BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Wissenschaft und Politik in Deutschland

15.01.2002: Geschichtliche Erfahrungen und aktuelle Tendenzen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2002; Titelbild: Eckart Schmidt

Die Tatsache, dass der BdWi vor 30 Jahren neu gegründet wurde, ist der Anlaß, einen kritischen Blick auf die Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftspolitik zu werfen. Reinhard Kühnl fragt nach dem Selbstverständnis von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen und bringt beklemmende Parallelen zwischen dem faschistischen und dem neoliberalen Wissenschaftsverständnis zutage. Gerd Wiegel stellt exemplarisch anhand der Geschichtswissenschaften die inneren Widersprüche und die Grenzen herrschaftskonformer Wissenschaft dar.

Der Wissenschaftsprozeß wird - neben der inneren Logik der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin - bestimmt vom politischen, ideologischen, kurzum gesellschaftlichen Kontext, in dem Wissenschaft stattfindet: Gesellschaftliche Machtstrukturen, auch konkrete soziale und politische Interessen legen den Rahmen fest, innerhalb dessen Forschungen initiiert und finanziert werden. Sie prägen auch ein allgemeines Klima, das bestimmte Fragestellungen favorisiert, andere dagegen tabuiert. Es ist dann einfach unschicklich, bestimmte Fragen überhaupt zu stellen, bestimmte Begriffe überhaupt zu benutzen: unschicklich nach den Maßstäben der politischen Öffentlichkeit, unschicklich aber auch innerhalb der "scientific community".

Wer z.B. Begriffe wie soziale Klassen, Klassengesellschaft oder gar Klassenkampf benutzt, macht sich in Deutschland seit den Zeiten von Heine und Marx - abgesehen von kurzen Perioden in der Weimarer Zeit und um 1970 herum - immer verdächtig. Zur Zeit der Berufsverbote (nach 1972) konnte es jungen WissenschaftlerInnen passieren, dass die zuständigen Behörden eine Einstellung ablehnten mit der Begründung, dass solche Begriffe im Grundgesetz nicht vorkommen, ein solches Denken also verfassungsfeindlich sei. Neben marktförmigen Elementen der Steuerung kultureller und wissenschaftlicher Diskurse werden also auch unter parlamentarisch-demokratischen Bedingungen bei Bedarf repressive Elemente beigemischt.

"Neutrale" Wissenschaft

Die historischen Erfahrungen mit der politischen Dimension von Wissenschaft in Deutschland sind eindeutig - und sie sind beklemmend. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Wissenschaftler hat den Aggressions- und Eroberungskrieg nach 1914 unterstützt, hat nach 1933 das faschistische System mitgetragen und dann auch den Zweiten Weltkrieg mit seinen riesigen Verbrechen. Das gilt für die Natur- ebenso wie für die Geistes- und Sozialwissenschaften und es gilt auch für diejenigen Wissenschaftler, die in ihrem Eid sich zum genauen Gegenteil verpflichtet hatten, nämlich für die Mediziner.

Natürlich standen die Wissenschaftler mit solchem Verhalten nicht allein. Zu fragen ist aber, ob die Gründe für ihr Verhalten nicht auch in Verbindung standen mit dem spezifischen Status und der spezifischen Tätigkeit. In dem Bündel von Faktoren, das wir in der Regel vorfinden, lassen sich solche ausmachen, die disziplinübergreifenden Charakter haben, die das Grundverständnis von Wissenschaft und Gesellschaft betreffen. Unsere Untersuchungen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses Grundverständnis durch die Kombination zweier scheinbar gegensätzlicher Elemente bestimmt war:

Da war einmal das Selbstverständnis von der "unpolitischen" Wissenschaft, von der strikten Trennung von Wissenschaft und Politik, die Auffassung also, dass das Wesen von Wissenschaft die Trennung von der Politik verlange. Der Begriff von Wissenschaft wurde begrenzt auf das wissenschaftliche Verfahren selbst, auf den Prozess der Erkenntnisgewinnung. Wissenschaft wurde abgeschnitten sowohl von ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen wie von ihren gesellschaftlichen Folgen. Ein solches Verständnis nimmt auch nicht zur Kenntnis, dass beides natürlich auch das wissenschaftliche Verfahren als solches nicht unberührt läßt. Mit einem solchen Selbstverständnis sind die Wissenschaftler in der Tat wehrlos dagegen, von beliebigen gesellschaftlichen Interessen in Dienst genommen zu werden - auch von verbrecherischen. In ihrem Selbstverständnis wahren sie den Zustand der Unschuld, denn sie betreiben eben nur Wissenschaft nach den formalen Regeln ihrer Disziplin.

Dieser anscheinend neutrale Begriff von Wissenschaft aber war natürlich durchaus gesellschaftlich-inhaltlich geprägt. Es zeigt sich, dass die meisten Wissenschaftler, oft ohne sich dessen recht bewußt zu sein, die in der gegebenen Gesellschaft vorherrschenden Auffassungen über das Wesen des Menschen teilten und in ihrer wissenschaftlichen Praxis entsprechend verfuhren. Und die herrschenden Auffassungen waren natürlich die Auffassungen der Herrschenden, d.h. die in Gedanken gefassten herrschenden Verhältnisse: In der bürgerlichen Gesellschaft also die der Kausalität des kapitalistischen Konkurrenzkampfes folgenden, scheinbar naturhaft gegebenen Gesetze des Sozialdarwinismus. Nach diesen Gesetzen, die durch Alltagserfahrungen scheinbar permanent bestätigt werden, gibt es "von Natur aus" solche Menschen und Menschengruppen, die stark, tüchtig und durchsetzungsfähig sind, und solche, die das nicht sind. Den Tüchtigen und Starken freie Bahn zu schaffen entspricht also dem Willen der Natur und dient dem Wohle des Ganzen.

Kapitalistische Kostenrechnung

Es ist nichts anderes als eine extreme Zuspitzung dieses Gedankens, dass man bei der Eliminierung der Minderwertigen aktiv nachhelfen müsse - im Interesse der gesamten Gesellschaft, schon wegen der Kosten. Hier schlägt nun das kapitalistische Prinzip der Kostenrechnung und der Bewertung des Menschen nach dem Maßstab der Verwertungschancen vollständig durch. Bereits vor 1914 wurden von Medizinern und Sozialwissenschaftlern Kostenrechnungen über nicht verwertbare Bevölkerungsgruppen angestellt. Und die faschistische Mordmaschinerie funktionierte dann ganz wesentlich nach diesem Gesichtspunkt.

Die Logik vom Kampf ums Dasein und dem Recht des Stärkeren, übertragen auf die Beziehung zwischen den Staaten, den Völkern und den "Rassen", bedeutete, dass auch hier den Leistungsstarken freie Bahn zu schaffen war und dass auch in der Kriegführung "Humanitätsduselei" nicht am Platze war. Für Deutschland als Kontinentalmacht war es dabei unumgänglich, auch die europäischen Nachbarvölker, insbesondere die Völker des slawisch besiedelten Ostraumes, in die Kategorie der Minderwertigen, der Untermenschen einzuordnen - zusammen mit der im Rassismus der anderen kapitalistischen Länder üblichen Abwertung der farbigen Völker Afrikas und Asiens.

Geht man von der Kombination dieser beiden Elemente aus - dem Selbstverständnis einer unpolitischen Wissenschaft bei gleichzeitiger Prägung durch die herrschende Ideologie - so stellt sich die Frage, nach welchen Maßstäben solchermaßen geprägte Wissenschaftler ihr politisches Verhalten orientieren konnten. Es bleiben eigentlich nur zwei Bewertungskriterien: Erstens konnten sie fragen, ob der konkrete Staat jene Maximen realisierte, die der nun einmal gegebenen "Natur des Menschen" entsprachen. Es lag sehr nahe, zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Faschismus diesen Maßstäben in geradezu hervorragender Weise entsprach.

Zweitens mochten diese Wissenschaftler fragen, ob der konkret gegebene Staat ihnen gute Arbeitsbedingungen für ihre spezifischen wissenschaftlichen Tätigkeiten bot. Das war sicherlich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verschieden. Offensichtlich aber erhielten insbesondere diejenigen Disziplinen, die nach lebendigem menschlichen Untersuchungsmaterial verlangten, so günstige Arbeitsbedingungen wie in keinem anderen politischen System. Ihrem Verlangen nach Untersuchungsobjekten für ihre Experimente waren schlechterdings keine Grenzen gesetzt.

So mag es zu erklären sein, dass das faschistische Regime die breiteste Unterstützung durch Wissenschaftler erfuhr. Das hieß nicht, dass diese Wissenschaftler unbedingt alle Facetten der faschistischen Ideologie akzeptieren mussten - manche betrachteten die Rassenlehre und den Antisemitismus durchaus als wissenschaftlich fragwürdig -, und das hieß auch nicht, dass sie alle unbedingt Mitglieder in der NSDAP sein mußten. Es hieß aber durchaus, dass sie die Struktur des faschistischen Systems und die Hauptlinien der Politik politisch und durch ihre wissenschaftliche Arbeit zu unterstützen bereit waren.

1945 schien es zunächst so, als könne diese seit dem Kaiserreich dominierende und im Faschismus kulminierende Tradition abgebrochen werden. Doch im Kontext des aufbrechenden Systemgegensatzes und des Kampfes gegen "die kommunistische Gefahr" konnte der Kapitalismus alsbald wieder stabilisiert werden. Im westlichen Teil Deutschlands hieß das zugleich: Kontinuität der Eliten in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, also auch Kontinuität der Universitäten, der wissenschaftlichen Institutionen und der Standesorganisationen der Ärzte, der Juristen usw. Antifaschisten aus Zuchthäusern, Konzentrationslagern oder aus dem Widerstand und Emigranten hatten nur in Einzelfällen eine Chance, in dieses solide Gefüge einzudringen.

So gut wie alle wissenschaftlichen Disziplinen weigerten sich strikt, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und nach den Gründen ihres Verhaltens im Faschismus zu fragen. Welche eiserne Abwehr diejenigen erzeugten, die dieses Tabu zu brechen wagten, bekamen drastisch Alexander Mitscherlich und Fred Mielke zu spüren, als sie 1948 in ihrem Buch "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses publizierten. 10.000 Exemplare waren an die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern zur Verteilung an die Ärzteschaft gegangen. Doch "nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, keine Rezensionen, keine Zuschriften (…). Es war und blieb ein Rätsel - als ob das Buch nie erschienen wäre", so Mitscherlich zwölf Jahre später.1 Dies gilt auch - sogar in besonders starkem Maße - für diejenige Disziplin, die von Berufs wegen sich mit der Erforschung der Vergangenheit zu befassen hat.2

Da die westdeutschen Wissenschaften ihre Augen gegenüber ihrem Verhalten im Faschismus fest geschlossen hielten, da die im Faschismus lehrenden Staatsrechtslehrer wieder Staatsrechtslehrer, die Psychiater wieder Psychiater, die Historiker wieder Historiker und die Sachverständigen für die "Zigeunerfrage" wieder Sachverständige für die "Zigeunerfrage" waren, konnte das Verständnis von Wissenschaft nahezu ungebrochen fortgeführt werden.

Mentalitäts-verschiebungen

Mit der Studentenbewegung von 1968 und ihren weit gefächerten Wirkungen gelang ein tiefer Einbruch in diese Festung, es gelang eine kleine Kulturrevolution. Offengelegt wurden nun für eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen nicht nur die geschichtlichen Tatsachen, sondern auch die Ursachen und Motive. Im Medium der historischen Analyse wurde also zugleich auch Gesellschaftskritik und Ideologiekritik geliefert. In den Analysen und Resolutionen, die der BdWi seit seiner Neugründung 1972 publizierte, kommt das Zusammenwirken dieser Elemente samt der daraus folgenden Konsequenzen für die jeweils anstehenden aktuellen Probleme sehr anschaulich zum Ausdruck.

Mit den Berufsverboten 1972 setzten umfassende Repressionsmaßnahmen ein: Mehrere hunderttausend im öffentlichen Dienst, davon viele qualifiziert für Wissenschaft und Lehre hatten sich so genannten Anhörungen zu unterwerfen, bei denen ihr politisches Denken und Verhalten inquisitorisch überprüft wurde. Diese Inquisitionen wurden später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als rechtswidrig verurteilt, doch hatten sie die gewünschte Wirkung, die massenhafte Einschüchterung der jungen Generation, bereits erzeugt. Die Resultate dieser Kulturrevolution aber waren dennoch nicht mehr gänzlich aus der Welt zu schaffen: weder die Resultate der historischen Forschungen noch die mit dieser Revolution einhergehenden Mentalitätsveränderungen der jungen Generation (z.B. hatte bis dahin bei der überwältigenden Mehrheit der Eltern "Gehorsam" als das oberste Erziehungsziel gegolten).

So entstand in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl von Untersuchungen über die Rolle von Wissenschaft im Faschismus, die sich einerseits mit einzelnen Disziplinen befaßten (Rechtswissenschaft, Germanistik, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Soziologie, Zeitungswissenschaft, Politikwissenschaft, Physik, Medizin, Zahnmedizin usw.) und andererseits - oft als kritische Antwort auf offizielle Festschriften - mit einzelnen Hochschulen (z.B. Gießen, Köln, Darmstadt, Frankfurt, Handelshochschule Mannheim, Staats- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Heidelberg, Institut für Auswärtige Politik Hamburg/Berlin usw.) Die Impulse, die damit gesetzt waren, bringen bis heute bedeutende Untersuchungen hervor3, so daß wir jetzt über die Funktion der Wissenschaft im Faschismus schon ein recht fundiertes und differenziertes Bild haben.

Als besonders aufregend erwiesen sich die Untersuchungen über die Medizin, weil an allen wichtigen Positionen, die über Leben und Tod zu entscheiden hatten, in der Regel Mediziner gestanden hatten - oft genug in SS-Uniform -, das reale Verhalten dieser Mediziner aber dem nach wie vor dominierenden Selbstbild wie dem in der Bevölkerung lebendigen Bild vom Arzt als Helfer eklatant widersprochen hatte. Am Beispiel der Medizin kam besonders drastisch zum Ausdruck, wie das Zusammenwirken von elitären und sozialdarwinistischen Vorstellungen vom Wesen des Menschen und kapitalistische Kosten-Nutzen-Erwägungen direkt in die Mordpraxis hineingeführt hatte.4 Jetzt gehe es nämlich, so deklarierten hochgestellte Mediziner und Fachverbände, darum, "die wirtschaftliche Belastung durch Erbkranke", die "hohen Geldmittel für Asoziale" zu minimieren. Die "Krankheit" wurde zum individuellen "Versagen", im Interesse "der Wirtschaft" wurde ein Gesundheitssystem gebraucht, das "möglichst geringe Belastung" durch "soziale Kosten" bringe. Im Grunde sei das gesamte System der Sozialversicherung "Marxismus schlechthin". Medizin wird nun zur "quantitativen und qualitativen Menschenökonomie".5

In der Mehrzahl der Fälle wurden diese Aufarbeitungen der Geschichte der eigenen Disziplin von solchen WissenschaftlerInnen in Angriff genommen, die innerhalb der Institutionen ihrer Fachwissenschaft eher am Rande standen. In manchen Fällen haben solche Untersuchungen die Karrierechancen ihrer AutorInnen erheblich beschädigt und in mindestens zwei Fällen wurden diese jungen, noch nicht etablierten Wissenschaftler von ihrer Zunft direkt ausgestoßen. Der zuletzt am Beispiel der Medizin dargestellte Zusammenhang ließe sich auch für andere Disziplinen nachweisen: von der Rechtswissenschaft und der Psychiatrie oder Psychologie bis zur Volkskunde, Bevölkerungswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft. Die Material- und Analysebände, die insbesondere von Susanne Heim und/oder Götz Aly herausgegeben wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Das Beklemmende der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass genau dieses Verständnis von Wissenschaft, das diese möglichst vollständig den Anforderungen der kapitalistischen Ökonomie unterwirft, im Gefolge des Neoliberalismus Dominanz erlangt hat. Was das bedeutet für die Zurichtung der Menschen, die Wissenschaft betreiben und die Wissenschaft studieren, muß hier nicht ausgeführt werden. Es gibt auch kaum noch Schamgrenzen, die etwa eingehalten würden: Bei der Senatsbildung in Berlin wird beispielsweise aktuell diskutiert, das Wissenschaftsressort aus seiner bisherigen Bindung mit dem Kulturressort herauszulösen und dem Wirtschaftsressort zuzuordnen.

Epochenbruch?

Ist es all zu hochgestochen, von einem geistesgeschichtlichen Epochenbruch zu reden? Grob vereinfacht könnte dieser Bruch so interpretiert werden: Mehr als tausend Jahre lang hatte sich jede wissenschaftliche Bemühung als "Magd der Theologie" unterzuordnen, d.h. konkret: den von der Kirche interpretierten Interessen der herrschenden Feudalklasse. Die Philosophie der Aufklärung und die Französische Revolution unternahmen dann einen Anlauf zur Negation dieser geistigen und sozialen Herrschaftsverhältnisse. Ihr Projekt setzte auf die zivilisierende und humanisierende Wirkungsmacht von Wissenschaft und Kultur. Sicherlich blieb dessen Wirkung auf die reale Gestaltung der Institution Wissenschaft begrenzt und noch viel begrenzter auf die reale Gestaltung von Politik und Ökonomie. Aber in der Selbstdefinition der bürgerlichen Gesellschaft und in ihrer Wissenschaft erlangte es doch einen starken Einfluß, so dass hier auch oppositionelle Kräfte der Linken anknüpfen und es zum Projekt der klassenlosen Gesellschaft weiterführen konnten.

Was nun die gegenwärtige Offensive des Neoliberalismus betrifft, so könnte man bei Hegels Begrifflichkeit bleiben und von "Negation der Negation" sprechen. Allerdings liegt hier im Vergleich zu Hegels Geschichtsmodell ein gänzlich konträres Ergebnis vor: nicht der Sprung auf eine höhere Stufe, sondern die mindestens parzielle Vernichtung des schon erreichten Maßes von Humanisierung. Nicht die Gestaltung gesellschaftlicher Realität mit den Mitteln der Wissenschaft und nach Kriterien der Vernunft, sondern die bewußtlose Auslieferung der gesellschaftlichen Entwicklung an die anonymen Gesetze des Marktes, denen die Wissenschaften nur noch Zuträgerdienste zu leisten haben. Nun also eine Herrschaftsform, in der jede andere wissenschaftliche Bemühung als "Magd der Ökonomie" im Dienste der Kapitalherrschaft zu fungieren hat? Die gängige Formel von der "Postmoderne" erhielte damit jedenfalls einen präzisen Sinn. In der Tat wird ja die noch ganz und gar der alten Epoche verbundene Zielvorstellung der 68er Bewegung - die "allseitige Entfaltung der (sozialistischen) Persönlichkeit" - gegenwärtig in sein Gegenteil umgeformt: Die "allseitige Reduzierung der Persönlichkeit" auf ein einziges borniertes Motiv: Kauf und Verkauf, Kapitalakkumulation und Sieg im Konkurrenzkampf.


Anmerkungen

1) In der Einleitung zur Neuauflage von: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt 1960, S.5

2) Als Symptom mag gelten, dass kritische Ansätze der jüngeren Generation seit der Mitte der 60er Jahre heftige Abwehrreaktionen hervorriefen, die manche Hoffnung auf eine akademische Karriere vernichteten, dass noch 1992 die großartige und umfassende Untersuchung von Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Dissertation Marburg, Campus-Verlag, eher Verlegenheit hervorrief und dass es bis zum Historikertag 1998 dauerte, ehe eine Arbeitsgruppe sich mit diesem Thema befassen konnte.

3) Z.B. das zweibändige Werk von Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Darmstadt 1995 und 1997, Roderich Wahsner: Arbeitsrecht unterm Hakenkreuz, Baden-Baden 1994, die Marburger Dissertation von Roland Müller über die Militärphsychatrie, Köln 2001 usw.,

4) Siehe bes. W. Wuttke-Groneberg: Medizin im Nationalsozialismus, Tübingen 1980: Bromberger/H. Mausbach/K.-D. Thomann: Medizin, Faschismus und Widerstand, Köln 1985; B. Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft, Reinbek 1984; G. Baader/U. Schultz (Hg.): Medizin und Nationalsozialismus, Berlin West 1980;. Medizin im Nationalsozialismus. Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München 1988; F. Kudlien: Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985

5) Alle Zitate sind entnommen: Wuttke-Groneberg, a.a.O., S.10,19,13,106,242


Prof. Dr. Reinhard Kühnl, Politikwissenschaftler und Faschismustheoretiker, lebt in Marburg

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