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Klaus Holzkamp

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Schuldenbremse mit Verfassungsrang?

22.05.2011: Die politischen Motive der Volksabstimmung in Hessen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2011; Foto: Thomas Bethge – fotolia.com

Die hessische CDU/FDP-Landesregierung kombinierte die Kommunalwahlen im März 2011 mit einer Volksbefragung über die Schuldenbremse - in der Hoffnung, hierdurch ihre rigorose Sparpolitik zu legitimieren. Dagegen mobilisierte ein Bündnis aus Gewerkschaften, sozialen Initiativen und kritischer Wissenschaft. Kai Eicker-Wolf erläutert die Konfliktlinien.

Am 27. März wurden in Hessen die Kommunalparlamente neu gewählt. Parallel dazu waren die Wählerinnen und Wähler aufgerufen, über die Verankerung der Schuldenbremse in der hessischen Landesverfassung abzustimmen, wie es der Landtag in Wiesbaden Mitte Dezember 2010 mit den Stimmen der Regierungsparteien CDU und FDP und der beiden Oppositionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschlossen hatte. Nur DIE LINKE verweigerte sich diesem Vorhaben. Hessen ist damit das einzige Bundesland, in dem direkt über die Schuldenbremse abgestimmt wurde. Allein schon deshalb kam der Entscheidung bundespolitische Bedeutung zu.

Auswirkungen der Schuldenbremse

Im Sommer des Jahres 2009 wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz (GG) verankert. Damit stehen sowohl der Bund als auch die Bundesländer vor erheblichen Konsolidierungserfordernissen1, da die so genannte strukturelle Verschuldung - also jener Teil des Haushaltsdefizits, der nichts mit konjunkturellen Schwankungen zu tun hat - abgebaut werden muss. Der Bundeshaushalt hat seine strukturelle Verschuldung bis zum Jahr 2016 auf einen Wert von 0,35% (Anteil am Bruttoinlandsprodukt) zurückzuführen. Die Länder haben bis zum Jahr 2020 und damit etwas länger Zeit, bei ihnen muss die strukturelle Verschuldung dann allerdings einen Wert von Null aufweisen.

Die Regelungen im Grundgesetz müssen die Bundesländer in Landesrecht umsetzen. Diese Umsetzung kann direkt durch ein Gesetz, aber auch über die jeweiligen Landesverfassungen erfolgen. Dabei besteht keine Eile, die Bundesländer haben damit prinzipiell bis zum Jahr 2020 Zeit. Gegen die Schuldenbremse ist auch noch eine Klage des Landes Schleswig-Holstein vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig, Das Land sieht in der Schuldenbremse einen zu weitgehenden Eingriff in das ebenfalls grundgesetzlich gewährleistete Bundesstaats- und Demokratieprinzip. Wann über diese Klage entschieden wird, ist nicht bekannt. Sollte das Bundesverfassungsgericht der Argumentation des Landes Schleswig-Holstein folgen, dann wären nur jene Länder weiter an die Vorschriften der Schuldenbremse gebunden, die entsprechende landesgesetzliche Regelungen erlassen haben.

Die Debatte um die Bedeutung der Schuldenbremse und ihre Verankerung in der hessischen Landesverfassung begann kurz nach der Grundgesetzänderung: Im September 2009 stellte der hessisch-thüringische DGB-Vorsitzende Körzell zusammen mit den hessischen Landesvorsitzenden der Gewerkschaften GEW und ver.di eine umfangreiche Studie2 zur Entwicklung des Landeshaushalts und den Auswirkungen der Schuldenbremse auf die zukünftige Haushaltspolitik vor. Die Ergebnisse wie auch Folgearbeiten der Autoren3 zu diesem Thema zeigten, dass in Hessen - aber auch in Deutschland insgesamt - schon seit den 1990er Jahren eine sehr restriktive staatliche Ausgabenpolitik auszumachen war. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ist die Folge von Steuersenkungen, die insbesondere reichen Haushalten und dem Unternehmensbereich zu Gute kamen. Vor den Folgen der Schuldenbremse wird mit Blick auf Hessen nachdrücklich gewarnt, dass diese einen jahrelangen, noch einmal verschärften Sparkurs zur Folge haben werde.

Die Debatte in Hessen

Im April 2010 meldete sich dann die "Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände" (VhU) zu Wort und machte sich für die zügige Verankerung der Schuldenbremse in der Hessischen Verfassung stark. Zuvor hatte sie versucht, breite Unterstützung für ein entsprechendes Positionspapier4 zu erhalten. Das von ihr angestrebte Bündnis mit Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden gelang allerdings nicht. Zwar vertritt das VhU-Papier die Meinung, dass eine Konsolidierung über einen Mix aus Kürzungen der Ausgaben, Steigerung der Einnahmen und einer erhöhten Effizienz der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen zu erfolgen habe, die genaue Gewichtung obliege aber der Landesregierung und dem Hessischen Landtag. Wer die Äußerungen der VhU zu finanzpolitischen Fragen sichtet, kommt allerdings zu der Erkenntnis, dass sie letztlich einseitig für Ausgabenkürzungen eintritt - mit Blick auf das Sparpaket der Bundesregierung vom Sommer 2010 wünscht sie sich sogar höhere Einschnitte bei den Sozialausgaben, und auch die sehr restriktive Haushaltspolitik der hessischen Landesregierung im Jahr 2011 wird von ihr voll unterstützt. Als Begründung dient vor allem das so genannte Generationenargument: Die heutige Generation dürfe nicht auf Kosten der kommenden leben, da sonst unsere Kinder die Staatsverschuldung von heute zurückzahlen müssten.

Dieses in wirtschaftspolitischen Debatten immer wieder bemühte Argumentationsmuster ist aus volkswirtschaftlicher Perspektive unsinnig: Wenn die öffentliche Hand einen Kredit aufnimmt, dann wird der Staat zum Schuldner und die Kredit gebende Person oder Institution (z.B. eine Bank) wird zum Gläubiger. An kommende Generationen wird dann diese Gläubiger-Schuldner-Struktur ›vererbt‹: Die öffentliche Hand wird in Zukunft Zins und Tilgung aus dem laufenden Steueraufkommen an den Gläubiger zahlen - dieses Steueraufkommen ist Teil der zukünftig erwirtschafteten Einkommen. Mit einer einseitigen Vererbung von Schulden hat das ersichtlich nichts zu tun.

Eine unmittelbare Antwort auf ihre Forderung bekam die VhU durch das Bündnis "Soziale Gerechtigkeit in Hessen", dem rund 30 soziale, kirchliche und gewerkschaftliche Organisationen (u.a. DGB Hessen, Caritas Verband Limburg, DPWV Landesverband Hessen und Diakonische Werke) angehören - also zum großen Teil jene Institutionen, die die VhU gerne als Unterstützer für ihre Position gewonnen hätte. In dem Positionspapier des Bündnisses mit dem Titel Keine ›Schuldenbremse‹ in die hessische Landesverfassung - für einen handlungs- und leistungsfähigen Staat5 werden insbesondere Ausgabenkürzungen beim Bund und bei den Ländern befürchtet, während tatsächlich ein erheblicher Ausgabenbedarf in den Bereichen Bildung, Soziales, öffentliche Investitionen und ökologische Erneuerung bestehe.

Im Juli 2010 wurde dann bekannt, dass CDU und FDP einen Gesetzentwurf zur Aufnahme der Schuldenbremse in die Landesverfassung in den Landtag einbringen wollten, um so im Zuge der Kommunalwahl im März 2011 eine Verfassungsänderung durch Volksentscheid herbeiführen zu lassen.6 Diese Verfassungsänderung - von FDP und CDU in einem gemeinsamen Gesetzentwurf am 30. August 2010 beantragt - setzt einen Beschluss des hessischen Landtags mit absoluter Mehrheit sowie dessen Bestätigung durch eine Volksabstimmung voraus. Seitens der CDU wurde dieses Vorhaben unter anderem damit begründet, dass bei Erfolg der Verfassungsklage Schleswig-Holsteins gegen die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse die Notwendigkeit bestehe, in die Hessische Landesverfassung eine Schuldenbremse aufzunehmen. Außerdem will sich die Landesregierung durch die Volksabstimmung eine breite Legitimation für den anstehenden Sparkurs durch die Wähler holen.7 So begründet etwa Florian Rentsch, Fraktionsvorsitzender der FDP im hessischen Landtag, das Vorhaben der hessischen Frei- und Christdemokraten wie folgt: "Für die weitere Haushaltssanierung benötigen wir das ›aktive Ja‹ der Bürger, denn wir werden es nur gemeinsam schaffen, die Haushalte zu konsolidieren."8 Außerdem sehen CDU und FDP in der Abstimmung über die Schuldenbremse ein passendes ›Gewinnerthema‹ (CDU-Fraktionschef Christean Wagner), um die Wahlchancen der eigenen Partei im Rahmen der anstehenden Kommunalwahl zu erhöhen.

Auf den Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen reagierte nur DIE LINKE ablehnend, die auf Basis eines umfangreichen Gutachtens9 zur Schuldenbremse argumentierte. Die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD wiesen das Ansinnen von CDU und FDP nicht grundsätzlich zurück. Vielmehr verlangten Bündnis 90/Die Grünen eine Expertenanhörung zur Schuldenbremse. CDU und FDP stimmten diesem Ansinnen zu - was von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Recht als Annäherung der Positionen interpretiert wurde. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war von Bündnis 90 / Die Grünen zu hören, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf mit den Regierungsparteien möglich sei.10 Als Bedingung für ihre Zustimmung nannte die Partei zwei Punkte: Das Land dürfe seine Lasten nicht auf die Kommunen verlagern, und es müsse geklärt werden, "wie sich die Landesregierung die Stabilisierung der Einnahmeseite des Haushalts"11 vorstelle. Ähnliches war von der hessischen SPD zu hören: Wie die Grünen wollte sie die Kommunen geschützt und die Einnahmeseite berücksichtigt sehen. Außerdem müsse verhindert werden, "dass z.B. eine Landesregierung mit Zustimmung zu Steuererleichterungen im Bundesrat die Einnahmen ramponiere."12

Am 3. November fand eine von Bündnis 90 / Die Grünen angeregte Landtagsanhörung statt, in deren Rahmen sich rund die Hälfte der Experten skeptisch bis ablehnend zur Schuldenbremse äußerte. In den nächsten Wochen folgten Verhandlungen zwischen CDU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, an deren Ende ein gemeinsamer Gesetzentwurf stand, der am 15. Dezember im Landtag gegen die Stimmen der LINKEN verabschiedet wurde. Bemerkenswert ist, dass der Landtag zugleich auch einen Erläuterungstext beschloss, der einseitig die Sicht der Schuldenbremsen-Befürworter darstellt, und der an alle Haushalte gesendet werden soll. Gegen diesen Vorgang, der auf ein seltsames Demokratieverständnis schließen lässt, hat die LINKE ein Eilverfahren vor dem Staatsgerichtshof eingeleitet - der Ausgang des Verfahrens war bei Abfassung dieses Artikels noch offen.

Interpretationen und Motive

Der verfassungsändernde Text, der am 27. März in Hessen zur Abstimmung stand, wurde von SPD und Grünen auf der einen sowie CDU und FDP auf der anderen Seite ganz unterschiedlich ausgelegt. Insbesondere die SPD war der Auffassung, dass sie die Einnahmeverantwortung und den Schutz der Kommunen verankert habe. Sie stützte sich dabei auf die Formulierung, dass das Schuldenverbot "ungeachtet der Einnahmen- und Ausgabenverantwortung des Landtages und der Landesregierung" gelten solle. Damit, so wird vor allem von hessischen Sozialdemokraten suggeriert, sei der Landesregierung der Boden für ausgabenseitige Konsolidierungsmaßnahmen entzogen oder zumindest seien solche Maßnahmen erschwert. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Rentsch bezeichnete die entsprechenden Passagen in dem gemeinsam erarbeiteten Text hingegen als "Verfassungsprosa".13

Tatsächlich lag Rentsch mit dieser Auffassung richtig, wie ein Gutachten des Frankfurter Juraprofessors Günter Frankenberg zeigte, das er im Auftrag des DGB Hessen-Thüringen erarbeitete. Frankenberg bezeichnete die Formulierung der umstrittenen Passagen als "außerordentlich missglückt". Wenn die Einnahmen- und Ausgabenverantwortung Vorrang haben solle, würde - so Frankenberg - die Schuldenbremse gar nicht greifen, obwohl die Verschuldung gerade erschwert werden solle. Solle dagegen das Schuldenverbot Vorrang haben, sei die Formulierung überflüssig. Denn der Vorrang der Schuldentilgung ergebe sich bereits aus dem Grundgesetz. Wenn beabsichtigt sei, dass beide gleichrangig sein sollen, fehle jeglicher Hinweis darauf, welche Maßstäbe bei einer Abwägung anzulegen seien. Und auch den vielfach behaupteten Schutz der Kommunen, den der Schuldenbremsen-Entwurf vorsieht, betrachtete Frankenberg als wenig aussagekräftig, da der Schutz der Kommunen in der hessischen Verfassung ausreichend gewürdigt sei.

Vor diesem Hintergrund war natürlich nach den Motiven der Parteien zu fragen, die Volksabstimmung ausgerechnet anlässlich der landesweiten Kommunalwahl durchzuführen. Für Union und FDP war diese Frage vergleichsweise einfach zu beantworten. Zum einen dürften beide tatsächlich der Auffassung sein, dass die Schuldenbremsen-Abstimmung ein ›Gewinnerthema‹ sei. Zum anderen - und das dürfte wichtiger sein - spielten, wie bereits erwähnt, haushaltspolitische Überlegungen eine wichtige Rolle. Der Landtag verabschiedete im Dezember 2010 fast zeitgleich mit dem Text zur Verfassungsänderung einen Haushalt, der drastische Kürzungen gegenüber dem Vorjahr aufweist: So erhalten die Kommunen ab 2011 360 Mio.Euro weniger an Landeszuweisungen, und im Bildungsbereich werden 75 Mio.Euro gekürzt. Diesen Kurs - das geht aus der mittelfristigen Finanzplanung und entsprechenden Ankündigungen von Regierungsmitgliedern hervor - will die Landesregierung in den nächsten Jahren fortsetzen. Ihr geht es bei der Volksabstimmung folglich um die Legitimierung dieses Kurses. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Interview, das der hessische Finanzminister Thomas Schäfer der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 28.11.2010 kurz nach der Einigung auf einen gemeinsamen Gesetzestext mit Grünen und SPD unter der wohl wegweisenden Überschrift "Strukturell sparen, keine Tabus" gab. Schäfer vertrat dort wörtlich: "Je größer die Mehrheit bei der Abstimmung ausfällt, desto entschlossener wird die Politik reagieren können. Meine Arbeit wird leichter, wenn das Signal zum Sparen deutlich vernehmbar erschallt." Weitere Einschnitte beim Personal des öffentlichen Dienstes, so Schäfer weiter, seien unumgänglich, im Saldo müssten rund 1.200 Stellen abgebaut werden. Auch zur künftigen Lohnentwicklung äußerte Schäfer sich eindeutig: "Wenn es mal eine Tariferhöhung für die Landesbediensteten um zwei Prozent gibt, kann der Rest des Etats nicht mehr steigen. Das wird spannende Verteilungsdiskussionen geben, aber dieser Weg ist alternativlos."

Nicht ganz so einfach sind die Motive von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu ergründen - da insbesondere die SPD den Text zur Verfassungsänderung offiziell in der oben dargestellten Weise interpretiert.

Zeichen über Hessen hinaus

In Bezug auf die hessischen Grünen ist die Befürwortung der Schuldenbremse keine große Überraschung, da die Landtagsfraktion und insbesondere die für Finanz- und Haushaltsfragen verantwortlichen Abgeordneten schon sehr lange Befürworterinnen und Befürworter von Schuldenbremsenregelungen sind und in diesem Zusammenhang auch harte Kürzungsmaßnahmen wie den Abbau von Personal im Landesdienst propagierten.14 Bündnis 90/Die Grünen senden mit ihrer schon früh artikulierten Kompromissbereitschaft auch ein klares Signal an die Union, dass mit ihnen zukünftig ein neuer Koalitionspartner zur Verfügung steht. Schließlich ist der letzte Versuch, zusammen mit der SPD eine Regierung zu bilden, kläglich gescheitert. Und auf Dauer trotz guter Wahlergebnisse von Minister- oder weiteren Regierungsposten fern zu bleiben, dürfte vielen grünen Politikerinnen und Politikern nicht genehm sein.

Die Beweggründe der SPD fallen gegenüber den Motiven der Grünen wohl vielschichtiger aus. Vielen Landtagsabgeordneten dürfte nach dem Debakel der Ypsilanti-Wahl im Jahr 2008 einfach der Mut fehlen, sich zusammen mit der Linkspartei - und dann auch ohne die Grünen - in dieser Frage gegen die Landesregierung zu positionieren. Zudem haben sich SPD-Kommunalpolitikerinnen und -politiker offensichtlich frühzeitig klar gegen ein "Nein" zur Schuldenbremse positioniert, da sie befürchten, dass die vergleichsweise positiven Umfragewerte für die SPD sonst gefährdet seien. Wie CDU und FDP sehen sie in der Schuldenbremse tatsächlich ein ›Gewinnerthema‹. Und nicht zuletzt ist zu vermuten, dass auf die hessische Sozialdemokratie in Sachen Schuldenbremse auch innerparteilich zumindest sanfter Druck ausgeübt worden ist: Schließlich ist die SPD auf Bundesebene für die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz mitverantwortlich.

Eine Rolle könnte auch spielen, dass im Nachbarland Rheinland-Pfalz Landtagswahlen anstehen, und hier die Schuldenbremse geräuschlos unter Federführung der SPD in die Landesverfassung geschrieben wurde. Eine Beteiligung der hessischen SPD an einem gegenteiligen Bündnis hätte bei Kurt Beck und seinen rheinland-pfälzischen Genossen kaum Beifallsstürme ausgelöst, zumal ein "Nein" der hessischen Wählerinnen und Wähler zur Verankerung der Schuldenbremse in der Landesverfassung ein deutliches Zeichen über Hessen hinaus setzen würde.

What's left?

Trotz der sehr ungünstigen Ausgangslage gründete sich Ende Dezember 2010 die Plattform "Handlungsfähiges Hessen", der neben dem DGB Hessen-Thüringen verschiedene Organisationen wie ATTAC, der BdWi, der Beamtenbund, das entwicklungspolitische Netzwerk epn und andere Organisationen angehören. Die Plattform ruft - im Wesentlichen gestützt auf die umfangreichen haushaltspolitischen Analysen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK, vgl. Fußnote 1) - dazu auf, bei der Abstimmung über die Schuldenbremse mit "Nein" zu votieren. Außer Teilen der AWO bleiben die Wohlfahrtsverbände der Plattform fern - hier dürfte bei Caritas und Diakonie der Einfluss der Kirchen entscheidend gewesen sein, bei den anderen Verbänden dürften parteipolitische Bindung und Ähnliches eine Rolle spielen.

Wie die Abstimmung in Hessen ausgehen wird, ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags ungewiss - alles andere als ein klarer Erfolg der Schuldenbremsen-Befürworter wäre allerdings eine Überraschung. Mindestens so interessant wie das Abstimmungsergebnis am 27. März ist aber die hier dargelegte Debatte um die Schuldenbremse. Sie zeigt nachdrücklich, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen letztlich nicht in der Lage sind, dem von Union und CDU propagierten Leitbild vom ›schlanken Staat‹ - der Wirtschaftsweise Peter Bofinger spricht zutreffend vom ›Weg in den Magerstaat‹ - eine substantielle Alternative entgegenzusetzen. Aber vielleicht ist auch so eine Erwartung illusionär, da an den Steuersenkungsorgien der jüngeren Vergangenheit - allein im laufenden Jahr fehlen aufgrund von Steuerrechtsänderungen seit 1998 55 Mrd.Euro in den öffentlichen Kassen - sowohl CDU und FDP als auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen beteiligt waren. Insofern ist die ganz große Koalition in Sachen Schuldenbremse konsequent.

Anmerkungen

1) Für die Länderebene arbeiten verschiedene Studien heraus, dass die meisten Bundesländer damit vor einer großen Konsolidierungsaufgabe stehen, vgl. Truger, Achim/Will, Henner: Finanzpolitische und makroökonomische Risiken der Schuldenbremse in Schleswig-Holstein, IMK-Policy Brief, August 2009; Truger, Achim/Will, Henner/Köhrsen, Jens: Die Schuldenbremse: Eine schwere Bürde für die Finanzpolitik . Stellungnahme des IMK in der Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen der öffentlichen Anhörung des nordrhein-westfälischen Landtags, IMK-Policy Brief, September 2009; Truger, Achim/Eicker-Wolf, Kai/Will, Henner/Köhrsen, Jens: Auswirkungen der Schuldenbremse auf die hessischen Landesfinanzen, IMK-Studies 6-2009; Himpele, Klemens: Die Umsetzung der Schuldenbremse in den Ländern, Wien 2010; Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung: Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, Essen 2010

2) Hierbei handelt es sich um Truger, Achim/Eicker-Wolf, Kai/Will,Henner /Köhrsen, Jens, a.a.O.

3) Vgl. dazu Eicker-Wolf, Kai/Thöne, Ulrich (Hg.): An den Grundpfeilern unserer Zukunft sägen. Bildungsausgaben, Öffentliche Haushalte und Schuldenbremse. Marburg 2010

4) Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände: Defizitabbau im Landeshaushalt durch Verfassungsziele. Initiative hessischer Kammern, Organisationen und Verbände, Frankfurt a. M. 2010 (Stand 4. März)

5) Bündnis Soziale Gerechtigkeit in Hessen: Keine "Schuldenbremse" in die hessische Landesverfassung - für einen handlungs- und leistungsfähigen Staat!, Frankfurt a. M. 2010

6) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.07.2010: "Sparen ist ein Gewinnerthema"

7) Vgl. Pressemeldung der hessischen CDU-Landtagsfraktion vom 09.09.2010: Christean Wagner: "Wir wollen ein Hessen ohne neue Schulden" - "Schuldenbremse macht Hessen generationengerecht und zukunftsfest"

8) Vgl. FAZ vom 13.07.2010: "Wir haben den Mut, uns selbst zu binden" (Interview)

9) Klemens Himpele a.a.O.

10) Vgl. FAZ vom 10.09.2010: "Koalition und Grüne nähern sich an"

11) Vgl. Pressemitteilung von Bündnis '90/Die Grünen, Landtagsfraktion Hessen vom 09.09.2010: "Schuldenbremse - GRÜNE beantragen Anhörung und wollen breite gesellschaftliche Debatte"

12) Vgl. Pressemitteilung der hessischen SPD-Landtagsfraktion vom 09.09.2010: "Norbert Schmitt (SPD): Keine Zustimmung der SPD für eine Verfassungsänderung"

13) Vgl. Frankfurter Rundschau vom 13.12.2010: "Schuldenbremse missglückt"

14) Bündnis 90/Die Grünen - Landtagsfraktion Hessen: Hessen tritt auf die Schuldenbremse, Wiesbaden 2010



Dr. Kai Eicker-Wolf arbeitet in der Abteilung Wirtschafts- und Strukturpolitik des DGB Hessen-Thüringen

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