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Klaus Holzkamp

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Neoliberale Krisenbewältigung

10.04.2018: Autoritärer Populismus als Strategie

  
 

Forum Wissenschaft 1/2018; Foto: maxsattana / shutterstock.com

In vielen Staaten wird ein Aufschwung von Nationalismus, Autoritarismus und Rassismus sowie eine Gefährdung des Rechtsstaats und der Demokratie beobachtet. Maßgeblich werden diese teilweise weitreichenden Vorgänge von einem rechten und autoritären Populismus und seinen Vertretern betrieben und repräsentiert. Der autoritäre Populismus bestimmt vielfach die politische Agenda und propagiert national-konservative, ethnozentrisch-rassistische und autoritär-etatistische politische Ziele. Davon handelt der Beitrag von Alex Demirovic.

Von manchen Kommentatoren wird dieser Populismus als eine "Flut" betrachtet, die die Integration der pluralistischen Gesellschaften und die Stabilität der Demokratie in aller Welt, auch in Europa, gefährde und die eingedämmt werden müsse.1 Das suggestive Bild legt nahe, dass die Demokratie plötzlich und von außen bedroht werde. Eine solche Analyse ist jedoch irreführend und zu harmlos. Denn der Populismus ist kein Phänomen, das sich nur an den Rändern der Demokratie beobachten lässt oder von dort kommt, um ins Zentrum zu drängen. Es erwächst offensichtlich aus der Gesellschaft selbst in ihrer Gesamtheit.

Die politische Dynamik hängt nicht oder nicht vorrangig von den Einstellungen in der Bevölkerung ab, die von rechten und populistischen Parteien gebündelt und mobilisiert werden. Diese Einstellungen und ideologischen Muster gibt es seit langem, auch wenn sie ihre Form und ihre Verknüpfung ändern können und verschiedene Konjunkturen durchlaufen. Auch die Parteien, die sich auf diese Einstellungen stützen, sie fördern und verstärken, mobilisieren oder organisieren, sind vielfach nicht neu. Allerdings lassen sich deutliche Veränderungen bei den politischen Parteien und ihrem Verhältnis zueinander beobachten. In einigen Fällen kommt es zu Verschiebungen und eine vorhandene Partei orientiert sich nach rechts (Republikanische Partei in den USA) oder wird vorsichtiger und taktischer (Front National, Alleanza Nazionale, FPÖ). In anderen Fällen ändern sich die Namen und in einem gewissen Umfang die Ziele (die Entwicklung Lega Lombarda zu Lega Nord und neuerdings Lega). In dritten Fällen werden neue Parteiorganisationen gegründet, um eine Neuzusammensetzung zu ermöglichen und taktisch oder strategisch erfolgreicher zu sein (Berlusconis verschiedene Parteien). Viertens schließlich werden neue Parteien geschaffen (Grillos Fünf-Sterne-Bewegung).

Eine Krise der Repräsentation wird seit längerem beobachtet. Neu ist, dass sich offensichtlich ein neues Repräsentationsverhältnis aufbaut. Den herrschenden Parteien, die die großen politischen Lager - und häufig nach einem vagen Links-Rechts-Schema - organisieren, gelingt es deutlich weniger, die WählerInnen zu organisieren und zu binden. Es kommt zu Offenheit, Kurzfristigkeit und Volatilität im Wahlverhalten oder in den Zustimmungswerten für das politische Führungspersonal.2 Autoritär-populistischen Parteien gelingt es vermehrt, die kritische Stimmung gegen den Machtblock als ressentimentgeladene Stimmung gegen ›die da oben‹, die ›machen, was sie wollen‹, zu mobilisieren und zu organisieren. Mit Rassismus und Nationalismus beeinflussen sie die politische Agenda oder nehmen erfolgreich an Wahlen von der kommunalen bis zur europäischen Ebene teil, sie erheben politische Führungsansprüche, betreiben eine neue Anordnung der politischen Kräfte und verändern die Herrschaftsbeziehungen zwischen den sozialen Klassen. Sie profitieren von und verstärken eine Tendenz der Polarisierung im Machtblock und in der Bevölkerung und tragen zu unentschiedenen oder Pattsituationen in Wahlen von Staatspräsidenten und Parlamenten oder in Volksentscheiden bei. Dies legt sozialen Kräften nahe, sich am Rand der etablierten Parteiorganisation zu formieren und diese vielleicht sogar zu übernehmen (Sanders, Trump, Corbyn, Kurz) oder zu versuchen, eingespielte Konfliktlinien hinter sich zu lassen und quasi-überparteilich eine neue Partei zu formieren (Podemos, Cinque Stelle, LaREM, La France Insoumise).

Das cäsaristische Moment

Gramsci hat in den Gefängnisheften zwei Begriffe ausgearbeitet, die für die Analyse dieser Situation fruchtbar sind. Solche Pattsituationen, die die Akteure als Stillstand, als blockierte Situation wahrnehmen, begreift er als ein cäsaristisches Moment. "Man kann sagen, daß der Cäsarismus eine Situation ausdrückt, in der die sich bekämpfenden Kräfte sich in katastrophaler Weise im Gleichgewicht halten, sich also dergestalt im Gleichgewicht halten, daß die Fortsetzung des Kampfes nur mit der gegenseitigen Vernichtung enden kann."3

Zwar wünschen sich die Akteure in einer solchen Konstellation, aus dieser Blockade herauszukommen. Doch keine der verstrickten Kräfte kann dies erreichen. In einer solchen Situation tritt eine neue Kraft auf, die sich als fähig erweist, die Repräsentationsverhältnisse zwischen dem Führungspersonal in den Staatsapparaten, den Parteien, der Zivilgesellschaft und den sozialen Klassen aufzubrechen, damit auch die Allianzen, die geteilten Selbstverständlichkeiten und die Routinen aufzulösen und die sozialen Kräfte freizusetzen. Gramsci warnt allerdings vor einem Missverständnis. Das cäsaristische Moment ist nicht notwendigerweise mit einer charismatischen Person oder einem durch Gewalt gekennzeichneten Ausnahmezustand verbunden.

Tatsächlich, so lässt sich im Anschluss an diese Überlegung sagen, ist die Politik in Deutschland durch eine lange Folge cäsaristischer Politiken gekennzeichnet, denn dass die Gesellschaft und Politik blockiert sei, wird seit den 1990er Jahren ("blockierte Gesellschaft") oder sogar, mit der konservativen Behauptung der "Unregierbarkeit", seit den 1970er Jahren vertreten. Dementsprechend können die Regierungen unter Schröder und Merkel als Versuche begriffen werden, aus dem Gleichgewicht herauszuführen. Trotz erfolgreicher Angriffe auf die Lebensgrundlagen der Arbeiter_innen ist ihnen dies bislang nicht in einem die bürgerliche Klasse zufriedenstellenden Ausmaß gelungen. Nach zwölf Regierungsjahren wird Merkels Politik als eine des Stillstands und der Konfliktvermeidung gesehen (ähnlich in Österreich, in Frankreich unter Hollande oder in den USA mit der Kandidatur Hillary Clintons).

In dieser Konstellation, die mit Blockade, Lähmung, Stillstand, Politikverweigerung beschrieben wird, erweisen sich die Kräfte auf die Dauer als nicht fähig, das Kräfteverhältnis in die eine oder andere Richtung zu verändern. Es kommt deswegen zu einer Krise der Repräsentation. Gramsci begreift solche Situationen der Repräsentationskrise als Hegemoniekrise. Die traditionellen Parteien mit ihren Organisationen und dem Führungspersonal werden von ihrer Klasse oder ihren Klassenfraktionen nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt. Dieser Zwiespalt durchzieht das Feld der Parteiorganisationen, die Wahlen, die Medien und bis hinein in die zivile, polizeiliche und militärische Bürokratie oder die Kirchen. Eine solche Hegemoniekrise oder Krise des Staates in seiner Gesamtheit sei, so Gramsci, heikel und gefährlich, weil das Feld frei werde für Gewaltlösungen, die Aktivitäten obskurer Mächte und Charismatiker.

Der autoritäre Populismus kann als ein Versuch von der Seite des Bürgertums verstanden werden, das Gleichgewicht der Kräfte in einer Phase zu verändern, in der es zu einer Krise der Repräsentation kommt, in der also - anders als Gramsci dies erwartete - die bisherigen politischen Kräfte nicht in der Lage sind, eine Entscheidung in die eine oder in die andere Richtung durchzusetzen. Teile des Bürgertums sind mit der Regierungspolitik unzufrieden. Es kommt zu einer Selbstabspaltung aus dem bürgerlichen Lager. Um erfolgreich zu sein, kritisieren sie nicht nur die dominante Politik innerhalb des Machtblocks, sondern stützen sich auf die Unzufriedenheit der Subalternen gegen ›die da oben‹ und mobilisieren gegen die sog. politische Klasse - obwohl sie selbst zur bürgerlichen Klasse gehören und an der Führung der politischen Geschäfte teilnehmen (Reiche wie Blocher, Berlusconi, Trump, Le Pen, Farage, Babiš).

Stuart Hall entwickelte den Begriff des autoritären Populismus, um die historische Konjunktur der späten 1970er Jahre zu kennzeichnen, in der die Krise die Linke als auch die Rechte über einen passiven Punkt hinausgeführt habe. In einer solchen instabilen Gleichgewichtskonstellation, in der es auch zu einer Hegemoniekrise kommt, gruppierten sich die Kräfte neu: Auf einer Seite diejenigen, die für eine Vertiefung des demokratischen Lebens und die Ausweitung des popular-demokratischen Kampfes seien. Auf der anderen Seite sehe sich die herrschende Klasse vor die politische Aufgabe gestellt, die Integrität des Staates zu erhalten. Eine solche transformistische Strategie verlange, so Hall4, von der Rechten, sich zu erneuern, die Kräfte umzugruppieren und ein neues Gleichgewicht herzustellen. Die Rechte wisse, dass in einem Prozess der Restauration/Revolution das strategische Feld der Auseinandersetzung die Demokratie sei und verfolge eine Politik der populistischen Demokratie, die durch Elemente des schleichenden Autoritarismus und des passiven popularen Konsenses gekennzeichnet sei. Wesentliche Merkmale dieser populistischen Mobilisierung seien moralische Paniken, die mit einer Reihe von Themen geschürt würden. Dazu gehören Themen wie Sicherheit und Ordnung, Einwanderung, sexuelle Liberalisierung. Demgegenüber solle die Linke eine popular-demokratische Strategie verfolgen, die breiter angelegt sei als der Gegensatz Klasse-gegen-Klasse und die Kräfte vielmehr entlang der Gegensätze Machtblock/Volk, Reich/Arm, Unterdrücker/Unterdrückte, Ausbeutende/Ausgebeutete, Altes/Neues spalte und mobilisiere.

Drei Phasen der neoliberalen Reorganisationsstrategie

Die Verbreitung und der relativ große Erfolg der autoritär-populistischen Parteien rechtfertigen es, in den Vorgängen nicht nur Einzelereignisse zu sehen, sondern von einer Ära zu sprechen. Die autoritär-populistische Tendenz kann als ein übergreifendes Merkmal der Konjunktur bestimmt werden, die politische Prozesse in ihrer Gesamtheit überdeterminiert und auch die Liberalen, Konservativen oder Linken zwingt, strategische Elemente des Populismus zu verwenden.

Obwohl manchmal vertreten wird, dass mit dieser rechten, autoritär-populistischen Politik die Phase des Neoliberalismus vorbei sei 5, will ich die Ansicht vertreten, dass es sich eher um eine Fortsetzung der neoliberalen Praktiken bürgerlicher Herrschaft handelt.

Der autoritäre Populismus stellt die dritte Phase des Neoliberalismus dar. Das möchte ich ganz knapp skizzieren und stütze mich dabei auf Jamie Peck und Adam Tickell.6 Die erste Phase kann als ein destruktiver, deregulierender Roll-back-Neoliberalismus bestimmt werden. Seine Ziele werden als sog. Washington-Consensus bezeichnet: Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung, Kürzung von Staatsausgaben und Entbürokratisierung. Dies ging einher mit Bemühungen um eine - gegen ́68 gerichtete - neokonservative, geistig-moralische Wende, die durch Elemente wie traditionelle Familienorientierung, vorsichtigen Nationalismus oder Praktiken privatisierter Überwachung und sozialer Segregation gekennzeichnet waren. Es ging darum, die Gewerkschaften nicht nur zu diskreditieren, sondern auch organisatorisch zu schwächen oder gar zu zerschlagen.

In der zweiten Phase, die Peck und Tickell als roll-out oder deep neoliberalism bezeichnen, wird ein vermeintlich progressiver Neoliberalismus praktiziert (Clinton, Blair, Schröder), der durch einen Staat gekennzeichnet ist, der, gestützt auf Governance-Mechanismen erneut regulierend tätig wird, sich dabei auf eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren stützt und die Individuen aktiviert und "erzieht". Bürgergesellschaft und Partizipation werden zu strategischen Elementen herrschaftlicher Politik, die sich von ihren Zielen nicht abbringen lässt, entnormalisierenden Minderheiten aber einen Raum gewährt, der Differenz, Pluralisierung und Konsumismus fördert, die Bildung von Antagonismen aber vermeiden hilft. Die Vielfachkrise, die eine komplexe Einheit von vielen autonomen Krisendynamiken wie Flucht- und Migrationsprozessen, Klimawandel oder Demokratieerosion bildet, verknüpfte und verschärfte sich 2007/08 mit einer großen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise; sie markiert das Scheitern der zweiten Phase und den Übergang zu einer dritten Phase des Neoliberalismus, nicht jedoch sein Ende als solches. Die moralische Überlegenheit und Überzeugungskraft des neoliberal reorganisierten Kapitalismus wurde deutlich geschwächt. Selbst überzeugte Vertreter des Bürgertums beobachteten eine Legitimitätskrise und bekamen grundlegende Zweifel an der Fortexistenz des Kapitalismus.7

Nach einer globalen Welle von Protesten hat sich das Bürgertum reorganisiert. Doch anders als zu erwarten gewesen wäre, ist es nicht zu Bemühungen um eine neue Form von Hegemonie gekommen, sondern zu einer Rechtsverschiebung, in der der Zwang, das Regieren mit Dekreten, die Schwächung und der Umbau des Rechtsstaats sowohl auf der Gesetzes- als auch auf der justiziellen Ebene, die Erneuerung und der Ausbau der Repression eine erhebliche Rolle spielen, aber eben auch nationalkonservative, rassistische und faschistische Orientierungen. Mit dem autoritären Populismus wird ein neues Verhältnis im Machtblock selbst und im Verhältnis zu den Subalternen hergestellt, das sich als autoritär-plebiszitäre Führung ohne Konzessionen fassen lässt. Die Unzufriedenheit und Enttäuschungen bei den Subalternen, die aufgrund der von den Herrschenden in der zweiten Phase verfolgten Politik entstanden ist, wird eben von diesen genutzt und geschürt. Es wird ermutigt, sie in Ressentiments, rassistische Praktiken, Kälte und Entsolidarisierung zu übersetzen. Kräfte des Machtblocks stützen sich auf sie als Instrument, um eigene Positionen im Machtblock durchzusetzen.

Populismus und Demokratie

Der autoritäre Populismus stellt in dieser Phase die Bemühung dar, ein Bündnis von oben her mit Gruppen des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse herzustellen, ohne dass die bürgerliche Klasse Zugeständnisse machen müsste. Er funktioniert wie eine Art Kurzschluss zwischen Kräften des Bürgertums und den Subalternen. Ein wesentliches Element ist die Auseinandersetzung um Demokratie. Der Unterscheidung von Stuart Hall folgend, lässt sich sagen, dass populare Demokratie und Populismus verschiedene Spaltungslinien ziehen. Erstere konstruiert einen Antagonismus zwischen Volk und Machtblock, Ausgebeuteten und Ausbeutern, Arm und Reich, Frieden und Krieg, Nachhaltigkeit und Zerstörung, Differenz und Normalismus. In diesem Fall kommt es zu fortschrittlichen Prozessen der Meinungs- und Willensbildung und einer geteilten Weltsicht auf einem hohen und rationalen Wissensniveau, die auf Veränderung der Verhältnisse derart zielen, dass Probleme gelöst werden. Der autoritäre Populismus stellt hingegen eine plebiszitäre Strategie dar, die entlang rassistischer, nationalistischer, religiöser, sexistischer oder naturausbeuterischer Linien spaltet und mobilisiert, den bizarren Alltagsverstand reproduziert und die Subjekte neurotisiert.

Populismus ist Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Bemühungen geworden. Einem verbreiteten Verständnis nach, das ihn eher negativ bewertet, unterscheidet er sich von Pluralismus und Demokratie. Jan-Werner Müller vertritt entschieden die These, dass Populismus an sich nicht nur nicht demokratisch, sondern immer antidemokratisch sei.8 Auch wenn mit dieser Behauptung gerade die Frage des Streits um die Demokratie übergangen wird, sind die drei Merkmale, die für Müller den Populismus ausmachen, für ein genaueres Verständnis hilfreich. Ein erstes Merkmal des Populismus ist die Konstruktion des Gegensatzes von Oben und Unten, also einer anti-elitären Haltung, die sich gegen das Establishment, gegen die politische Klasse, gegen die Medien richtet. Sie alle verstoßen vermeintlich gegen den Willen und die Interessen des Volkes oder verraten es. In ihrem Grundsatzprogramm vom Mai 2016 skizziert die AfD eine Art Herrschaftstheorie, die auf dem in der faschistischen Tradition verankerten Ausdruck der "politischen Klasse" aufbaut.9 Demnach erweise sich Volkssouveränität, die das Fundament des Staates sei, in Deutschland als Fiktion: Heimlicher Souverän sei eine kleine, machtvolle Klasse von Berufspolitikern, die nicht mehr ans Volk, sondern nur an sich denke. Sie habe die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten.

Die Populisten klagen darüber, dass ihre Ansichten von den Medien totgeschwiegen oder mit der Keule der politischen Korrektheit Denkverbote über viele Themen verhängt würden. Das erlaubt ihnen, die heroische Geste des Tabubruchs vorzugaukeln, mit der sie glauben machen wollen, sie hätten "Mut zur Wahrheit" und würden die von den Politikern verschwiegenen Probleme der Zeit ansprechen. So können sie einen permanenten Befreiungskampf inszenieren.

Zweitens vertritt der Populismus ein anti-pluralistisches Verständnis demokratischer Prozesse: andere Meinungen werden als Abweichungen vom wahren Willen des Volkes betrachtet. Populisten nehmen in Anspruch, das wahre Volk zu kennen und mit ihm verbunden zu sein, seine Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, also den Willen des Volkes direkt und unmittelbar zu kennen, zu verkörpern und mutig auszusprechen. Es handelt sich also um Identität der Sprecher mit denen, in deren Namen gesprochen wird. Dies geschieht, wenn möglich, durch permanente Mobilisierung. Als ein Mittel dazu dient die direkte Demokratie, die von den autoritären Populisten nicht als eine verfassungsmäßige Form der Entscheidung über Gesetzesvorschläge verstanden, sondern als unmittelbare Willensbekundung des Volkes, national und ethnisch verstanden, mystifiziert wird. Die Populisten verfolgen eine Strategie der undemokratischen Subordination der Vielen unter demagogische Führungsfiguren; horizontale und sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausdehnende Diskussionen und eine offene Willensbildung werden verhindert. Zu ihren Praktiken gehört, dass sie die sozialen Gruppen und Individuen an einen Traditionalismus und bizarren Alltagsverstand binden. Dies wird durch die inkohärente Einheit der Diskurse des autoritären Populismus bekräftigt, anders könnte er nicht funktionieren. Der Populismus blockiert den Zugang zu politischer Bildung und wissenschaftlicher Einsicht und Rationalität: Verhältnisse, die zu Krieg, Völkermord, Folter, Verfolgung führen, werden dethematisiert, wenn von den Verdiensten der Wehrmacht, wenn davon gesprochen wird, das "Deutschland unserer Väter und Mütter" wieder zurück erhalten zu wollen. Behauptet wird, dass eine Hegemonie der Linken Redeverbote und Tabus schaffe - es sich also nicht um aufgeklärte Urteilskraft handele. Die Populisten sind kein passives Medium, durch das hindurch das Volk spricht; sie organisieren eine gesellschaftliche Tendenz, indem sie aktiv sind und Zeit investieren, Geld und Unterstützung in der Zivilgesellschaft und Wirtschaft mobilisieren sowie die öffentliche Meinungsbildung durch Medien, Werbung, Vorträge zu beeinflussen versuchen.10 Doch sie streiten ab, nur eine unter mehreren gesellschaftlichen Strömungen zu sein, und sie leugnen ihre politische Aktivität, indem sie sie in einen Kampf um Freiheit verdrehen und sich, die Verfolgenden, als Verfolgte stilisieren. Linke und kritische Akteure werden angesichts dieser Konstellation in eine schwierige und scheinbar widersprüchliche Situation gebracht. Denn sie stellen notwendigerweise den Alltagsverstand und die normalisierte Lebensweise in Frage und argumentieren für deren Fortentwicklung auf den höchsten historischen Stand. Das kann dann als elitär gelten, gewonnene Einsichten können als moralisierende politische Korrektheit und repressive Tabuisierung diskreditiert werden. Maßstäbe der Rationalität werden außer Kraft gesetzt, der Kampf um Wahrheit und Objektivität wird unterlaufen, indem autoritäre und apodiktische Wahrheit beansprucht oder alles auf Meinung reduziert wird oder Individuen auf Emotionen reduziert werden.

Das dritte Merkmal: Wenn ihnen der Kurzschluss zwischen Oben und Unten, zwischen populistischen Führern und Volk gelingt, wird mit dem von den populistischen Sprechern beschworenen Volk ein einheitliches "Wir" mit eindeutiger Zugehörigkeit erst begründet.

Müller verkennt in seinen Überlegungen, dass der autoritäre Populismus - anders als der Rechtsradikalismus - sich der Demokratie nicht entgegenstellt, sondern sie sich aneignet und im Namen einer wirklichen Demokratie argumentiert.11 Seine Definition unterstellt eine Pluralität und Vielzahl des Volkes, stellt sich aber nicht der Schwierigkeit des Volkssouveränitätsbegriffs, der in der Tat die Einheit eines Willens unterstellt, der die Verfassung trägt, die den unterschiedlichen Interessen ihren Raum gibt. Dieses Grundlagenproblem der repräsentativen Demokratie ist nicht auflösbar und kann deswegen von den autoritären Populisten ausgebeutet werden. Sie versprechen es zu lösen, indem sie auf ein vor-politisches Volk hinweisen und suggerieren, sie könnten den einheitlichen Willen herstellen. Es soll genau dieser Wille sein, der der Verfassung zugrunde liegt und der, so der Vorwurf, von denen verfälscht wird, die die verfassungsmäßigen Institutionen kontrollieren und sich dann partikularistisch gegen die Interessen des Volkes wenden. Dass das politische Personal eben keine eigene ›politische Klasse‹ bildet, sondern Ausdruck und organisierendes Moment der verschiedenen und gegensätzlichen politisch-sozialen Lager ist, wird damit dethematisiert. Der autoritäre Populismus ist demnach eine logische Konsequenz des Grundlagenbegriffs der Demokratie, nämlich der Volkssouveränität. Das gilt auch für die populare Demokratie. Entgegen extremismustheoretischen Ansätzen muss deswegen gesagt werden, dass beide Tendenzen aus der gesellschaftlichen Normalität, Ordnung oder ›Mitte‹ hervorgehen, aber die gesellschaftliche Entwicklung in verschiedene Richtungen, nach links-vorwärts oder rechts-rückwärts, also lösungs- oder Status-quo-orientiert, lenken wollen.

Der Kampf um die Subalternen

Rechte Einstellungen, entsprechende ausgearbeitete intellektuelle Positionen und Praktiken reproduzieren sich in der bürgerlichen Gesellschaft ständig von neuem. Dazu gehören Nationalismus, Autoritarismus, Populismus, Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus. Es finden sich eine Vielzahl von Praktiken und Organisationsformen für rechte Orientierungen, die einen wesentlichen Bestandteil des staatlichen Lebens ausmachen. Einzelne Gruppen in Polizeien, Militär oder Justiz, Verwaltung oder Parlamenten gehören dazu. Auf der Ebene der Zivilgesellschaft handelt es sich um Parteien, Bewegungsakteure, Vereine, Verlage, Bücher und Zeitschriften, Intellektuelle und ihre Treffen, intellektuelle Zentren (mit quasi-wissenschaftlichem Anspruch oder religiösem Charakter), Musikgruppen, Sportclubs, Unternehmen, die identitätsstiftende Produkte anbieten (Militaria, Kleidung) oder Werbung. All das gibt es kontinuierlich in sich stetig verändernder Form. In den vergangenen Jahrzehnten, so kann für die Bundesrepublik gesagt werden, ist es dem Führungspersonal der Rechten nicht gelungen, durch ihre Aktivitäten diese Elemente zu einer Einheit zusammenzubringen. Die Rechte war also dadurch schwach, dass einige ihrer Teile von den etablierten Parteien absorbiert werden konnten, andere Teile sanktioniert wurden oder die Schwelle offizieller Politik nicht überschreiten konnten, weil sie als zu radikal galten. Dies wirkte als Spaltungen in die Rechte zurück. Mit dem autoritären Populismus hat sich dies verändert. War der Populismus lange Zeit ein untergeordnetes Moment des rechten Syndroms, so hat hier eine Verschiebung stattgefunden. Die populistischen Momente erweisen sich als geeignet, die anderen Elemente der rechten Ideologie zu reartikulieren. Dies erlaubte es der Rechten, sich zu modernisieren.12 Rechte Positionen werden in diesem Zusammenhang akzeptabel, auf Ziele der nationalen und völkischen Revolution wird nicht verzichtet, Antisemitismus und Rassismus sind ebenfalls Momente der Formation. Trotz aller Distanzierungen und Mahnungen werden sie im Namen der Meinungsfreiheit als Momente im Meinungsspektrum des autoritären Populismus bewahrt. Der autoritäre Populismus erlaubt, die Schwelle zum Legalismus und zur offiziellen Politik zu überschreiten und die verschiedenen Aktivitäten der Nationalkonservativen und Rechten zusammenzuführen. Das ist neu, es zeigt, wie flexibel die Rechte ist und lässt sie im Kontrast stärker erscheinen als sie ist.

Warum also gelingt der autoritär-populistische Kurzschluss? Warum wiedererkennen sich die Subalternen - wie kurzzeitig auch immer - in dieser Anrufung und lassen sich in einer Weise subjektivieren, die sie auf Autorität ausrichtet, einer imaginären national-völkischen Gemeinschaft unterwirft, in der sie sich den Reichen subordinieren, die sie individualisiert und emotional gegeneinander richtet? Die eine Antwort besteht darin, dass es im Bürgertum eine national-konservative Abspaltung nach rechts gibt, die aber Teil des Machtblocks bleibt und auf seine Agenda Einfluss nehmen kann (Euro, Grenzregime). Der Populismus ist eine Herrschaftstechnik und kommt von oben.

Die andere Antwort ist, dass er passive Elemente in den subalternen Klassen findet. Zunächst im Kleinbürgertum und dessen konservativer Strömung.13 Dieser Hinweis von Karin Priester ist wichtig, weil die Bereitschaft, rechtspopulistische oder -radikale Parteien zu wählen, häufig durch Prozesse sozialer Desintegration und Anomie erklärt wird. In diesem Fall wird angenommen, dass es sich um Individuen und soziale Gruppen eher an der Peripherie der Gesellschaft handelt, also Modernisierungsverlierer oder ›Abgehängte‹, bei denen mehrere Formen von sozialer Ungleichheit und Exklusion kumulieren: Arbeitslosigkeit, unsichere und schlecht bezahlte Jobs, geringe schulische und berufliche Bildung, Rückzug und Verzicht auf demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten und damit Entstehung einer Repräsentationslücke zwischen Volk und politischer Elite. Es gibt jedoch zahlreiche empirische Hinweise, denen zufolge die AfD vor allem von Mitgliedern des Kleinbürgertums und Bürgertums gewählt wird.

Allerdings sollte der autoritäre Populismus auch nicht als ein Klassenkampf der gesellschaftlichen Mitte erklärt werden (wie es Stephan Lessenich vorgeschlagen hat, der dann auch die ArbeiterInnen zur Mitte zählt). In diesem Fall wird die Dynamik zwischen den Klassen und die Macht- und Herrschaftsbeziehungen insgesamt nicht angesprochen, die für die Periode seit den 1970er Jahren einer enormen neoliberalen Reorganisation unterworfen waren. Dadurch wurde in den Unternehmen und Betrieben die Willensbildungsprozesse der ArbeiterInnen blockiert. Es lässt sich vielleicht so sagen: Gramsci vertrat die These, dass die Hegemonie von der Fabrik ausgeht, also von der Organisation des Produktionsapparats, vom Vertrauen in die Unternehmen, die relative Stabilität der wirtschaftlichen Prozesse und der alltäglichen Gewohnheiten. Dörre14 konnte schon für die 1990er Jahre angesichts der Umstellung der Betriebe auf eine marktorientierte Rationalisierung und Koordination die Ansicht vertreten, dass diese Gramscianische Formel nicht mehr gilt. Die bürgerliche Klasse organisiert keine Hegemonie mehr aus den Betrieben heraus. Die bürgerliche Klasse regiert mit dem "stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse". Dies besagt, dass die Investoren und die Spitzen des Managements mit Unsicherheit operieren und die Belegschaften damit konfrontieren: häufiger Eigentümerwechsel, Veränderungen im Management und auf kurze Frist angelegte Gewinnstrategien, Standortverlagerung, Outsourcing, interne Umstrukturierung, Beseitigung von Hierarchieebenen, Arbeitsplatzabbau, aufgrund von CAM-Systemen nicht mehr kontrollierbare Formen der Leistungsabgabe, vielfach nicht-existenzsichernde Löhne, Teilzeit, kurzfristige Arbeitsverhältnisse, Überstunden, Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Soloselbständigkeit. Die Gewerkschaften werden drastisch geschwächt durch Ausstieg aus der Tarifbindung, durch Outsourcing, durch ein Management, das nicht mehr gesprächsbereit und -fähig ist. Diese Strategien führen zu einer deutlich schlechteren Lebenslage und unsicherer Lebensperspektive. Dies wurde durch die von der Sozialdemokratie voran getriebenen neoliberalen Eingriffe in den Sozialstaat noch verstärkt, die systematisch entsolidarisieren und Wege in die Armut für viele gebahnt haben. Damit hat sich die Sozialdemokratie diskreditiert, Teile der Gewerkschaftsbewegung wurden hineingezogen. Für die Lohnabhängigen gibt es kaum organische Repräsentanten, die vor Ort ihre Willensbildung und ihren Widerstand organisieren. So schwanken die vielfach individualisierten, isolierten, bis zum äußersten körperlich ausgelaugten ArbeiterInnen zwischen dem Eindruck, das alles sei Ergebnis eines abstrakten und unerreichbar-alternativlosen Systems oder der Fehler von Politikern und Gewerkschaftsvertretern. In diesen Prozessen werden sie von ihrer eigenen Rationalität und ihren artikulierten Interessen getrennt. Es bleiben abgespaltene, nicht-repräsentierte, irrationalisierte Gefühle zurück: Enttäuschung, Verzweiflung, Wut, Hass - psychische Dynamiken setzen sich frei, die rational nicht ohne weiteres einzufangen sind, aber autoritär genutzt und geschürt werden können. Die Beobachtungen zur Repräsentationskrise, zum Vakuum, zur Hegemoniekrise sind also plausibel. Sie bedeuten, dass die bürgerliche Klasse kein hegemoniales Verhältnis mehr zu den Lohnabhängigen aufrechterhält, sondern dass diese Kluft kurz geschlossen wird mit dem autoritären Populismus und den von diesem versprochenen Pseudolösungen und Realitätsverleugnungen. In dieser Konstellation werden nationalistische und konservative bürgerliche Parteien unterstützt, weil die Subalternen glauben, auf diese Weise die Politik des Machtblocks verändern zu können. Denn die autoritären Populisten gehören zu den Herrschenden und bereiten eine neue Welle neoliberal-bürgerlicher Unterwerfungspraktiken vor. Während sie also Teile des Machtblocks mit den Mitteln einer Mobilisierung von unten unter Druck setzen, erscheinen sie nach unten jedoch so, als wollten sie die Herrschenden angreifen, hätten Verständnis für die Subalternen, würden deren Willen artikulieren. Das ist immer noch eine Fehleinschätzung, die auf der Annahme beruht, der Neoliberalismus sei ein Irrglaube der Eliten, der New Deal oder der nationale Sozialstaat ließe sich wiederherstellen. Auch ein Teil der Linken träumt von der Wiedereinbettung der entfesselten Ökonomie. Doch offensichtlich bedarf es heute größerer Anstrengung, die fortdauernden und sich verstärkenden gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen, die der Kapitalismus mit seinem Austritt aus dem Spätkapitalismus und dem Eintritt in die Phase der Globalisierung erzeugt.

Anmerkungen

1) Thomas Meyer 2017: "Editorial", in: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, H. 5.

2) Horst Kahrs 2017: Die Landtagswahlen 2014-2017: Bewegung und Stabilität in den regionalen Parteisystemen und das Wahlverhalten von Arbeitern, Arbeitspapier 2, Juli 2017, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin.

3) Antonio Gramsci 1996: Gefängnishefte: 1593.

4) Stuart Hall 2014: "Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus", in: ders.: Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5, Hamburg: 104.

5) Vgl. Cornelia Koppetsch 2017: "Rechtspopulismus, Etablierte und Außenseiter. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung", in: Leviathan, Jahrgang 45, Sonderband 32.

6) Jamie Peck / Adam Tickell 2002: "Neoliberalizing Space", in: Antipode.

7) Exemplarisch dafür: Frank Schirrmacher 2011: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat", in: Die Presse, 17.08.2011, diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/ [Zugriff am 8.1.2018].

8) Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin: 18.

9) Alex Demirovic 1997: Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie, Münster, 131 ff.

10) Vgl.: Ernesto Laclau 2005: On Populist Reason, London/New York: 72f.

11) Vgl. auch: Klaus Dörre 2018: "Demokratische Klassenpolitik - eine Antwort auf den Rechtspopulismus", in: Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges / Bettina Lösch (Hg.): Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, Weinheim (i. E.).

12) Gilles Ivaldi 2017: "Europa in der Konfrontation mit populistischen rechtsradikalen Parteien", in: Gudrun Hentges / Kristina Nottbohm / Hans-Wolfgang Platzer (Hg.): Europäische Identität in der Krise? Europäische Identitätsforschung und Rechtspopulismusforschung im Dialog, Wiesbaden.

13) Karin Priester 2007: Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt/New York: 29.

14) Klaus Dörre 2002: Kampf um Beteiligung. Arbeit, Partizipation und industrielle Beziehungen im flexiblen Kapitalismus, Wiesbaden: 382.

Alex Demirovic ist apl. Prof. an der Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied im Beirat des BdWi. Der vorliegende Beitrag ist die bearbeitete und stark gekürzte Fassung eines Artikels, der erstmalig in der PROKLA 190 (März 2018) erschienen ist; dort findet sich auch ein ausführliches Literaturverzeichnis.

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