheorie. Aus der heutigen Perspektive scheint das Bedürfnis nach einer Theorie des kapitalistischen Staates ungewöhnlich, drehen sich die meisten politischen Debatten mittlerweile doch um Handlungsmöglichkeiten in einzelnen Politikfeldern, während die akademischen Debatten sich oftmals um lokale Staaten und die Untersuchung einzelner Staatsapparate drehen. Eine materialistische Theorie des kapitalistischen Staates erklärt diese Aspekte des Staates nicht für obsolet; sie besteht aber auf einer Diskussion der grundlegenden Annahmen über den Staat und diskutiert daher die Form des Politischen in kapitalistischen Gesellschaften.

Diesbezüglich argumentieren materialistische Staatstheorien, dass diese Form des Politischen nicht ohne das Verhältnis zur kapitalistisch organisierten Ökonomie und die dortigen Klassenverhältnisse zu verstehen ist, und beziehen sich dabei auf die von Marx entwickelte Kritik der Politischen Ökonomie.7 Ansatzpunkte der Kritik von materialistischen Staatstheorien sind Theorien des Politischen, die den Staat gesellschaftlich isoliert und vollständig aus sich selbst heraus konzipieren – sei es ausschließlich durch die Form der politischen Repräsentationssysteme (liberale Demokratie, autoritäre Staatsformen u.a.), die innere bürokratisch-rechtsstaatliche Handlungs- und Organisationslogik innerhalb der Staatsapparate oder normativ formulierte Ansprüche an das Politische als Verkörperung des gesellschaftlichen Allgemeinwohls. Die Relevanz dieser Punkte für eine umfassende Bestimmung des kapitalistischen Staates leugnen materialistische Staatstheorien nicht; sie verweisen aber auf das Verhältnis von kapitalistischem Staat und kapitalistischer Ökonomie als grundlegendes Bedingungsverhältnis für die Bestimmung des Politischen, das in den oben genannten Theorien oftmals ausgeblendet wird.

Auch Poulantzas verfolgte diesen Weg der Staatskonzeption und beharrte in Politische Macht und gesellschaftliche Klassen8 (1968) und der Staatstheorie auf der gesellschaftstheoretischen Bestimmung des Politischen. Die von ihm in diesem Kontext geprägte Metapher der konstitutiven Präsenz des Politischen im Ökonomischen9 kritisierte vor allem bis dato in marxistischen Basis-Überbau-Verständnissen präsente Auffassungen, die das Bedingungsverhältnis von Staat und Ökonomie als Verhältnis zweier vollständig voneinander getrennter Sphären auffassten. Demgegenüber argumentierte Poulantzas, der Staat sei durch Eigentums- und Arbeitsrechte sowie direkte staatliche Interventionen (z.B. bei der Schlichtung von Tarifkonflikten) in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen präsent und könne daher nicht als externe Kraft gegenüber der kapitalistischen Ökonomie verstanden werden, da sie selbst die Stabilität kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse konstitutierten.10

Staat als Terrain

Fast alle politischen Strategiedebatten in westlichen Staaten beinhalten die Frage nach dem Verhältnis zum kapitalistischen Staat – also die Frage, ob Gesellschaft mit, gegen oder ohne den Staat veränderbar ist und wie dieser Prozess strategisch gestaltet werden soll. Auch in materialistischen Staatsdiskussionen hat diese Frage einen großen Raum eingenommen. Traditionell wurde diese Frage im Rahmen der Aufhebung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse diskutiert, also der Frage, inwieweit der kapitalistische Staat Gegner oder Vehikel für die Interessen der Arbeiterbewegung und von Arbeiterparteien ist und sein kann. Diese Fragen sind auch für andere Politikfelder von höchster Relevanz, da sie das grundsätzliche Verhältnis politischer Kräfte zum kapitalistischen Staat reflektieren.

Poulantzas’ Einsatz in dieser Diskussion ist seine Metapher von Staatlichkeit als materieller Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.11 Mit diesem Staatsverständnis wendete er sich gegen zwei Betrachtungen des kapitalistischen Staates, die bis heute in politischen Debatten präsent sind: Zum einen die Auffassung, der Staat sei ein kohärenten Subjekt, das durch alle Staatsapparate und Hierarchieebenen einer einheitlichen politischen Logik folge und dabei gleichermaßen von nicht-staatlichen politischen Kräften abgelöst sei. Zum anderen kritisierte Poulantzas instrumentalistische Staatsverständnisse, die den Staat als willfähriges Instrument politischer Kräfte auffassen, die ihn umstandslos entsprechend ihrer politischen Ziele ausrichten können.

Poulantzas verwies statt dessen auf drei zentrale Merkmale des kapitalistischen Staates: Erstens sei der Staat nicht von den gesellschaftlichen Kräften abgelöst, sondern verändere sich in seiner Ausformung durch die Handlungen politischer Akteure sowohl auf dem Terrain des Staates wie in der Gesellschaft.12 Zweitens verfüge er über eine eigene Widerstandskraft gegenüber den Interessen politischer Akteure. Poulantzas verwendet hierzu den Begriff der Materialität des Staates, um die Eigenlogik staatlicher Institutionen gegenüber politischen Subjekten und Gruppierungen zu beschreiben. Diese Materialität bestehe aus bürokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren, den individualisierenden und homogenisierenden Zugriffsmöglichkeiten staatlicher Institutionen auf die politischen Subjekte sowie den innerhalb der Staates präsenten Metaerzählungen wie nationalistischen Narrativen. Das Handlungsterrain für politische Kräfte werde durch diese Materialität des Staates insofern geprägt, als sie diesen als etablierte gesellschaftliche Verhältnisse in ihren politischen Handlungen gegenüber träten.

Daraus folgt für Poulantzas drittens, dass der kapitalistische Staat nicht als kohärentes Subjekt, sondern als dezentriertes strategisches Terrain verstanden werden muss. Auf ihm sind unterschiedliche Staatsapparate durch die ihnen eigene Materialität für bestimmte gesellschaftliche Kräfte offener als für andere. Poulantzas rezipiert hier in Anlehnung an Claus Offe13 den Begriff der strukturellen Selektivität, um die Selektionsleistungen staatlicher Apparate gegenüber politischen Kräften zu beschreiben. Er verabschiedet sich somit von der Vorstellung des Staates als Entität und verweist statt dessen darauf, dass er ein sich veränderndes, selektives soziales Verhältnis sei.

Historischer Kontext

Ob und inwiefern die Lektüre von Texten der Politischen Theorie für uns als LeserInnen fruchtbar sein kann, hängt nicht nur von textimmanenten Einsichten ab, die wir aus ihrer Lektüre ziehen, sondern auch von den historischen Kontexten, in denen diese Texte entstanden sind und auf die sie sich implizit und explizit beziehen. Eine qualitativ weiterbringende Lektüre beinhaltet daher auch immer, dass wir die Probleme und historischen Umbrüche, mit denen sich AutorInnen auseinandergesetzt haben, für relevant erachten und – im besten Fall – eine Verbindung zu Problemstellungen ziehen können, mit denen wir zu unserer Zeit konfrontiert sind. Hierzu zählen Veränderung der institutionellen Terrains, neue politische Bewegungen oder auch wissenschaftspolitische Konjunkturen. Das Werk von Poulantzas stellt sich vor diesem Hintergrund insofern als fruchtbar dar, als es an mehreren historischen Umbrüchen angesiedelt ist, die bis heute in konsolidierterer Form Gegenstand politischer wie theoretischer Auseinandersetzungen sind.

Hierzu gehört aus heutiger Perspektive der Beginn der Durchsetzung neoliberaler Politikmuster in westlichen Staaten, die Ende der 1970er Jahre das Ende keynesianischer Politikformen bedeuteten. Dies war – wie bereits erwähnt – mit neuen Formen des politischen Regierens verbunden, die Poulantzas unter dem Begriff des autoritären Etatismus zusammenfasste. Parallel dazu setzte eine verstärkte Internationalisierungsphase des Kapitals ein, die nach Poulantzas immer auch einen Einlagerungsprozess im Inneren anderer Staaten und eine Veränderung der dortigen Klassenverhältnisse bedeutete. Poulantzas beteiligte sich daher auch an der Debatte um die theoretische Einordnung der Europäischen Union unter den Bedingungen einer zunehmenden Dominanz US-amerikanischer Investitionen in den Ländern der EU. Hierzu bildete er den Begriff der „inneren Bourgeoisie“, mit dem er die komplexen Abhängigkeitsverhältnisse nationaler Klassenfraktionen von ausländischen Kapitalfraktionen und ihre gleichzeitig ko-existierende eigenständige Basis in den jeweiligen Nationalstaaten bezeichnete.14

Politisch war Poulantzas im eurokommunistischen Spektrum aktiv und mit der aufkommenden StudentInnenbewegung, der Frauenbewegung und der Umweltbewegung konfrontiert. Er beteiligte sich aktiv an den politischen Debatten über das Verhältnis von Arbeiterbewegung und neuen sozialen Bewegungen sowie von Parteien und sozialen Bewegungen im Allgemeinen. Dabei kritisierte er den politischen Alleinvertretungsanspruch der kommunistischen Parteien und plädierte für Bündnisse von ArbeiterInnen- und Neuen Sozialen Bewegungen – er warnte jedoch auch vor einer Unterschätzung des Staates in autonomen Bewegungsstrategien, die die gewaltsamen Kapazitäten des Staates in potenziellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen ignorierten. Der Staat als politisches Aktionsfeld dürfe daher nicht aufgegeben werden, sondern müsse in der Form einer übergreifenden Partei weiterhin Gegenstand politischer Strategien sein.15 Gleichzeitig kritisierte Poulantzas etatistische Strategien und verwies auf die notwendigen Kräfte außerhalb der Staatsapparate, die erst durch ihren Druck eine erfolgreiche emanzipatorische Parteipolitik ermöglichten.

Poulantzas’ Marxismus

Poulantzas’ Werk kann als relativ eigenständige Marxismus-Interpretation verstanden werden, die sowohl gegenüber anderen emanzipatorischen Wissenschaftsströmungen als auch innerhalb der marxistischen Debatte offen war, aber dennoch ein dezidiert marxistisches Wissenschaftsverständnis vertrat. Die wissenschaftspolitische Konjunktur von Poulantzas’ Spätwerk war u.a. durch den aufkommenden Poststrukturalismus gekennzeichnet – insbesondere durch die Prominenz der Schriften von Michel Foucault, mit dem Poulantzas zusammen an der Reformuniversität Vincennes lehrte. Im Gegensatz zu vielen Marxisten seiner Zeit rezipierte Poulantzas jedoch aktiv Foucaults Schriften und erweiterte somit die Grenzen marxistischer Theoriebildung, ohne aber seine Position gegenüber Foucaults Schriften aufzugeben. Insbesondere in der Staatstheorie (1978) adaptierte Poulantzas einige von Foucaults Positionen zu Disziplinierung und Normierungstechnologien, kritisierte allerdings sowohl die fehlende ökonomietheoretische Fundierung von Foucaults Schriften als auch die mangelnde Begrifflichkeit, um den kapitalistischen Staat zu fassen.16 Auch gegenüber der feministischen Forschung positionierte sich Poulantzas offen, indem er die Geschlechterverhältnisse als von den Produktionsverhältnissen relativ unabhängige Machtverhältnisse anerkannte.17 Poulantzas begann somit als einer der ersten Autoren die Auseinandersetzung zwischen Marxismus, Poststrukturalismus und Feminismus, die bis heute aktuell ist.

Gleichzeitig weist Poulantzas’ Bezug zur marxistischen Theorie eine für heutige und damalige Verhältnisse bemerkenswerte Position auf. Poulantzas bezog sich für heutige Verhältnisse offensiv auf die marxistische Theoriebildung, ohne etwaige Delegitimierungsstrategien marxistischer Theoriebildung als Resultat des Endes des Realsozialismus zu antizipieren. Poulantzas formulierte somit einen positiven Bezug auf den Marxismus als gesellschaftstheoretische und eingreifende Wissenschaft. Gleichzeitig kritisierte er für damalige Verhältnisse scharf die Stalinisierungstendenzen innerhalb des Marxismus18 und verweigerte sich der orthodoxen Marxexegese seiner Zeit: „Es kann keinen orthodoxen Marxismus geben; niemand kann sich als Hüter von geheiligten Dogmen und Texten ausgeben. [...] Ich beanspruche nicht, im Namen irgendeines authentischen Marxismus zu sprechen, im Gegenteil: Die Verantwortung für das, was ich schreibe, trage ich selbst, und ich spreche in meinem eigenen Namen“.19

Staatskritik

Poulantzas’ Bücher sind von dem Anspruch durchzogen, die herrschaftliche Verfasstheit des kapitalistischen Staates zu kritisieren und für die Umbrüche zu sensibilisieren, die sich in diesem vollzogen haben und bis heute die politische Landschaft prägen. Hierzu zählen der Neoliberalismus als politisches Programm, autoritär-etatistische Staatsformen, aber auch die Infragestellung der klassenzentrierten ArbeiterInnenbewegung und -parteien durch die Frauen- und Umweltbewegungen. Seine Antworten auf die politischen Probleme seiner Zeit münden in vielen Fällen in einem dezidierten „sowohl ... als auch“. Poulantzas kritisiert liberale Staatlichkeit für ihre Konstitution von Ausbeutungsverhältnissen und die politische Desorganisation subalterner Kräfte – gleichzeitig verteidigt er die Errungenschaften liberaler Repräsentationssysteme gegenüber anti-demokratischen Positionen. Ebenso hält er an politischen Parteien als politischen Organisationsformen fest – er fordert jedoch aktive Bündnisse mit außerparlamentarischen Kräften und stellt deren Notwendigkeit für eine erfolgreiche sozialistische Politik im Sinne eines „radikalen Reformismus“ innerhalb des Staates fest. Sein Wissenschaftsverständnis hält ebenso dezidiert am Marxismus als Gesellschaftswissenschaft fest – wobei er die Grenzen der marxistischen Theorie erweitert und ihre Erneuerung durch Konfrontation mit anderen emanzipatorischen Theorieströmungen vornimmt. Poulantzas zu lesen kann daher inspirierend sein, denn sein Werk betont die Komplexität politischer Konstellation und die Grenzauslotung der eigenen Denkhorizonte.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag geht auf die Herausgabe eines Sammelbandes zurück, der im September 2006 anlässlich des 70. Geburtstags von Poulantzas erschienen ist: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (2006) (Hrsg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg: VSA. Weitere Informationen zum Projekt unter: www.poulantzas-lesen.de.

2) Für ausführliche Einführungen in das Werk und Leben von Poulantzas, vgl. Jessop, Bob (1985): Nicos Poulantzas. Marxist theory and political strategy. Houndsmill: Macmillan. Demirovic, Alex (1987): Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung, Hamburg: Argument.

3) Poulantzas, Nicos (1975): Die Krise der Diktaturen. Portugal, Griechenland, Spanien. Frankfurt/M: Suhrkamp 1977.

4) Poulantzas, Nicos (1970): Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische Internationale und der Faschismus, München: Trikont-Theorie 1973.

5) Poulantzas, Nicos (1974): Klassen im Kapitalismus – heute. Berlin/W: Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung 1975.

6) Poulantzas, Nicos (1977): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA 2002.

7) Vgl. insbesondere MEW 23-25 (Das Kapital).

8) Poulantzas, Nicos (1968): Politische Macht und gesellschaftliche Klassen. Frankfurt/M: Europäische Verlagsanstalt 1980.

9) Vgl. Poulantzas, Nicos (1977): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA 2002, S.45ff.

10) Hierauf hatte bereits die westdeutsche Staatsableitungsdebatte in den 1970ern mit dem Begriff der „Sozialstaatsillusion“ hingewiesen. Vgl. zum Verhältnis von Poulantzas und der Staatsableitung: Hirsch, Joachim/Kannankulam, John (2006): Poulantzas und Formanalyse. Zum Verhältnis zweier Ansätze materialistischer Staatstheorie, in: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (Hrsg.), a.a.O., S.65-81.

11) Vgl. Poulantzas, a.a.O., S.101.

12) Ebd., S.176.

13) Vgl. Offe, Claus (1972): Klassenherrschaft und politisches System. Die Selektivität politischer Institutionen, in: ders.: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt/M: Suhrkamp, S.65-105.

14) Vgl. Poulantzas, Nicos (1973): Die Internationalisierung der kapitalistischen Verhältnisse und der Nationalstaat, in: ders./Hirsch, Joachim/Jessop, Bob: Die Zukunft des Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung, Hamburg: VSA 2001, 16-69. Vgl. zur Diskussion: Wissel, Jens (2006): Die Transnationalisierung der Bourgeoisie und die neuen Netzwerke der Macht, in: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (Hrsg.), a.a.O., S.240-256.

15) Vgl. für eine weiterführende Diskussion des poulantzianischen Demokratieverständnisses: Demirovic, Alex: Volkes Herrschaft? Demokratie und kapitalistischer Staat bei Nicos Poulantzas, in: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (Hrsg.), a.a.O., S.290-306.

16) Vgl. Lindner, Urs T. (2006): Staat, Herrschaft und Politik. Zum Verhältnis Poulantzas-Foucault, in: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (Hrsg.), a.a.O., S.154-170.

17) Vgl. für das angedeutete, aber nicht ausformulierte Verhältnis zwischen Poulantzas und der feministischen Staatstheorie: Nowak, Jörg (2006): Poulantzas, Geschlechterverhältnisse und die feministische Staatstheorie, in: Bretthauer, Lars/Gallas, Alexander/Kannankulam, John und Stützle, Ingo (Hrsg.), a.a.O., S.137-153.

18) Vgl. Poulantzas, Nicos (1979): „Es geht darum, mit der stalinistischen Tradition zu brechen!“, Interview mit N. Poulantzas zum autoritären Etatismus in Westeuropa und den Strategien der Arbeiterbewegung, durchgeführt von Rodrigo Vaques-Prada, in: Prokla, 9. Jg, Nr. 37, 127-140.

19) Vgl. Poulantzas, Nicos (1977): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA 2002, S.38.


Dipl.-Pol. Lars Bretthauer promoviert aus der Perspektive der materialistischen Staatstheorie zur staatlichen Regulierung der digitalen Informationstechnologien am Beispiel geistiger Eigentumsrechte und Datenspeicherung an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied bei reflect! – Assoziation für politische Bildung und Gesellschaftsforschung.

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