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Klaus Holzkamp

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Prävention und Prophylaxe

15.03.2006: Sozialmedizinische Leitideen in BRD und DDR

  
 

Forum Wissenschaft 1/2006; Titelbild: Hermine Oberück

Prävention und Prophylaxe entstanden als Grundkonzepte gesundheitspolitischen Handelns im 19. Jahrhundert. Sabine Schleiermacher zeigt die unterschiedlichen Dimensionen, die in ihnen angelegt sind, und wie diese Dimensionen sich in den beiden deutschen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg umsetzten.

Seit der Weimarer Republik war Sozialhygiene, mit ihren Elementen Prävention und Prophylaxe, Leitwissenschaft des öffentlichen Gesundheitswesens. Für die Konzeptbildung war die von dem Sozialhygieniker Alfred Grotjahn (1869-1931) formulierte Definition von zentraler Bedeutung: „1. Die soziale Hygiene als deskriptive Wissenschaft ist die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen unterlieget. Die soziale Hygiene als normative Wissenschaft ist die Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken.“1

Da demnach soziale Verhältnisse die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten beeinflussen, sollte der Entstehung von Krankheit, als unspezifischem Armutsrisiko, durch sozialpolitische sowie pädagogische wie auch psychologische Interventionen entgegengewirkt werden. Gesundheitsfürsorge und Maßnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten, Prävention und Prophylaxe, waren deren Konsequenz. Sozialhygiene bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Reform und Anpassung, zwischen sozialem Engagement zur Veränderung der Lebensbedingungen und der Einpassung des Individuums in die gesellschaftlichen Normen einer Industrie- und Leistungsgesellschaft. Bis zum Ende der Weimarer Republik, insbesondere während der Weltwirtschaftskrise, war innerhalb der Sozialhygiene auch ein biologistischer und bevölkerungspolitischer Ansatz mit den Elementen von Auslese und Ausmerze unter Weiterentwicklung der von Grotjahn formulierten Vorschläge zu Geburtenregelung, Elternschaftsversicherung, Familienlastenausgleich und Sterilisierung aus eugenischen Gründen formuliert worden. Die Herstellung von „Volksgesundheit“ war zunehmend zum Schwerpunkt gesundheitspolitischen Handelns geworden. Für zahlreiche Gesundheitspolitiker vollzog sich hier der bruchlose Übergang von der Sozialhygiene zur Rassenhygiene. An diese Vorgaben knüpften sie während des Nationalsozialismus an. Medizinische Forschung und Lehre sowie gesundheitspolitisches Handeln wurden rassenhygienischer Zielsetzung untergeordnet. Sozialhygienische Konzepte, die eine Gesundheitsfürsorge in allgemein und unabhängig vom Einkommen zugänglichen Einrichtungen mit sowohl prophylaktischer wie therapeutischer Zielsetzung forderten, waren von linkspolitisch ausgerichteten Parteien, Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung nahe stehenden Ärzten propagiert und in der Weimarer Republik zum Teil realisiert worden. Dies traf jedoch auf erheblichen Widerstand bei eher konservativ und bürgerlich ausgerichteten Gruppierungen und Standesorganisationen. 1933 wurde derartigen Reformen ein Ende gemacht. Eine vergleichbare gesundheitspolitische Polarisierung wiederholte sich nach 1945, diesmal jedoch zwischen Ost- und Westdeutschland. Trotz vergleichbarer Ressourcenknappheit und bei gleicher Problemlage wurden, begründet durch die unterschiedliche politische Ausrichtung, in Ost- und Westdeutschland jeweils unter Verweis auf Traditionslinien aus der Weimarer Republik, die beiden werdenden Staaten ja gemein waren, grundverschiedene Konzepte favorisiert. Vorrangige Aufgabe der alliierten Behörden und ihrer Mitarbeiter in den deutschen Gesundheitsverwaltungen in Ost und West war die Unterbindung der Verbreitung von Infektionskrankheiten und Seuchen, wie z.B. Tuberkulose, Paratyphus, Typhus, Ruhr und Geschlechtskrankheiten, sowie die Verhinderung des Anstiegs der Säuglingssterblichkeit in den ersten Nachkriegsjahren. Zu den Zielen alliierter Gesundheitspolitik gehörte die Schaffung von medizinischen, organisatorischen, institutionellen und juristischen Rahmenbedingungen, durch die eine Ausbreitung von Krankheiten und somit eine gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung und nicht zuletzt der Besatzungsangehörigen selbst verhindert werden sollte. Erst 1948 war z.B. in der amerikanischen Zone die medizinische Versorgung so weit sichergestellt, dass die amerikanischen Behörden ihr Personal für den öffentlichen Gesundheitsdienst reduzieren konnten.

In beiden deutschen Staaten wurden die Publikationen Grotjahns rezipiert. Entsprechend den verschiedenen politischen Rahmenbedingungen in Ost- und Westdeutschland (Sozialismus/soziale Marktwirtschaft) wurden aus seinen Arbeiten jedoch unterschiedliche Aspekte verstärkt aufgenommen. Von den jeweiligen Besatzungsbehörden unterstützt, entwickelten sich so auch unterschiedliche Konzepte medizinischer Versorgung, die u.a. die Stellung des Arztes im Gesundheitswesen, die soziale Sicherung und die ambulante Versorgung betrafen. Einer der Verantwortung des Individuums überlassenen Sorge um die persönliche Gesundheit (West) stand eine Übernahme dieser Verantwortung durch den Staat (Ost) gegenüber. Während die Gesundheitspolitiker in Westdeutschland die föderale Struktur, die dort als Reaktion auf den Zentralismus während der Zeit des Nationalsozialismus eingeführt wurde, mit Argumenten kritisierten, die an Forderungen aus der Weimarer Republik anknüpften, wurde im Osten mit eben diesen Argumenten eine Zentralisierung im Gesundheitswesen vorgenommen, die dieser Kritik genügte.

Westen: Therapie vor Prävention

In der medizinischen Öffentlichkeit wurden seit den Ärztetagen in Hannover 1949 und München 1951, auf denen „Sozialhygiene als Gegenwartsproblem“ jeweils als Generalthema verhandelt worden war, sozialhygienische Ideen breit diskutiert, wobei die Bedeutung der präventiven Medizin hervorgehoben wurde. Die öffentliche Auseinandersetzung ging einher mit der schon 1948 begonnenen Diskussion um den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gesundheitswesens im „Gesundheitsausschuß des Länderrats“ der britisch besetzten Länder sowie mit der Diskussion über die unzulängliche Berücksichtigung der Fragen von Gesundheit im Grundgesetz der Bundesrepublik 1949 und schließlich der Betonung der Gesundheit als Menschenrecht in der „Magna Charta“ der WHO 1946.

So kritisierte der Präsident der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, Franz Klose, im Jahr 1949: „Man hätte demnach mit Fug und Recht erwarten dürfen, daß in dem Grundgesetz das Recht aller Deutschen auf den ‚Schutz der Gesundheit‘ in den Grundrechten verankert worden wäre. Davon ist nichts zu finden, es sei denn, daß man das in Art. 2, Ziff. 2 verankerte ‚Recht auf Leben und Unversehrtheit des Körpers‘ dahin auslegen darf, daß damit auch das Recht auf Gesundheit sichergestellt sein soll. Uns scheint aber das Recht auf ‚Schutz der Gesundheit‘ ebenso ein besonderes Grundrecht jeden Staatsbürgers zu sein wie der ‚Schutz von Ehe und Familie‘, […] die ‚Unverletzlichkeit der Wohnung‘ und das ‚Beichtgeheimnis‘, die neben anderen im Gesetz unter den Grundrechten aufgeführt sind.“2

In Westdeutschland wollten Gesundheitspolitiker, die sich selbst als Schüler Grotjahns verstanden und die zum Teil im Gesundheitswesen des NS-Staates tätig gewesen waren, a) die Ärzteschaft und Krankenkassen stärken, b) eine Gesundheitspolitik etablieren, die biologistische/eugenische Züge trug, und gleichzeitig c) an Grotjahns Ideen anknüpfen. Es wurde ein Gesundheitswesen etabliert, dessen strukturelle Grundlagen in der Weimarer Republik geschaffen und im Nationalsozialismus gefestigt worden waren und das der Ärzteschaft eine besonders starke Stellung zubilligte. Die Therapie stand an erster Stelle medizinischer Versorgung der Bevölkerung. Fasst man die in den Zeitschriften Ärztliche Mitteilungen und Öffentlicher Gesundheitsdienst geführte fachwissenschaftliche Diskussion zusammen, so ist folgendes zu beobachten:

  • Therapie des bereits erkrankten Patienten war Hauptziel der medizinischen Versorgung.
  • Die Selbstverantwortung des Bürgers für seine Gesundheit mit dem Schlagwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ stand im Vordergrund. Ein Recht auf Gesundheit wurde im Grundgesetz nicht verankert.
  • Die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes wurden auch nach Auffassung einflussreicher Gesundheitspolitiker nicht durchgeführt, da die erforderlichen Mittel nicht bereitgestellt wurden.
  • Die in der Weimarer Republik entwickelte und im Nationalsozialismus gefestigte Stellung und Organisationsform der Ärzteschaft und der Krankenkassen wurden übernommen.
  • Prävention wurde zunehmend dem öffentlichen Gesundheitsdienst entzogen und in die Obhut von Ärzten und Krankenkassen gelegt.
  • Soziobiologische Konzepte,3 die an die Gesundheitspolitik der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus anknüpften, fanden in der Praxis der Gesundheitsfürsorge ihren Niederschlag.
  • Gesundheitspolitik wurde nicht als eigenständiges Handlungsfeld verstanden; sie war lediglich Teil der allgemeinen Sozialpolitik.

Otto Buurman, ab 1947 Leiter des Ministeriums für Arbeit, Aufbau und Gesundheit in Niedersachsen und von 1954 bis 1956 Abteilungsleiter Gesundheitswesen im Bundesministerium des Innern, fasste diesen Sachverhalt 1953 so zusammen: „Schließlich glauben wir auch, daß die landläufige Auffassung, Gesundheitspolitik sei ein Bestandteil der Sozialpolitik, mit dafür verantwortlich gemacht werden muß, daß die präventive Medizin in Deutschland nicht zum Zuge gekommen ist, daß aus diesem Grunde z.B. Fragen des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitssicherung einen viel zu geringen Einfluß auf die Sozialpolitik ausgeübt haben und daß der Einfluß der Sozialpolitik auf das gesellschaftliche Zusammenleben viel nachhaltiger und wirkungsvoller gewesen wäre, wenn man die Bedeutung der präventiven Medizin und damit gesundheitspolitische Forderungen klarer erkannt hätte.“4 Dennoch wurde eine „Sozialisierung des Heilwesens“ entsprechend den Vorbildern aus der Weimarer Republik, wie sie in der DDR installiert werden sollte, abgelehnt. Erst in den 60er Jahren kristallisierten sich wieder die klassischen Bezugsgruppen für die Gesundheitsvorsorge – Kinder, Jugend und Frauen – heraus.

Prävention und Prophylaxe in der DDR

In Ostdeutschland wurden andere Linien der Tradition aufgenommen und an die von Grotjahn geforderte „Sozialisierung des Heilwesens“ sowie an die bereits 1912 in der „Sozialen Pathologie“ formulierte Erkenntnis, dass Krankheit durch soziale Einflüsse und Umwelt entstehe und Rückwirkungen auf die Entwicklung der Gesellschaft habe, angeknüpft.

Das Konzept von Diagnose und Therapie war bereits 1945, in Zusammenhang mit den ersten Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) zur Bekämpfung der Tuberkulose, um das der Prophylaxe erweitert worden. Im Gegensatz zum Westen wurde hier Krankheit nicht ausschließlich als in die Verantwortung des Individuums, sondern als in die des Staates gestelltes Problem verstanden. Man bezog sich also auch in Ostdeutschland erklärtermaßen auf die Traditionen der Weimarer Republik, nur wurde hier der Schwerpunkt auf die Positionen der Arbeiterbewegung gelegt. Die wichtigsten Unterschiede zum Westen waren:

  • Die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung wurde als Aufgabe staatlichen Handelns definiert5 und fand in der Verfassung der DDR ihren Niederschlag.
  • Der Einzelne hatte ein Recht auf Gesundheit. Hier wurde aus der Verfassung der Weimarer Republik Art. 161 vom 11.8.1919 übernommen; so hieß es in der Verfassung der DDR: „Der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung, dem Schutze der Mutterschaft und der Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und sonstigen Wechselfällen des Lebens dient ein einheitliches, umfassendes Sozialversicherungswesen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten.“6
  • Der unentgeltliche Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Entkommerzialisierung des Gesundheitswesens sollten realisiert werden.
  • Ziel gesundheitspolitischen Handelns bei gleichzeitig bestehender Verpflichtung des Einzelnen war „vorbeugende Gesundheitsfürsorge“ zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Individuums und zur „Steigerung der Produktion“ und des „Lebensstandards des Volkes“.
  • Die Therapie war diesem Ziel nachgeordnet. „Erziehung zur Gesundheit“ wurde verbunden mit „hygienischer Volksbildung“. Die Vermittlung „hygienischen Wissens“ durch Medien, das Deutsche Hygiene-Museum und medizinisches Personal wurde als Voraussetzung für den Aufbau eines „demokratischen Gesundheitswesens“ verstanden.
  • Die gesundheitliche Versorgung sollte durch die Errichtung von Polikliniken und Ambulatorien gesichert werden.
  • Es sollte an den Funktionsbereichen des niedergelassenen Arztes festgehalten werden.
  • Das Betriebsgesundheitswesen wurde zum zentralen Bestandteil der medizinischen Versorgung (SMAD-Befehl 234 vom Okt. 1947).7
  • Ein Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau wurde erlassen (1950).

Vergleich BRD und DDR

Die Umsetzung präventivmedizinischer Konzepte war abhängig von politischen Vorentscheidungen. Am Beispiel der Fürsorge für Frauen und Kinder wird dies deutlich. In der SBZ und späteren DDR hatte die Neudefinition der Rolle der Frau im Staat Rückwirkungen auf die Zielsetzungen der staatlichen Gesundheitspolitik. In Westdeutschland hingegen blieben das überkommene Rollenmodell der Frau als zentraler Bestandteil der häuslichen Familie und die ihnen eher nachgeordnet zukommende Aufmerksamkeit unverändert.

Eines der klassischen Handlungsfelder der Sozialhygiene war der Schutz und die Fürsorge für Frauen und Kinder. Auf den Zusammenhang von der „sozialen Stellung der Frau zu der Art und Häufigkeit ihrer Krankheiten und ihrer Sterblichkeit“ war bereits 1913 in dem von Mosse und Tugendreich herausgegebenen Buch „Krankheit und soziale Lage“ hingewiesen worden: „Einmal handelt es sich darum, festzustellen, welche charakteristischen Unterschiede zwischen diesen Beziehungen sich bei der Frau im Vergleich mit den Verhältnissen beim Mann ergeben, und wie diese Unterschiede durch die soziale Stellung modifiziert werden. In zweiter Linie handelt es sich darum, die Wirkungen sozialer Unterschiede allein zu vergleichen.“ 8

Nicht nur der soziale Aspekt von Gesundheit, sondern auch dessen geschlechtsspezifische Bedeutung war im Kaiserreich in den Blick genommen worden. In der SBZ/DDR wurde der Gesundheitsschutz von Frauen und Kindern staatlich und flächendeckend organisiert. Erklärtes politisches Ziel war es, Frauen den Weg in die Erwerbstätigkeit zu öffnen und hierfür die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen (z.B. die Versorgung der Kinder). Von 1945 bis 1949 gab es hierfür noch kein einheitliches Gesetz. Erste Schritte in diese Richtung waren jedoch mit einzelnen Befehlen und Verordnungen in eine solche Richtung, wie mit den von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland erlassenen Befehlen Nr. 28 vom 28. Januar 1947 (§ 36 über die soziale Absicherung der Frau bei Schwangerschaft) und Nr. 39 vom 19. Februar 1947 („Über das Verbot der Beschäftigung von Frauen mit schwerer und für die Gesundheit schädlicher Arbeit. Zur Erhaltung der Gesundheit und zur Vermeidung der Beschäftigung der Frauen mit schädlicher Arbeit“) gemacht worden.

Die Gleichstellung von Mann und Frau – die bereits 1946 im Verfassungsentwurf der SED formuliert und 1949 in der Verfassung der DDR fixiert wurde – hatte auch Rückwirkungen auf den Gesundheitsschutz von Frauen. 1950 wurde das „Gesetz über den Mutterschutz und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ verabschiedet. Mit ihm wurden nicht nur „wirtschaftliche und gesundheitliche Massnahmen und Einrichtungen für Schwangere, kinderreiche Mütter, Säuglinge und Kleinkinder“, sondern auch Bestimmungen über den Frauenarbeitsschutz, zum Familienrecht, wie z.B. Gleichstellung lediger Mütter mit verheirateten, elterliches Sorgerecht, das Recht auf Berufsausübung, den „Arbeitsschutz für Frauen und deren ‚Teilnahme am staatlichen gesellschaftlichen Leben‘“ und Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, der 1947 bis 1950 bei sozialer und ethischer Indikation legal war, festgelegt. Das hierdurch formulierte Recht auf Gesundheitssicherung beschränkte sich nicht nur auf die Frauen selbst, sondern erstreckte sich auch auf deren Säuglinge und Kinder. Das Gesetz von 1950 regelte die gesundheitliche Versorgung der Kinder und löste die seit 1945 erlassenen diesbezüglichen Befehle der SMAD ab.

In Westdeutschland wurde im Jahre 1950 in West-Berlin eine Untersuchung über die Umsetzung von Fürsorgemaßnahmen für Mutter und Kind durchgeführt.9 Anlass war die Feststellung, dass bei der „Anwendung neuer präventiver Methoden […] vielerlei Hindernisse“ wie mangelnde Finanzierung bei den befragten Ärzten, Fürsorgern und Gesundheitspolitikern, aber auch „Zweifel an der Möglichkeit, die derzeitigen Hauptursachen der Säuglingssterblichkeit überhaupt wirksam bekämpfen zu können, auch Uninteressiertheit und Ablehnung aus Unkenntnis der wirklichen Situation“ vorhanden waren. Erst im Jahr 1952 wurde das staatliche Mutterschutzgesetz verabschiedet. Bis dahin waren die Arbeitsschutzbestimmungen für „weibliche Arbeiter“ in Kraft, die in der Regel im Nationalsozialismus verabschiedet worden waren. Erst 1957 wurde in der Bundesrepublik ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet, in dem Frauen das eingeschränkte Recht zugebilligt wurde, „erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Gesundheits- und Schwangerenschutz für Frauen schien hier als Legitimation zu dienen, Frauen von der Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Westdeutsche gesundheitspolitische Entscheidungen waren familienorientiert. Auch wurden hier, gemäß dem Subsidaritätsprinzip, einzelne fürsorgerische Aufgaben nicht vom Staat übernommen, sondern freien Vereinigungen, wie der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, dem Diakonischen Werk, der Caritas, der Pro Familia und vielen anderen überlassen.

BRD: Stärkung der Individualmedizin

Prävention und Prophylaxe wurden in beiden deutschen Staaten aufgrund gesamtgesellschaftlicher Vorentscheidungen unterschiedlich rezipiert. Handlungsleitend waren dabei nicht so sehr ökonomische Voraussetzungen, sondern eine ideologische Verortung der handelnden Personen und der von ihnen getragenen Organisationen und Institutionen. Die von ihnen vertretenen gesundheitspolitischen Ideen waren bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ausformuliert worden. Mit Unterstützung der SMAD wurde in der SBZ/DDR eine präventiv orientierte Medizin etabliert. In den Westzonen und der Bundesrepublik wurde mit Billigung der alliierten Besatzungsbehörden Prävention einer therapeutisch orientierten Medizin nachgeordnet. Divergierende Interessen und ein an konservativen Werten orientiertes Gesellschaftsmodell scheinen hierfür Gründe gewesen zu sein.

Anmerkungen

1) Grotjahn, Alfred: Soziale Hygiene (Definition). In: Handwörterbuch der Sozialen Hygiene Hrsg.: Alfred Grotjahn, J. Kaup. Bd. II. Leipzig 1912, S. 412.

2) Klose, Franz (u.a.): Mitbegründer und Präsident der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege und des Bundesgesundheitsamtes (1952-1955). In: Gesundheitswesen und Bonner Grundgesetz. Ärztliche Mitteilungen 34 (1949) S. 67

3) Siehe hierzu: Hagen, Wilhelm (1978): Auftrag und Wirklichkeit, Sozialarzt im 20. Jahrhundert. München-Gräfelfing; Coerper, Carl (1959): Sozialhygiene, ein Abriss ihrer Struktur und ihrer Aufgaben. In: Der öffentliche Gesundheitsdienst 21 (1959) 4, S. 134-139; Geissler, Oswald (1965): Kulturhygiene. Stuttgart; alle genannten Beiträge auf CD-Rom (vgl. Information zur Autorin am Ende dieses Beitrags).

4) Buurman, Otto: Gesundheitspolitik. 2. Aufl. Stuttgart 1953, S. 44.

5) Siehe hierzu Erwin Marcusson (1954): Die soziale Hygiene (Definition und Aufgaben). In: Marcusson, Erwin: Sozialhygiene. Grundlagen und Organisation des Gesundheitsschutzes. Leipzig 1954, S. 29-34, und Kurt Winter (1970): Gegenstand und Aufgaben der Sozialhygiene. In: Lehrbuch der Sozialhygiene. Hrsg.: Kurt Winter, Alfred Beyer. Berlin 1970 (5. verb. Aufl.), S. 23-30; beide Beiträge auf CD-Rom.

6) Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949, Art. 16, Ziff. 3. In Art. 161 der Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Verfassung) vom 11.8.1919 heißt es: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“

7) In der Zeitschrift Das Deutsche Gesundheitswesen war als Begründung zu lesen: „Durch den Befehl 234 erhalten die Aufgaben des Arztes einen weit größeren Umfang als bisher, indem wir die großen und wichtigen Aufgaben der Prophylaxe, Arbeitsmedizin u.a. in unseren Arbeitsbereich mit einbeziehen. Wir behandeln nicht mehr nur den kranken Menschen, wir behandeln ihn nicht lediglich in unseren Sprechzimmern, sondern an seiner Arbeitsstätte, wo wir die Arbeitsbedingungen des Werktätigen kennenlernen und damit vieles krankhafte Geschehen in Verbindung mit beruflicher Belastung besser verstehen und beurteilen können.“ Lachmann, H.: Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit Herzkranker im Hinblick auf Befehl 234. Das Deutsche Gesundheitswesen 3 (1948), S. 120.

8) Weinberg, Wilhelm: Der Einfluss der sozialen Lage auf Krankheit und Sterblichkeit der Frau. In: Krankheit und soziale Lage. Hrsg.: Max Mosse, Gustav Tugendreich. München 1913, S. 233.

9) Fürsorge für Mutter und Kind. Der Demonstrationsdistrikt. Bericht Curt Meyer, Leiter der Abteilung Sozialhygiene in der Senatsverwaltung für Gesundheitswesen. Berlin 1953. Hrsg.: Senatsverwaltung für Gesundheitswesen Berlin. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Darstellung.


Dr. Sabine Schleiermacher ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte des Zentrums für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin (ZHGB)  Charité. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Eugenik/Bevölkerungspolitik, Medizin im NS, Sozialethik sowie Politik, Struktur und Entwicklung des Gesundheitswesens im Nachkriegsdeutschland, insbesondere der SBZ/DDR. Ihr Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in Alfons Labisch, Norbert Paul (Hrsg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin (= Sudhoffs Archiv, Beiheft 54). Wiesbaden 2004 (Franz Steiner Verlag), S. 171-177. Er liegt auch auf der CD-ROM 100 Jahre Sozialhygiene und Public Health in Deutschland. Hrg. von Udo Schagen und Sabine Schleiermacher im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Berlin 2005 (ISSN 1432-3958), vor. (Bezug per sabine.selle@charite.de ). Die vorliegende Fassung enthält leichte Textveränderungen gegenüber den Originalversionen. – Dem Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, danken wir für die Abdruckgenehmigung.

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