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Klaus Holzkamp

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Geschichte, Fortschritt, Zukunft

15.03.2005: Gesellschaftliche Ungleichheit, Naturausbeutung und Patriarchat

  
 

Forum Wissenschaft 1/2005; Titelbild: Museum der Arbeit/Reemtsa Fotoarchiv

Wie Fortschritt heute unter Einschluss all der Erfahrungen gedacht werden kann, die ihn bisher als widersprüchlich, prekär, techno-logisch bzw. auf die technische Produktivkraftentwicklung reduziert oder aber für Viele als nicht existent erscheinen lassen, und wie seiner Dialektik nachzugehen wäre, zeigt Andreas Klotz an neuen Studien.

Die "Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe"1 - so Horkheimer und Adorno 1947.

Unter dem Begriff Fortschritt wird zumeist subsumiert, dass er eine soziale, politische, technische oder/und ökonomische Weiterentwicklung und Besserstellung für menschliche Gesellschaften und die sie bildenden Individuen darstellt. Doch schon Marx und Engels, die oftmals als vehemente Apologeten eben dieses Fortschritts vereinnahmt wurden, urteilten - annähernd 100 Jahre vor Horkheimer und Adorno - differenzierter. Engels schreibt z. B. von "jene[r] bis heute dauernden Epoche" der Zivilisation, dass in ihr "jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt [sei], in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der anderen".2

Demnach spielt die jeweilige Definition dessen, was Fortschritt sei und zu sein habe, eine zentrale Rolle. Steht er für das "Fortschreiten von der Wildheit zur Zivilisation" "zum Wohle der Menschheit",3 "für die wirkliche Vervollkommnung des Menschen" und "die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Nationen",4 dient der Begriff, wie später etwa bei Spencer oder Comte, der Legitimation bürgerlicher Herrschaft, als lobende Benennung all dessen, was technisch und ökonomisch unter dieser betrieben wird?5 Oder kann man schließlich doch mit Engels sagen: "Jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein neuer Fortschritt der Ungleichheit. Alle Einrichtungen, die sich die mit der Zivilisation entstandne Gesellschaft gibt, schlagen in das Gegenteil ihres ursprünglichen Zweckes um"?6

Diesem Gemenge unterschiedlicher Positionen lässt sich ein differenzierter Fortschrittsbegriff gegenüber stellen.7 Von Fortschritt kann danach nur gesprochen werden, wenn die drei Dimensionen der gesellschaftlichen Reproduktion, die lauten: Gewinnung des Lebensunterhalts (Subsistenz), Sorge um die Nachkommen (Familie), Sicherung des Lebensraums (Politik)8, innerhalb eines historisch-geographischen Milieus sich für alle innerhalb dieses Milieus lebenden Menschen verbessern bei gleichzeitiger Sicherung der Reproduktionsfähigkeit der natürlichen Umwelt. Dieses stringente und im besten Sinne utopische Konzept schließt eine Annahme von Fortschritt im Angesicht gravierender gesellschaftlicher Ungleichheiten, ökonomischer Ausbeutung, patriarchaler Verfügungsgewalt, Unterdrückung von Minderheiten und hemmungsloser Ausbeutung des Lebensraums von vornherein aus.

Mittels ausführlicher Analysen verschiedener historisch-geographischer Milieus kann aufgezeigt werden, welche Wirkkräfte progressive Entwicklungen hervorriefen, aber auch, wie auf diesem Wege gesellschaftliche Ungleichheiten und somit die jeweils unterschiedlich erlebten Resultate dieser Entwicklungen sich verfestigten. Das versuchen die Einzelbeiträge zu einem Sammelband9, auf die das hier Folgende Bezug nimmt. Vermeintlich vom inhaltlichen Kern abschweifend, jedoch tatsächlich als Ausdruck eines umfassenden geschichts- und sozialwissenschaftlichen Verständnisses, lohnt sich hierbei auch der Blick auf die nächsten Menschenverwandten. Denn Bonobos und Schimpansen sind Zeitzeugen von Homo Sapiens seit dessen Anfängen, über den Auszug aus Afrika bis hin zur neuesten Zeit. Die Menschen lernten den Ackerbau, die Viehzucht, die Metallurgie, schufen Stadtstaaten, Großreiche, Wirtschaftsimperien und Klassengegensätze, erforschen Raum und Zeit, Weltall und Tiefsee, Biosphäre und Genom. Allesamt Fortschritte im hegemonial-populären Verständnis. Doch, so könnte sich die Verwandtschaft fragen, hat die Menschen all dies bei ihren ureigensten Aufgaben, der Sicherung des Lebensunterhalts, der Sorge um die Nachkommen und der Gestaltung des Zusammenlebens weiter gebracht? Oder bleiben sie an dieser Stelle, den modischen Klimbim einmal beiseite gelassen, nicht weiterhin ebenso unvollständig, wie sie schon im Paläolithikum waren? Hier wird aber auch offensichtlich, wie die Totalität der von Menschen initiierten Entwicklungen die Arten und auch die Individuen der gesamten Biosphäre aufs Schlimmste in Mitleidenschaft gezogen hat. Die großen Menschenaffen stehen kurz vor dem Aussterben.10

Müssen technische, soziale und politische Entwicklungen, die u. a. Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Ungleichheit und Naturzerstörung hervorriefen, als quasi anthropologische Konstanten aufgefasst werden, die von Kontinent zu Kontinent und von Zivilisation zu Zivilisation zu jeweils ähnlichen Resultaten führten? In diesem Fall würde jede Gesellschaftskritik schnell an ihre Grenzen stoßen, bliebe doch nur die Einsicht in das Zwangsläufige.

Ungleichheit und Geschichte

Hier lohnt es sich, verschiedene historische Beispiele detailliert zu betrachten. Der mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Zivilisation gingen die antiken Gesellschaften der Phönizier, Hebräer und Griechen voraus. Mit dem Übergang zu agrarischen Produktionsweisen in der Jungsteinzeit waren kollektive und auch individuelle Besitzverhältnisse entstanden, aus denen inner- und intergesellschaftliche Verteilungskonflikte hervorgingen und die patriarchale und staatliche Herrschaft ihren Anfang nahm. Die damit verbundene Zunahme von kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch anwachsender Regelungsbedarf für das gemeinschaftliche Leben, mündete in politische Zentralgewalten, wie die hebräischen oder assyrischen Königtümer, aber auch in die phönizische wie die spätere griechische Polis.11 Die Phönizier gründeten Kolonien, betrieben über das Mittelmeer hinausreichenden Seehandel und errichteten Faktoreien. So begann eine enorme Entfaltung der Produktivkräfte, einhergehend mit einer Zunahme der technologischen Kenntnisse. Dies charakterisiert auch die griechischen Stadtstaaten, deren entscheidendes Charakteristikum aber die rigide und militärisch untermauerte Machtpolitik, einschließlich Besatzungsregimen und Ausrottungsfeldzügen, war. Hier besteht ein offensichtliches Kontinuum zum späteren west-europäischen Entwicklungsweg der Gesellschaftsgeschichte.12

Ein Exkurs in die präkolumbische Geschichte Lateinamerikas legt nahe, dass es auf diesem Kontinent zwar auch schon vor Ankunft der Europäer gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und Formen von Naturausbeutung gab, diese in ihrer Dimension jedoch nicht dem europäischen oder westasiatischen Pendant gleichgesetzt werden können. So verhinderte die dortige Naturausstattung mit u. a. dem Fehlen geeigneter Großtiere für die Domestikation ,13 dass eine intensive Umwandlung der Naturräume zu Zwecken der Landwirtschaft erfolgte. Gleichermaßen benötigt der Mais, die wichtigste Anbaupflanze dieses Kontinents, eine deutlich geringere Bodenbearbeitung als die in Westasien domestizierten Getreidesorten. Nachdem in Folge des Übergangs zur Landwirtschaft territorial organisierte Verbände gentilgesellschaftliche Strukturen überlagerten, blieben Verfügungsrechte und die politische Entscheidungsmacht auf viele Schultern verteilt. Dies kennzeichnet auch die später entstehenden Hochkulturen. Das Eindringen der Spanier bedeutete für die indigenen Bevölkerungen Altamerikas eine Katastrophe, sie wurden zu Hundertausenden hingemetzelt oder als Arbeitskräfte im Bergbau körperlich und psychisch ruiniert. Die Ausbeutung der Bodenschätze und anderer Naturreichtümer beraubte sie ihrer Existenzmöglichkeiten. Hinzu kam eine, u. a. durch die röm.-kath. Kirche geförderte, Überheblichkeit gegenüber den Kolonisierten. Sprachlich kulminierte dies in der Fiktion des Indio, dieses kolonialen und rassistischen Sammelbegriffs, der die ethnischen und historischen Unterschiede zwischen den vielen Kulturen völlig negiert. Der Zapatistenaufstand im mexikanischen Chiapas, der in den 1990er Jahren auch in europäischen Medien Aufmerksamkeit fand, stellt einen Versuch der dort lebenden indigenen Bevölkerung dar, sich politisch und ökonomisch gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu emanzipieren. Damit einher gehen Bemühungen, die auch hier präsente patriarchale Gewalt einzudämmen. Angesichts einer zunehmenden Ressourcen- und Landknappheit und des hinhaltenden Widerstands der mexikanischen Zentralregierung liegt aber das Ziel der Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten noch in weiter Ferne.14

Aus der Warte der Indigenen im Territorium der heutigen USA brachte die vorrangig von Nord- und Mitteleuropa ausgehende Erschließung ihrer Siedlungsgebiete eine den Vorgängen im Süden gleichzusetzende Katastrophe. Für die europäischstämmige Mehrheitsbevölkerung war dies jedoch eine glorreiche Epoche, die mannigfaltige Mythen gebar. Im Geiste des Fortschritts wurde das Land erschlossen und kultiviert. Eine ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte setzte ein, enorm beschleunigt durch die ergiebigen Vorkommen von Gold und Erdöl. Millionen Menschen, die in ihrer europäischen Heimat Despotie und wirtschaftliche Not erlebten, machten sich in das gelobte Land auf. Was sie vorfanden, war tatsächlich ein Land der bürgerlichen Freiheiten, ohne feudale und ständische Fesseln und mit wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Die US-amerikanische Gesellschaft formierte sich um den Glauben an die eigene - auch moralische - Überlegenheit in Gods own Country. Sie gebar aber auch Sendungsbewusstsein, Überheblichkeit und die strikte Abgrenzung gegen jene, die diesen Überzeugungen gefährlich werden konnten. Mit der Entfaltung der Wirtschaftskraft und dem absehbaren Ende der Erschließung des eigenen Landes im 19. Jahrhundert suchte die USA, imperiale Kontrolle über den Südteil des Kontinents zu erlangen. Den dort neu entstehenden Staaten blieb zwar die formale und administrative Autonomie, jedoch durfte ihr politisches und wirtschaftliches Handeln nicht im Widerspruch zu den Zielen der Hegemonialmacht stehen. Abweichungen von dieser Norm bekämpfte die USA rigide (u. a. Kuba 1959, Chile 1973, Nicaragua 1979-1984). Die aktuelle militärische Präsenz der Vereinigten Staaten in Vorder- und Mittelasien - bis hin zur Einsetzung ihnen genehmer Regierungen - dient einerseits der Sicherung ihres immensen Energie-(Erdöl-)bedarfs, gleichermaßen soll aber auch die globale Hegemonialstellung gewahrt werden.15

Patriarchale Herrschaftsverhältnisse stellen den vielleicht zentralsten und zählebigsten wie auch universellsten Aspekt gesellschaftlicher Ungleichheit dar. Den Männern gelang es, sich die Frauen, einschließlich ihrer Gebärfähigkeit, untertan zu machen und diese Unterdrückung über die Jahrtausende zu behaupten. Dies lässt sich exemplarisch an der rechtlichen Konstituierung des Abtreibungsverbots in der deutschen Geschichte aufzeigen. Nachdem antike Vorläufergesellschaften zwar den Frauen eine Autonomie in dieser Frage absprachen, bei Einverständnis des Ehemannes oder des Hausvaters eine Abtreibung jedoch zulässig war (u. a. Assyrien, antikes Rom), brandmarkte die Kirche im frühen Mittelalter den Schwangerschaftsabbruch als Totschlag. Konsequenterweise musste somit dem Fötus eine eigene Personalität zugesprochen werden. Staatlich reglementiert wurde der Schwangerschaftsabbruch einige Jahrhunderte später (vermutlich 16. Jahrhundert). Dieses Rechtsverständnis hat bis heute Bestand, wenngleich die letzte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Straffreiheit bei Einhaltung der zwölf Wochen-Frist und der Inanspruchnahme eines Beratungsgespräches vorsieht. Im Zuge der (vermeintlichen) demographischen Probleme, aber auch im Bestreben des medizinisch-industriellen Komplexes, Zeugung, Vererbung und Geburt mehr und mehr zu kontrollieren, deutet sich ein neuerdings wieder zunehmendes Interesse von Staat und auch Wirtschaft an, über den weiblichen Körper zu verfügen. An dieser Stelle lohnt eine weitere Betrachtung, um die Janusköpfigkeit des sogenannten Fortschritts festzuhalten. War die pflegerische Betreuung und Unterstützung des Gebärens bis in die neuere Zeit den Frauen und konkret dem Berufsstand der Hebammen anvertraut, so schaffte es der seit dem 18. Jahrhundert sich entwickelnde Medizinbetrieb, die Frauen ärztlicher und mithin männlicher Obhut zu überlassen. Das reduzierte zwar das Risiko des Kindbetttods von Mutter und Säugling, doch verloren die Frauen auf diesem Weg ein weiteres Stück der Autonomie über ihre Gebärfähigkeit.16

Alte Fragen, neue Fragen

Wenn die alltäglich gewordene Chemikalienbelastung die Gesundheit von Menschen und Tieren beeinträchtigt und z. B. selbst die tiergerechte und naturnahe Freilandhaltung von Legehennen durch im Boden gespeichertes Dioxin gesundheitliche Risiken nach sich ziehen kann,17 werden zumindest gelegentlich Öffentlichkeit und Medien hellhörig. Vielleicht stellen auch jene Individuen, die sich als besonders anfällig gegen Chemikalienbelastungen zeigen, ein Frühwarnsystem dar für noch zu erwartende gehäufte und regelmäßig auftretende Erb- und Gesundheitsschäden. Das würde die Brisanz des Themas noch einmal verschärfen.18

Solche aktuellen Entwicklungen werden begleitet und geschehen teilweise auch in Abhängigkeit zu der gegenwärtig hierzulande verfolgten Politik, den Sozialstaat zu deformieren. Den Protagonisten des Marktradikalismus, die in Parteien, Verbänden und Medien zu finden sind, gelingt es dabei, den inhaltlichen Gehalt des Wortes Reform in sein völliges Gegenteil zu verkehren.19

Die Herausbildung von Machtstrukturen, Ungleichheit, Patriarchat, etc. stellt sich immer neu als permanente Wechselbeziehung von ökologisch-geographischen, ökonomischen, gesellschaftlich-politischen Faktoren heraus. Vermeintlich vernachlässigbare Details können auf diese Weise eine ungeheure Wirkungskraft erlangen, siehe die Beispiele der Tierzucht für die unterschiedlichen Entwicklungen agrarischer Gesellschaften in alter und neuer Welt. Der Blick über den disziplinären Tellerrand, wobei ohne Scheu geographische, zoologische, agrarwissenschaftliche oder archäologische Sachverhalte ausführlich gewürdigt werden, erlaubt eine Gesamtschau von hoher Qualität. So wird plausibel, welche Faktoren zur Herausbildung gesellschaftlicher Ungleichheit führten und führen und welche Auswirkungen diese auf Individuen und Gesellschaften hatten und haben.

An dieser Stelle wird es Zeit, wieder auf den Fortschritt zurückzukommen. Offensichtlich erlebten im Verlaufe der Geschichte die technisch-organisatorischen Fähigkeiten der Menschen im Umgang miteinander, besonders aber im Verhältnis zur außermenschlichen Natur eine zunehmende Verfeinerung und Perfektion. Die damit ehemals verbundenen Glücksversprechen blieben jedoch aus. Nirgendwo auf der Erde fand bisher eine Entwicklung statt, die eine langfristige und nachhaltige Verbesserung der Reproduktionsmöglichkeiten aller Individuen innerhalb eines historisch-geographischen Zeitraums hervorgebracht hätte. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die belebte und nichtbelebte natürliche Umwelt. Im Gegenteil tendiert die aktuelle Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse zu einer Verschärfung ökonomischer Gegensätze, also zur Zunahme von Ungleichheit. Das radikale Scheitern des realsozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells lässt den kapitalistischen Siegeszug vielfach als alternativlos erscheinen. War doch die dort entstandene staatliche Despotie in Verbindung mit Massenterror, die mangelnde ökonomische Effizienz und die uferlose Naturausbeutung Resultat eines untauglichen Versuchs, auf den Trümmern einer alten Ordnung die Geschichte neu zu beginnen. An dieser Feststellung ändert auch der gleichwohl stattgefundene Abbau ökonomischer Gegensätze nichts. Die in Jahrtausenden aufgetragene gesellschaftliche Ungleichheit wird eben nicht allein durch die Neuordnung von Besitzverhältnissen aufgehoben.

Was bedeutet dies für die weitere Geschichte? Es scheint wenig wahrscheinlich, dass reformistische oder revolutionäre Strömungen das kapitalistische System in seine Schranken weisen können, wenn nicht dieses System aus selbstgemachten Gründen seine Vitalität verliert. In der Logik des "Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate"20 liegt aber ein grundsätzliches Dilemma für die weitere kapitalistische Wertschöpfung. Trotz steigender Ausbeutung von lebendiger Arbeitskraft und Naturressourcen wird demnach im Verhältnis zum eingesetzten Kapital die Gewinnspanne kleiner. Sollte aus dieser Situation heraus eine unternehmerische Umorientierung erfolgen - mit der Aufwertung der lebendigen Arbeit und der Reduzierung des Energie- und Naturverbrauchs - könnte es auch gelingen, die ökonomische Teilhabe und die Verhandlungsmacht der Menschen zu stärken. Das wäre die Basis für eine Neustrukturierung der gesellschaftlichen Reproduktion.

Horkheimer und Adorno schreiben in der Dialektik der Aufklärung: "Es widerfährt ihnen [… der Zivilisation und der Ideologie], was dem triumphierenden Gedanken seit je geschehen ist. Tritt er willentlich aus seinem kritischen Element heraus als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden, so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich erwählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln."21 Im Sinne dieser Feststellung sollen die hier vorgestellten Betrachtungen und Analysen die Idee vom Fortschritt auf ihr kritisches Element zurückführen. Ihre Autor/inn/en geben somit ein intellektuelles Rüstzeug, um die alles niederwalzende Energie - euphemistisch Fortschritt genannt - zugunsten einer neuen Ausrichtung gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen und gegenüber der sie umgebenden und ihnen innewohnenden Natur zu bändigen.


Anmerkungen

1) Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. 1988 [1947]: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M.: 6

2) MEW [1956-1968]: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, 1-39, Erg.-Bde., Berlin (DDR) (Dietz-Vlg.): Bd. 21, 68

3) Ferguson, Adam, 1923 (1767): Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (Essay on the history of civil society [dt.]), Eingel. v. Heinrich Waentig, 2. Aufl., Jena, 1-13, 394

4) Condorcet, Marie-Jean-Antoine, 1963 [1793]: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Esquisse d`un tableau des progrès de lésprit humain [dt.], hrg. v. Wilhelm Alff, Frankfurt/M., 27-30, 37-45, 345, 395

5) vgl. Sledziewski, Elisabeth G., 1990: Fortschritt. In: Sandkühler, Hans Jörg, [u.a.], Hrg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften Bd. 2, Hamburg, S. 95-104, 95-104

6) MEW 20, 130

7) Vgl. hierzu jüngst Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete, Hrsg., 2004: Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Beiträge von R. Czeskleba-Dupont, K.-R. Fabig, L. Lambrecht, T. Mies, B. Reef, U. Sperling, K. H. Tjaden, M. Tjaden-Steinhauer, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik, 3), Kassel. In sieben Einzelbeiträgen, zu denen ein ausführliches Vorwort die übergeordnete Problem- und Fragestellung aufzeigt und ein fast genauso umfangreiches Nachwort die einzelnen Stränge zu einem sowohl bewertenden wie auch ausblickenden Resümee zusammenführt, suchen die Autor/inn/en zu er- und begründen, wie und weshalb gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse entstehen konnten und sich dauerhaft etablierten.

8) Vgl. Lambrecht, Lars, [u.a.], 1998: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk, Soziologische Exkursionen, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 1), 8, 13ff.

9) Sperling /Tjaden-Steinhauer, Hrsg., a.a.O.

10) M. Tjaden-Steinhauer/K. H. Tjaden: An Ape‘s View of Human History - revisited. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

11) Laut Lambrecht [unter Bezugnahme auf Burkhardt, Jacob, 1962: Griechische Kulturgeschichte, 4 Bde., Darmstadt (Gesammelte Werke Bd. V-VIII) Bd. 1, 57, 76; 1957/10 f] war die Polis samt ihrer demokratischen Strukturen eine phönizische Erfindung und Vorbild für die Griechen.

12) L. Lambrecht; Phönizier, Hebräer, Griechen - Weichenstellungen für den west-europäischen Entwicklungsweg? In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

13) Diamond, Jared, 2000: Arm und Reich, Die Schicksale menschlicher Gesellschaften (Guns, Germs and Steel [dt.]), Frankfurt/M., 184 ff.

14) Tjaden-Steinhauer/Tjaden: Maya, Inka und Azteken - Altamerikanische Kulturen und europäische Gewaltherrschaft: Unterwerfung, Anpassung und Widerstand. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

15) R. Czeskleba-Dupont: Historisch-geographische Bedingungen und Voraussetzungen der US-amerikanischen Hegemonie. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

16) U. Sperling/M. Tjaden-Steinhauer: Generative Körpervermögen und gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

17) Frankfurter Rundschau: Fachleute vertrauen dem Freiland-Ei, 18.1.2005

18) K.-R. Fabig: Genvarianten und Umweltgifte. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

19) B. Reef: Das neoliberale Programm und der Abbau des Sozialstaats. In: Sperling/Tjaden-Steinhauer, Hrsg., 2004

20) MEW 25

21) Horkheimer/Adorno 1988 [1947]: a.a.O.: 2


Andreas Klotz ist Diplom-Sozialökonom. Er arbeitet in Hamburg zu Politischer Ökologie und Ethnosoziologie.

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