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Klaus Holzkamp

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Grünes Wachstum ohne Happy End

  
 

Forum Wissenschaft 2/2012; Foto: photocase.com – Indigo Blue

Mit der Politik des "Atomausstiegs" wird seit der Katastrophe von Fukushima so getan, als wäre nachhaltiges Wirtschaften ein ernsthaftes politisches Ziel, wird die Utopie vom "grünen Wachstum" postuliert. Dass das überhaupt funktionieren kann, bezweifelt Niko Paech und plädiert für die "Befreiung vom Überfluss" als einzigem Ausweg.

Fukushima macht's möglich: Unter dem Banner der "Energiewende" ereignet sich derzeit ein furioses Schauspiel. Um das Dogma stetigen Wachstums nicht anzutasten, jedoch zugleich Nachhaltigkeitsfortschritte zu simulieren, finden zwei Amokläufe statt, die den Rest halbwegs intakter Naturgüter in die Zange nehmen:

Ersterer umfasst eine Renaissance der Kohle. Die Armada in Deutschland geplanter neuer Braun- und Steinkohlekraftwerke deckt nahezu die Gesamtkapazität der stillzulegenden Atommeiler ab.

Der zweite Gnadenstoß kulminiert in einer Nachverdichtung bis dato unversiegelter und unbebauter Landschaften mit Wind-, Biogas- und Freiflächensolaranlagen, ergänzt um Pumpspeicherkraftwerke und Stromtrassen. Landschaftsschutzgebiete sind kein Tabu mehr. Könnte es sein, dass Klimaschutzanstrengungen in Form ökonomischer und technischer Expansion mehr Schäden anrichten als der eigentliche Klimawandel?

Hinzu kommt, dass der sich absehbar zum desaströsesten Klimakiller mausernde Flugverkehr aus allen Weltrettungsszenarien fein säuberlich herausgehalten wird. Das trifft nicht minder auf den Autoverkehr zu. Vor dem massenhaft ertrotzten Menschenrecht auf globale und unbeschränkte Mobilität hat der Nachhaltigkeitsdiskurs schlicht kapituliert. Ähnliches gilt für die industrielle Landwirtschaft, den ungebremsten Zubau von Immobilien, Produktionsstätten und Infrastrukturen oder die Einwegverpackungs- und Elektronikschrottflut. Die Liste ließe sich beliebig fortführen.

Dass der freie Fall in ein umweltpolitisches "Age of the Stupid" musikalisch vom Gassenhauer des grünen Wachstums begleitet wird, also der Behauptung, technische Innovationen würden ein weiter wucherndes Bruttoinlandsprodukt (BIP) von ökologischen Schäden entkoppeln, bildet den Gipfel der Verhöhnung. Apropos Gipfel. Hoffnungen darauf, dass der Rio+20-Gipfel diesem absurden Theater etwas entgegensetzen könnte, sind völlig unbegründet. Dort wird es wohl weniger um die Grenzen des Wachstums als um das Wachstum der Grenzen gehen. Das hält den Verfasser des vorliegenden Traktates nicht davon ab, auf zwei besonders relevante Wachstumsgrenzen einzugehen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Fallstricke der ökologischen Modernisierung

Im Falle der regenerativen Energien lässt sich die Funktionsweise des "Green Growth" schon erkennen. So hat das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erreicht, zusätzliche Investitionen in zusätzliche Anlagen mit dem Effekt zusätzlicher ökologischer Zerstörung zwecks Produktion zusätzlicher Endenergie zu mobilisieren, die wiederum zusätzliche Energienachfrage bedient und zusätzliches Einkommen für die daran beteiligen Unternehmen und Arbeitnehmer generiert. Um zu verstehen, warum die ökologische Entkopplung1 des BIP-Wachstums einer Quadratur des Kreises entspricht, sind zunächst zwei Sachverhalte zu berücksichtigen:

(1) Ohne zusätzlichen Output an produzierten Gütern ist eine BIP-Steigerung nicht möglich. Deshalb korrespondiert jeder BIP-Zuwachs mit einer mehr oder weniger materiellen Entstehungsseite.

(2) Eine Zunahme des BIP steigert das verfügbare Einkommen und somit die Kaufkraft mindestens eines Teils der Bevölkerung. Daraus resultiert eine Verwendungsseite des monetären Zuwachses, die sich ebenfalls mehr oder weniger materiell niederschlägt.

Dies hat eine entscheidende Konsequenz: Wenn ein BIP-Zuwachs insoweit als "grünes Wachstum" bezeichnet werden soll, dass durch ihn wenigstens keine zusätzlichen ökologischen Schäden verursacht werden, muss dies notwendigerweise auf der Entstehungs- und Verwendungsseite des BIP-Zuwachses gelten. Entkopplung, die diesen Namen verdient, bedarf also eines doppelten Kunststücks.

Entstehungsseite: Materielle Rebound-Effekte

Welche Güter oder Dienstleistungen könnten so beschaffen sein, dass sowohl deren Produktion, Nutzung als auch Entsorgung einerseits jeglicher Flächen-, Materie- und Energieverbräuche enthoben ist, dass sie jedoch andererseits in Form geldwerter Leistungen von mindestens einem Anbieter zu mindestens einem Nachfrager übertragen werden?2 Jedenfalls erfüllen Passivhäuser, Elektromobile, Ökotextilien, Photovoltaikanlagen, Bio-Nahrungsmittel, Stromleitungen, Blockheizkraftwerke, solarthermische Heizungen, Cradle-to-cradle-Getränkeverpackungen, Carsharing- oder Internet-Dienstleistungen etc. diese Bedingung mitnichten; ihre Bereitstellung ist niemals ohne physischen Aufwand zu gewährleisten.

Immerhin eine Ausnahme von der unvermeidlichen Materialität jeglicher Leistungsausformung und -übertragung wurde zeitweilig für möglich gehalten: digitale Technologien und Services. Allerdings ist diese Dematerialisierungsvision längst an einer nie dagewesenen Elektroschrottlawine, ganz zu schweigen von den Verbräuchen an fossilen Ressourcen, Mineralien, Seltenen Erden, Metallen etc. zerschellt. Denn auch wenn die eigentliche Leistungsübertragung per Mausklick oder als Abruf virtuell bearbeitbarer Informationspakete erfolgt, bedarf es an den End- und Anfangspunkten derartiger Prozessketten einer umso massiveren Ausstattung mit materiellen "Dienstleistungserfüllungsmaschinen".

Ein vielfach erhoffter Ausweg wurde darin gesehen, die neuen Nachhaltigkeitslösungen eben nicht zusätzlich, sondern nur als Ersatz für weniger nachhaltige Outputeinheiten zu verwenden. Aber eine Reduktion stofflicher Flussgrößen würde nicht per se zu einer Entlastung führen, wenn dies mit einer Ausdehnung materieller Bestandsgrößen einherginge. Deshalb scheitert diese Strategie - zumindest wenn sie zum BIP-Wachstum beitragen soll - an mehr als nur einem Widerspruch. Effizienz- und Konsistenzpotenziale zur Senkung von Stoffströmen fallen weder vom Himmel, noch sind sie durch einfache Anpassungen oder Umrüstungen vorhandener Produktionsstätten möglich. Erforderlich sind Investitionen in neue Anlagen oder gar Produktionsstandorte. Um zu erwirken, dass es zu einer Substitution anstelle purer Addition nachhaltigeren Outputs kommt, müssten die alten Kapazitäten stillgelegt werden. Die Aussicht darauf, dies gegen den Widerstand der davon profitierenden Unternehmer und Arbeitnehmer erwirken zu können, dürfte denkbar gering sein. Insoweit dies noch nie gelang, führten Nachhaltigkeitsinnovationen stets zur Aufblähung des Outputs, wie die friedliche Koexistenz von Kohle und Erneuerbaren eindrucksvoll zeigt. Aber selbst wenn die Stilllegung alter Kapazitäten gelänge, wie wäre es dann möglich, auf ökologisch neutrale Weise die Materie ganzer Industrien verschwinden zu lassen?

Sollte auch dies gelingen - wohlgemerkt in einem Paralleluniversum, das kein Entropiegesetz kennt -, könnte das BIP nicht dauerhaft wachsen, weil jeder neuen Wertschöpfung ein Verlust infolge des Rückbaus alter Strukturen entgegenstünde. Wer beispielsweise glaubt, die Erneuerbaren könnten langfristig die BIP-Beiträge der atomaren und fossilen Industrien ersetzen, übersieht mindestens zweierlei: Die derzeitig bestaunten Wertschöpfungsbeiträge grüner Technologien entsprechen einem Strohfeuereffekt, der allein dem vorübergehenden Kapazitätsaufbau geschuldet ist. Danach reduziert sich die ökonomische Wirkung auf einen Energiefluss, der vergleichsweise wenig Aufwand an wertschöpfungsträchtigen Inputs verursacht und nicht beliebig gesteigert werden kann - es sei denn, die Produktion neuer Anlagen wird ohne Begrenzung fortgesetzt. Aber dann nehmen die schon jetzt kaum mehr erträglichen landschaftlichen Zerstörungen entsprechend zu, weil die materiellen Bestandsgrößen expandieren. Daran zeigt sich nebenbei, dass regenerative Energien selbst im besten Fall kein ökologisches Problem lösen, sondern nur in eine andere physische, räumliche, zeitliche oder systemische Dimension transferieren, was für die meisten anderen Hoffnungsträger des Green Growth nicht minder gilt.3

Verwendungsseite: Finanzielle und psycholo- gische Rebound-Effekte

Angenommen, ein wenigstens von der Entstehungsseite her ökologisch unschädliches BIP-Wachstum wäre denkbar. Wie könnte dann sichergestellt werden, dass auch die damit unvermeidlich korrespondierenden Einkommenszuwächse ökologisch neutral sind? Selbst unter strengsten umweltpolitischen Reglementierungen würde der Warenkorb jener Konsumenten, die das zusätzliche Einkommen beziehen, welches in den "grünen" Branchen erwirtschaftet wird, Güter enthalten, in deren globalisierte Produktion fossile Energie und andere Rohstoffe einfließen. Selbst unter der abwegigen Annahme, dass die ArbeitnehmerInnen grüner Branchen besonders umweltbewusst sind, könnte es diesen nie gelingen, ihre Konsumausgaben ökologisch zu neutralisieren. Würden diese Personen etwa nicht in Eigenheimen leben, mit dem Flugzeug reisen, Auto fahren und das übliche Güterspektrum in Anspruch nehmen?

Insgesamt würde die Einkommenswirkung des vermeintlich grünen Wachstums paradoxerweise die Nachfrage nach fossiler Energie und anderen Ressourcen steigern (Finanzieller Rebound-Effekt Nr. 1).

Dieses Problem verschärft sich sogar, wenn berufliche Tätigkeiten in grünen Branchen aufgrund ihrer positiven Symbolik eine perfekte moralische Kompensation dafür bilden, es mit dem Klimaschutz im Rahmen privater Mobilität und Konsumhandlungen nicht so genau zu nehmen (Psychologischer Rebound-Effekt).

Zu berücksichtigen sind zwei weitere finanzielle Rebound-Effekte. Wenn beispielsweise der Elektrizitätsoutput insgesamt steigt - etwa weil nicht im Umfang des Ausbaus der Erneuerbaren die Kapazität an fossiler Produktion verringert wird -, sinkt insgesamt der Strompreis, was wiederum die Nachfrage erhöht, und zwar sowohl nach zusätzlicher Energie als auch nach Energie verbrauchenden Geräten. Dass davon partiell auch der fossile Bereich profitiert, ist nicht auszuschließen (Finanzieller Rebound-Effekt Nr. 2). Ein dritter finanzieller Rebound-Effekt kann eintreten, wenn Effizienzerhöhungen die Betriebskosten bestimmter Objekte (Häuser, Autos, Beleuchtung etc.) reduzieren. Die Einsparungen sind dann für zusätzliche Mobilität und Konsumausgaben verfügbar.

Die drei finanziellen Rebound-Effekte wären nur zu vermeiden, wenn jeder Einkommenszuwachs, der durch Investitionen in "grüne" Produktionsanlagen induziert wird, vollständig abgeschöpft würde. Aber abgesehen davon, dass dies unter marktwirtschaftlichen Bedingungen undenkbar ist, ergäbe sich ein unlösbarer Widerspruch zur Logik des (grünen) Wachstums. Was könnte absurder sein, als Wachstum zu erzeugen, um es dann im selben Moment zu neutralisieren? Insoweit genau dies aber schon allein um der Tilgung konterkarierender Einkommenseffekte notwendig wäre, ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:

(1) "Grünes" Wachstum, verstanden als absolute Entkopplung eines BIP-Zuwachses von ökologischen Schäden, ist selbst dann schlicht undenkbar, wenn die materielle Entstehungsseite vernachlässigt wird. Studien, die unter Rückgriff auf umweltökonomische Gesamtrechnungen eine absolute Entkopplung in Deutschland konstatieren, werfen eine interessante Frage auf: Wie kann empirisch möglich sein, was nicht einmal theoretisch darstellbar ist? Neben den unüberschaubaren Schlupflöchern einer Verlagerung ökologischer Schäden ist zu berücksichtigen, dass nicht jede Reduktion von Umweltbelastungen auf eine Entkopplung kraft grüner Innovationen schließen lässt, sondern auch das Resultat des Zusammenbruchs oder Rückbaus bestimmter Industrien sein kann. Letzteres wäre erstens keine Entkopplung und zweitens ein nicht wiederholbarer Einmaleffekt.

(2) Die Behauptung, durch Investitionen in grüne Technologien könne Wirtschaftswachstum mit einer absoluten Senkung von Umweltbelastungen einhergehen, ist nicht einfach nur falsch - es ist sogar das genaue Gegenteil der Fall: Nur unter der Voraussetzung, dass das BIP gerade nicht wächst, haben grüne Technologien überhaupt eine Chance, die Ökosphäre zu entlasten. Und dies ist nicht einmal eine hinreichende, sondern nur eine notwendige Bedingung, weil die direkten und indirekten materiellen Effekte auf der Entstehungsseite ebenfalls einzukalkulieren sind.

Zeitökonomische Wachstumsgrenzen

Das expansive Wesen moderner Freiheitsauslegungen wird einer gewandelten Realität nicht mehr gerecht. Frühe Phasen der Moderne waren nicht nur von materieller Knappheit beherrscht, sondern einer noch nicht ausgeschöpften menschlichen Aufnahmekapazität für zusätzliche Optionen konsumtiver Selbststeigerung. Dieses Zweigestirn aus Haben-wollen und Verarbeiten-können war der Motor einer Ausdehnungsbewegung, die folgerichtig mit Freiheitsgewinnen gleichgesetzt werden konnte. Inzwischen ist ein Stadium der Überladung erreicht. Alle Dimensionen menschlicher Existenz sind okkupiert und vollgepfropft: Die Ökosphäre, die Landschaft, die Städte, der Terminkalender, die Freizeit, die Mobilität, die Bildung, die Vorsorge, das Portfolio beruflicher Entfaltung, die digitalen Kommunikationskanäle, insbesondere die hierdurch ermöglichten sozialen Netze bis in die letzten Nischen etc.

Alles ist verdrahtet, an jedem Ort und zu jeder Zeit im Sonderangebot erhältlich. Deshalb ist das moderne Dasein vordergründig so leicht - und doch zugleich so schwer. Zwei einander verstärkende Mechanismen konterkarieren das moderne Glücksversprechen: Erschöpfung4 infolge des Abarbeitens einer kaum zu bewältigenden Ereignisdichte trifft auf Inhaltsleere infolge des nur noch flüchtigen "Antriggerns" der einzelnen Optionen. Der Überfluss an Möglichkeiten, die alle erschlossen werden wollen, führt in eine unerträgliche Leichtigkeit - zutreffender: Seichtigkeit - des Seins. Wenn immer mehr Informationsverarbeitung, Entscheidungsbedarfe und Handlungsoptionen auf ein nicht vermehrbares Potenzial an Zeit und Aufmerksamkeit verteilt werden, nimmt zwar der Konsumwohlstand zu, aber die Bedürfnisbefriedigung bleibt auf der Stecke.

An die Stelle einer Ausschöpfung tritt das buchstäblich oberflächlichste Prinzip der Aneignung, nämlich das Scannen und Surfen auf einem Ozean der Möglichkeiten, in den an keiner Stelle mehr eingetaucht werden kann. Für das Verweilen und die Kontemplation fehlt es an Zeit, weil mit hoher Geschwindigkeit zum nächsten Ereignis davongeeilt wird. Wer schnell dahinsaust, hat stets zu wenig Zeit, um sich auf die einzelnen Dinge am Wegesrand einzulassen. Aber ohne ein Minimum an eigener Zeit und Konzentration lassen sich keiner Aktivität oder Ware nutzenstiftende Momente entringen.5 Sie werden zu bloßen Symbolen oder Wohlstandstrophäen. Folglich gerät jede Balance zwischen vertikaler Vorwärtsbewegung und horizontaler Vertiefung zulasten der Letzteren aus den Fugen. Und immer sitzt die Angst im Nacken, etwas anderes zu versäumen, falls die Verweildauer an einem Punkt innerhalb des multioptionalen Koordinatensystems zu lang werden sollte.

Die zweite Konsequenz eines verdichteten Lebens besteht im Verlust an Selbstwirksamkeit. Wenn alles nur in vorgefertigter Form abgerufen wird, bleibt kein Raum für eigene Gestaltung. Das Erfolgserlebnis, ein Konsumobjekt eigenhändig erschlossen zu haben und sei es nur durch den eingeübten Umgang, die mühsam erlangte Sachkenntnis oder die Mitwirkung am Zustandekommen eines Ergebnisses, bleibt aus. Eine dritte Eskalation liegt in der fatalen Verletzlichkeit einer auf äußere Zufuhr angewiesenen Daseinsform. Mit der Höhe des konsumtiven Versorgungsniveaus steigt nicht nur die Fallhöhe, wenn Finanz- und Ressourcenkrisen das Kartenhaus zum Einsturz bringen sollten. Auf dem langen Marsch in den Überfluss haben sich deren Nutznießer jeglicher Fähigkeiten entledigt, notfalls durch handwerkliche, manuelle oder substanzielle Kompetenzen auch ohne Geld und Industrie zur Sicherung ihrer Daseinsgrundfunktionen beizutragen. Wer schicksalhaft an den Marionettenfäden einer Versorgung durch Markt oder Staat hängt, lebt niemals krisensicher.

Letzter Akt: Und erlöse uns von jeglicher Verantwortung

Die Alternative zur gescheiterten Entkopplungsstrategie kann nur Reduktion heißen. Sie umfasst zwei Grundtendenzen, nämlich erstens eine Rückkehr zu kleinräumigen, graduell deindustrialisierten Versorgungsstrukturen6 (Subsistenz, Regionalökonomie, Restindustrien mit kürzeren Wertschöpfungsketten) und zweitens eine Dämpfung nicht globalisierungsfähiger Konsum- und Mobilitätsansprüche (Suffizienz, Entschleunigung, Sesshaftigkeit). Dies sind nur zwei Bausteine einer Postwachstumsökonomie, die an anderer Stelle hinreichend beschrieben wurde.7 Der damit einhergehende Prozess einer Entrümpelung auf gesellschaftlicher und individueller Ebene könnte überdies dazu verhelfen, sich von Ballast zu befreien, der nicht nur die ökologische, sondern auch die menschliche Aufnahmekapazität überfordert. Zeitknappheit ist ein gnadenloses Regime. In einer übervollen Welt drohen nicht nur chronische Konzentrationsschwächen und Aufmerksamkeitsdefizite. Denn von dort ist es nicht weit zum Verlust jeglicher Achtsamkeit und schließlich Eigenverantwortung. Wer die gerade noch zu bewältigende Ereignisdichte eines entgrenzten Daseins meistert, hat eines ganz bestimmt nicht: Zeit zum Innehalten, um die Konsequenzen aus der Unverantwortbarkeit derartiger Praktiken zu ziehen.

Aber findet sich auf der Benutzeroberfläche eines komfortablen Lebens nicht auch dafür eine Applikation? Ja doch, würden Verfechter des Green Growth bzw. der Green Economy begeistert ausrufen. Denn letztlich liegt die Attraktivität der grünen Fortschrittsreligion darin, ein auf Plünderung beruhendes Wohlstandsmodell von jeder eigenen Verantwortung zu entkoppeln, regelrecht rein oder grün zu waschen. Grüne Technologien fungieren als moralischer Blitzableiter in ihrer Mischung aus Hoffnungsträger und geduldigem Prügelknaben. Nicht maßlose Konsum- oder Mobilitätsansprüche, sondern der (noch) nicht eingeleitete Entkopplungsfortschritt ist schuld am Desaster. Die daraus erwachsende Genuss-ohne-Reue-Rezeptur wird sich in Rio sicherlich gut verkaufen lassen. Ein paar Jahre bleiben dann noch.

Anmerkungen

1) Im Rahmen des vorliegenden Artikels wird unter Entkopplung ein Wertschöpfungszuwachs verstanden, der keine zusätzlichen Umweltschäden verursacht. Diese Präzisierung dient der Abgrenzung von einer sog. "relativen" Entkopplung, die lediglich bewirkt, den Schaden einer zusätzlichen BIP-Einheit zu reduzieren, somit das absolute Niveau der Umweltbelastung fortwährend zu erhöhen.

2) Mit zunehmender Arbeitsteilung nimmt die Anzahl der Produktionsstufen, auf denen die Leistungseinheiten transformiert, bearbeitet und Raum überwindend zur nächsten Stufe übertragen werden müssen, entsprechend zu.

3) Bruno Kern 2009: "Die EURheit ist dem Menschen zumutbar. Energiewende zwischen infantilen Phantasien und Ernüchterung", in: Streifzüge 46/2009 ( www.streifzuege.org ); Niko Paech 2012: "Grünes Wachstum? Vom Fehlschlagen jeglicher Entkopplungsbemühungen: Ein Trauerspiel in mehreren Akten", in: Thomas Sauer (Hg.): Ökonomie der Nachhaltigkeit. Grundlagen, Indikatoren, Strategien, Marburg: 161-181.

4) Alain Ehrenberg 2004: Das erschöpfte Selbst, Frankfurt.

5) Niko Paech 2010: "Nach dem Wachstumsrausch: Eine zeitökonomische Theorie der Suffizienz", in: Zeitschrift für Sozialökonomie 47/166-167: 33-40.

6) Björn Paech, Niko Paech 2011: "Suffizienz plus Subsistenz ergibt ökonomische Souveränität", in: Politische Ökologie 29/124: 54-60.

7) Niko Paech 2005: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum, Marburg; Niko Paech 2012: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München.


Apl. Prof. Dr. Niko Paech vertritt den Lehrstuhl Produktion und Umwelt (PUM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Vorsitzender der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ). Seine wichtigsten Forschungsgebiete: Postwachstumsökonomik, Konsumforschung, Klimaschutz, Innovations- und Diffusionsforschung, Umweltökonomik, Sustainable Supply Chain Management.

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