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Von Zetteln, Zeitungsartikeln und Zeitschriften

17.11.2011: Das Archiv der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM)

  
 

Forum Wissenschaft 3/2011; Foto: Sven Hoffmann – Fotolia.com

In Zeiten der Digitalisierung und der Kürzungen im Wissenschafts- und Bildungsbereich sind Archive zunehmend von Schließungen bedroht. Derzeit wird die Schließung der beiden Staatsarchive Freiburg und Sigmaringen diskutiert; aktuell in der Debatte ist aber auch die Schließung des Deutschen Rundfunk Archivs (DRA) (Frankfurt am Main / Babelsberg), welches 1952 als Lautarchiv des Deutschen Rundfunks gegründet wurde. Als Ausnahme zur Regel berichten Sabrina Freyer und Gudrun Hentges über einen gegenteiligen Trend in Fulda.

An der Hochschule Fulda wurde im Juni 2011 das dritte Archiv eröffnet. Neben der "Wissenschaftlichen Sammlung Rhön", dem "Peter-Kühne Archiv" zum Thema Flucht, Asyl und Migration steht nun auch das aus Berlin stammende "Archiv der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM)" Studierenden und Lehrenden für Recherchearbeiten zur historischen Migrationsforschung und darüber hinaus allen Interessierten zur Verfügung. Das neu akquirierte Archiv der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration ergänzt das Peter-Kühne-Archiv, das im Sommersemester 2008 an der Hochschule Fulda eröffnet wurde. Dieses Archiv - eine Schenkung des Dortmunder Wissenschaftlers Prof. Dr. Peter Kühne1 - wird derzeit erschlossen und ist für Forschung, Studium und Lehre und die interessierte Fachöffentlichkeit zugänglich.2

Das FFM-Archiv entstand im Jahr 1994 als Arbeitsarchiv der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration. Es umfasst vor allem graue Literatur, die in den etablierten Bibliotheken und Instituten nicht zu finden ist: Zeitschriften, Zeitungsartikel, veröffentlichte und unveröffentlichte Texte der Forschungsgesellschaft und Texte anderer kritischer Initiativen aus dem Bereich der Flüchtlingsarbeit, somit Schlüssel- und Hintergrundtexte zur internationalen Migrations- und Flüchtlingspolitik.3 Die FFM-Bestände haben einen Umfang von ca. 20 laufenden Regelmetern Ordnern und ca. 8 laufenden Metern Büchern und Broschüren.

In der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatte um das Thema Flucht und Migration sowie der Praxis im Umgang mit Flüchtlingen lassen sich eindeutige Kontinuitäten ausmachen. Am 21. Januar 2011 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowohl Griechenland als auch Belgien wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.(EMRK Art. 3) In der über die Dublin II-Regelung erfolgten Rückführung eines Flüchtlings von Belgien nach Griechenland sah der EGMR eine Verletzung des Verbots der unmenschlichen Behandlung durch beide Staaten gegeben. Durch Griechenland, da es verantwortlich ist für die vom Gericht als menschenrechtswidrig eingestuften Bedingungen für Asylsuchende, und durch Belgien, das einen Flüchtling trotz des Wissens um die dort herrschenden Zustände nach Griechenland abgeschoben hatte.4 Jedoch enthält das Archiv zum Beispiel einen Artikel, der beweist, dass schon 1994 der Hohe Kommissar für Flüchtlinge (UNHCR) in einer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht befand, dass Griechenland einen "effektiven Schutz für abgeschobene Asylbewerber [...] nicht gewährleistet."5

Erwähnt seien - neben vielen anderen Themen - folgende Schwerpunkte des Archivs:

  • Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen an der ehemaligen EU-Außengrenze Deutschland/Polen und Deutschland/Tschechien
  • die Arbeitsweise des Bundesgrenzschutzes (BGS) und die durch ihn erfolgte Einbindung der an der Grenze lebenden Bevölkerung, zum Beispiel durch Aufforderung zur Denunziation von ›verdächtig aussehenden Fremden‹.
  • So geht aus einem im FFM-Archiv befindlichen Bericht des BGS Berlin hervor, dass allein im Jahre 1994 14 Menschen in der Neiße ums Leben gekommen sind, hauptsächlich Flüchtlinge aus Sri Lanka, die versuchten über Polen nach Deutschland einzureisen.

Doch im Archiv befinden sich nicht ausschließlich Archivalien zu Flucht und Migration. So dokumentiert es auch den Anstieg rassistischer Übergriffe und den Zuwachs neonazistischen Gedankenguts vor allem in den neuen Bundesländern, ebenso wie die Selbstorganisation von Flüchtlingen und deren Kampagnen zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation. Ein Beispiel dafür ist die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen im Jahre 2002 unter dem Motto "Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme", angelehnt an die 2002 stattfindende Bundestagswahl.

Vergleicht man die im Archiv dokumentierte Debatte zu Flucht und Asyl mit dem aktuellen politischen Diskurs über den Umgang mit Flüchtlingen, so lassen sich zahlreiche Kontinuitäten feststellen, die rassistische Ressentiments verstärken. Durch die beeindruckende Fülle an Materialien, die im Archiv lagern, kann die mediale Assoziationskette Flüchtling = Illegal = Schlepper = Kriminalität sehr gut nachvollzogen werden.

Um eine effektive Nutzung dieses Archivs gewährleisten zu können, ist eine Verzeichnung und inhaltliche Erschließung der Bestände erforderlich. In einem ersten Schritt sollen die Bestände tiefer erfasst werden. Ausgewählte Bestände könnten - soweit rechtlich zulässig - digitalisiert erfasst werden und über den Dokumentenserver der Hochschul- und Landesbibliothek (HLB) im Internet veröffentlicht und so für Wissenschaft und Lehre direkt am Arbeitsplatz verfügbar gemacht werden. Perspektivisch sollen neben der bibliothekarischen Erschließung die archivischen Bestände über die Software MidosaXML erfasst werden, die bereits zur Erschließung von Archivalien in der Wissenschaftlichen Sammlung Biosphärenreservat Rhön sowie im Peter-Kühne-Archiv im Einsatz ist und sich dort bewährt hat. Neben der Erschließung soll das Archiv um zentrale Dokumente und Literatur ergänzt und somit vervollständigt werden.

Das Archiv ist jeden Mittwochnachmittag von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet; die Nutzung des Archivs zu anderen Terminen ist nach Absprache möglich (Kontakt: sophies-welt@gmx.net ). Eine Mitarbeiterin kann bei Bedarf Hilfestellungen bei der Recherche anbieten.

Anmerkungen

1) Vgl. zur Person von Peter Kühne: Nihat Öztürk / Harald Rüßler / Andreas Treichler, 2011: "Dem Zufluchts- und Einwanderungsland Deutschland ein menschliches Gesicht abringen - Zum 76. Geburtstag von Peter Kühne", in: Migration und Soziale Arbeit, Heft 2/2011, 100-103

2) Peter Kühne Archiv: www.hs-fulda.de/index.php?id=7253 ; Gudrun Hentges / Regina Trautvetter: "Tür auf für das Peter Kühne Archiv. Eine Fundgrube zum Thema Einwanderung, Flucht und Asyl", in: einseitig.info, www.einseitig.info/html/content.php?txtid=706

3) Archiv der Forschungsgemeinschaft Flucht und Migration: www.hs-fulda.de/index.php?id=9493

4) www.nds-fluerat.org/5493/aktuelles/strassburger-urteil-zum-dublin-system

5) "Griechenland nicht ›sicher‹" in: Frankfurter Rundschau vom 25.03.1994, 5


Sabrina Freyer, Jg. 1984, studiert seit 2008 Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt interkulturelle Beziehungen am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda. Seit April 2011 arbeitet sie als studentische Hilfskraft im Archiv der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration. Prof. Dr. Gudrun Hentges ist Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Hochschule Fulda.

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