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Klaus Holzkamp

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Interpretationskampf um die Daten

31.12.2011: Zum OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick 2011"

  
 

Forum Wissenschaft 4/2011; Foto: owik2 / photocase.com

Jedes Jahr aufs Neue bescheinigt die internationale Vergleichsstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Deutschland sinkende Bildungsausgaben und ein weit unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau. Um die Interpretation dieser Befunde tobt seit langem ein Kampf zwischen Konservativen und Wirtschaftsliberalen. Tobias Kaphegyi und Gunter Quaißer bewerten diese Auseinandersetzungen und fragen nach den emanzipatorischen Interpretationsmöglichkeiten dieser Datensammlung.

Für den Deutschen Lehrerverband (DL) ist die Sache schon seit langem klar: "Vor allem die schier rituelle Art und Weise, wie die OECD erneut Halbwahrheiten über das deutsche Bildungswesen verbreitet und daraus auch noch weitreichende Schlüsse zieht, ist skandalös".1 Schon 2004 ist das Urteil von Josef Kraus, dem Präsidenten des DL, zur jährlich erscheinenden Indikatorensammlung Bildung auf einen Blick2 der OECD unumstößlich. Sie hat sich auch bis heute nicht verändert. Zum Kern der Kritik des Lehrerverbandes gehört die Behauptung, die OECD vergleiche Dinge, die unvergleichbar seien. Als seien deutsche Zustände international unvergleichliche Zustände. Diese Behauptung der OECD-GegnerInnen des DL3 zielt hauptsächlich auf die ebenso seit Jahren von Seiten der OECD vorgebrachte Feststellung ab, es sei für Deutschland "höchste Zeit für mehr Hochqualifizierte"4: "Deutschlands Beitrag zum weltweiten Pool an Talenten schrumpft rapide".5 Schon seit Jahren warnt die OECD vor einer mangelhaften Entwicklung der Personenzahl mit Tertiärabschluss - also einem Mangel an hochausgebildeten Arbeitskräften. Nach den neuesten Zahlen der OECD erreicht etwa jeder Vierte (26%) in Deutschland einen Hochschul- bzw. Fachhochschulabschluss oder einen MeisterInnenbrief. "Lag Deutschland vor einem halben Jahrhundert mit diesen Werten im Mittelfeld aller 24 Länder, für die Daten vorhanden sind, so ist es nunmehr auf einen der untersten Plätze abgerutscht"6. Gewarnt wird von Seiten der OECD seit Jahren vor negativen Folgen dieser Entwicklung für den Standort Deutschland und sein Wirtschaftswachstum. Diese Argumentation wird von den Arbeitgeberverbänden aufgegriffen, die behaupten: "Deutschland besitzt ein strukturelles Fachkräftedefizit, das durch Defizite im Bildungssystem und den demografischen Wandel noch gravierend verschärft wird. [...] Der Wohlstand in Deutschland wird dadurch massiv gefährdet, denn es drohen Wertschöpfungsverluste in Milliardenhöhe. [...] Im sog. MINT-Bereich (Mathematik, Ingenieurwissenschaft, Naturwissenschaft und Technik) fehlten selbst im Krisenjahr 2009 im Schnitt 63.000 Fachkräfte; mit der wirtschaftlichen Erholung stieg die Lücke auf knapp 100.000 im Jahr 2010 an und wächst weiter."7

Unsinn! Das entgegnete zuletzt im Jahr 2010 der Deutsche Lehrerverband. Die OECD habe das deutsche "Bildungswesen nicht verstanden" und heize immer wieder aufs Neue ein "Wettrüsten um die Studierquoten an". Der Vorwurf der OECD an Deutschland, es produziere viel zu wenige AkademikerInnen, sei falsch. Denn "was andere Länder als ›Abitur‹ oder als ›Studium‹ deklarieren", das entspräche "in Deutschland nicht einmal einer Fachschulausbildung". Sogar "Krankenschwestern" und "Kindergartenerzieherinnen" würden beispielsweise in den USA oder in Finnland schamloserweise als "Akademikerinnen" ausgewiesen. Josef Kraus verweist dagegen gerne auf Nationen, die durch eine deutsche Bildungskultur geprägt sind: Deutschland, Österreich und die Schweiz belegten eindrucksvoll, so Kraus, dass wirtschaftliche Prosperität nichts mit dem Fetisch Studierquote zu tun habe. Eine Gleichung, nach der viele Studierende mit viel Wirtschaftswachstum einhergehen würden, zeige sich in den wirtschaftlich starken deutschsprachigen Ländern nicht. Eine "Verhochschulung" der Gesellschaft sei nicht sinnvoll. Kraus prophezeit: "Auch in Zukunft werden zwei Drittel der jungen Menschen über die berufliche Bildung den Einstieg in einen Beruf finden". Und er bezweifelt Studierendenquoten von an die 50% und mehr. Denn: "Dass fast die Hälfte der jungen Leute in Deutschland fähig seien, ein nach herkömmlichen Maßstäben anspruchsvolles Studium zu absolvieren, mag doch bezweifelt werden".8

Erstaunt reibt man sich die Augen, wenn man sieht, wie stark sich der konservative Deutsche Lehrerverband und die wirtschaftsnahen Akteure um die Deutungshoheit von Bildung auf einen Blick streiten. Warum wird diese Auseinandersetzung mit einer solchen Intensität geführt und welche empirischen ›Beweise‹ bleiben bei einer näheren Betrachtung stichhaltig? Welcher Interpretationsweise von Bildung auf einen Blick sollte gefolgt werden? Oder können die Ergebnisse der zweifelsfrei wettbewerbspolitisch motivierten internationalen Indikatorensammlung auch auf eine emanzipatorische Weise interpretiert werden?

Konservative Bildungsstaatlichkeit

Eine Erklärung für die Unversöhnlichkeit, mit der sich die beiden Fraktionen in der Beurteilung von Bildung auf einen Blick gegenüberstehen, bietet eine historisch-strukturalistische, politökonomische Analyse der Entwicklung von nationalen Wohlfahrtstaatsstaaten und der in diese integrierten Bildungssysteme. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass es sich bei den Opponenten um Organisationen handelt, die zutiefst durch unterschiedliche historische Entwicklungsstufen des Kapitalismus in Deutschland geprägt sind.

Der Deutsche Lehrerverband zeigt sich zum einen als ein unbeirrbarer Vertreter der dominanten Ideologien der ›konservativen Bildungsstaatlichkeit‹, die sich in der Bundesrepublik ausgeprägt haben. Vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten (bis zu den 1970er Jahren) verfestigte sich in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, ein typisches bildungsstaatliches Profil, welches in die international unterschiedlich ausgeprägten Formen des kapitalistischen Wohlfahrtstaates eingebunden war und immer noch ist. Der politikwissenschaftlichen Machtressourcentheorie zufolge entstanden die unterschiedlichen Ausprägungen der nationalen Wohlfahrts- und Bildungsstaatlichkeiten vor allem aus den für jedes Land unterschiedlichen Macht- und Mehrheitsverhältnissen. Mächtige ArbeitnehmerInnenparteien und Gewerkschaften haben beispielsweise in Skandinavien eine viel egalitärere Bildungsstaatlichkeit entstehen lassen, auf die beim Thema "weniger soziale Selektivität im Bildungssystem" gerne als Vorbild verwiesen wird. In Deutschland entstand aus der Übernahme bildungspolitischer Traditionen aus dem Deutschen Reich und der Einbindung der Bildungsstaatlichkeit in den bundesrepublikanischen konservativen Wohlfahrtsstaat auch ein System mit typischen Kennzeichen: dazu gehören die Trennung von Bildung (sie findet in den Bildungseinrichtungen ab der schulischen Primarstufe statt) und Erziehung (in der Familie, im Betrieb und in der vorschulischen Bildung) und die Ausrichtung auf die männlich geprägte Ein-Ernährer-Familie. Deshalb kann das, was eine Krankenschwester oder eine Erzieherin tut, für Josef Kraus nichts mit akademischer Bildung zu tun haben. Für ihn handelt es sich bei der Arbeit einer Erzieherin um eine reproduktive Tätigkeit, die der weiblichen Sphäre zugeordnet ist. Des Weiteren ist die konservative Bildungsstaatlichkeit an der starken sozialen Selektivität und der starken Verantwortung des deutschen Staates im Bildungsbereich erkennbar. Die OECD maßt sich nun an, in dieses Hoheitsgebiet der konservativen BildungsbürgerInnen mit internationalen Vergleichsstudien einzudringen. Im konservativen Bildungsstaat gestaltet sich das staatliche Bildungssystem typischerweise statussichernd und reproduziert die bestehenden sozialen Ungleichheiten - beispielsweise durch die frühe Selektion der Kinder auf verschiedene Schultypen. Zum Schutz der Privilegierten in diesem System - vor allem also zum Schutz des (nicht nur konservativen) Bildungsbürgertums vor unliebsamer und aufstiegsorientierter ›proletarischer‹ Konkurrenz - wurde die soziale Selektivität der konservativen Bildungsstaatlichkeit durch eine naturalisierende Begabungstheorie gegen Kritik immunisiert. Deshalb ist es für Kraus unvorstellbar, dass die Hälfte aller jungen Menschen in einem Land von den biologischen Anlagen her ein akademisches Studium bewältigen könnte. Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Es bleibt für ihn eben eine unverrückbare Gegebenheit, dass nur ein Drittel der Jugendlichen - und zwar die mit ›akademischen Begabungen‹ - an einer Universität etwas verloren habe. Geflissentlich ignorieren er und seine ›Gymnasialfraktion‹, die in ihren bildungspolitischen Zielen das gegliederte Schulsystem fest mit dem Fortbestand ihres Verbandes verbunden haben, die seit Mitte der 1990er Jahre andauernde Krise des Systems der dualen Berufsausbildung. In der neoliberalen Transformationsphase auch der konservativen Bildungsstaatlichkeit entzieht sich die Kapitalseite zu Gunsten höherer Profitraten jeglicher gesellschaftlicher Verantwortung - auch derjenigen für das duale System. Und so landet inzwischen fast die Hälfte der Jugendlichen, die auf eine berufliche Ausbildung warten, in einem teuren, aber für die Jugendlichen repressiven, staatlichen Übergangssystem. Rund 15% aller Jugendlichen bleiben am Ende ohne jegliche berufliche Ausbildung zurück. Durch den Ausbildungspakt mit seiner verfälschenden Statistik, in der jeder junge Erwachsene in staatlich finanzierten Warteschleifen als ›versorgt‹ gilt, schafft es die Kapitalseite, diesen Ausstieg aus ihrer im konservativen Bildungsstaat noch korporativ organisierten Verantwortung für die Jugendlichen zu kaschieren.

Neoliberaler Transformationsdruck

Die Unternehmensverbände zeigen sich auf der anderen Seite zutiefst geprägt durch die neoliberale Aktionseinheit von Kapitalseite, wissenschaftlicher Mainstream-Ökonomie und kapitalorientierten politischen Kräften, die inzwischen von Teilen der LINKEN (der sogenannten Pragmatiker bzw. Reformer) bis zur FDP reichen. Seit den 1970er Jahren lässt sich in den entwickelten Industriestaaten eine sich ausweitende systemimmanente Krise des Kapitalismus wahrnehmen. Sie zeigt sich empirisch in langfristig immer weiter abnehmenden Wachstumsraten, in einer zunehmenden sozialen Polarisierung der Gesellschaften, in einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit und einer immer stärkeren Prekarisierung der Lohnarbeit. Mit der anhaltenden Krise begann durch das Zusammenwirken von Kapitalseite, Wirtschaftswissenschaft und Politik ein immens starker neoliberaler Transformationsdruck auf die Gesellschaft zu wirken. Ziel ist es, die sinkenden Profitraten über Privatisierungen, Deregulierung der Finanzmärkte, Abbau des Wohlfahrtsstaates und Senkung der Löhne wieder zu steigern. Diese Wirkung ergibt sich als indirektes Resultat aus den vielen Profitmaximierungsstrategien der einzelwirtschaftlichen Akteure - und muss deshalb nicht als eine Art Verschwörung gedeutet werden. Was für den konservativen Bildungsstaat die Begabungstheorie ist, ist für die neoliberale ›Wissensgesellschaft‹ das Märchen von den gleichen Bildungschancen, deren formale Ermöglichung ausreiche, um soziale Ungleichheit durch einen vorsorgenden Sozialstaat bzw. eine Bildungsrepublik Deutschland zu verhindern.

Durch Bildung soll jeder seines Glückes Schmied werden. Grundlage dieses Grundmythos der neoliberalen Transformation der vormals konservativen Bildungsstaatlichkeit in Deutschland sind die Humankapitaltheorie bzw. die neueren ökonomischen Wachstumstheorien (z.B. Mankiw, Barro u.a.). Sie beruhen wie die neoklassische Wachstumstheorie auf der Gleichgewichtsannahme. Veränderungen der Nachfrage spielen darin beispielsweise keine Rolle. Bei einem freien Spiel der Preise (z.B. auf dem Arbeitsmarkt) wird sich jedes Angebot eine Nachfrage schaffen. In dieser Ideologie wird mehr Bildung - mutiert zu einem Inputfaktor wie Sachkapital - immer zu mehr Beschäftigung und damit zu mehr Wertschöpfung und Wirtschaftswachstum führen.

Auch in den Arbeiten der OECD ist dieses Humankapital-Paradigma angelegt. Empirisch betrachtet ist das natürlich Humbug. Genüsslich weist Kraus auf die Bundesrepublik hin, die die These von der Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von der Studierquote falsifiziert. Trotz der vielen positiven ökonomischen Effekte von Bildung kann diese nicht aus sich alleine heraus ein Nachfragewachstum erwirken. Makropolitische Beschäftigungspolitik, eine staatlich vermittelte Umverteilung und Investition des sich akkumulierenden Vermögens in die Lebens- und Zukunftsqualität breiter Bevölkerungsschichten sowie der Einsatz von Arbeitszeitverkürzungen sind zur Erzeugung von nachhaltigem Nachfragewachstum nötig. Arbeitszeitverkürzung vor allem auch, um die Auswirkungen der durch Bildung wachsenden Arbeitsproduktivität nicht weiterhin in einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung der Lohnarbeit enden zu lassen.

Wenn die neoliberalen Ideologen auf empirische Beweise verweisen, die scheinbar zeigen, dass der Anteil der Hochausgebildeten in einer Gesellschaft verantwortlich für ein höheres Wirtschaftswachstum ist, berufen sie sich dabei auf Regressionsanalysen9, deren Ergebnisse fälschlicherweise und mutwillig als bewiesene Kausalität interpretiert werden. ForscherInnen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) raten aber zur Vorsicht: "Die Wirkungsrichtung könnte auch entgegengesetzt sein, das heißt Wissenschaftler könnten von hohen Wachstumsraten angezogen werden".10 Ergänzend möchte man anfügen: Oder reziprok! Umverteilung und Investitionen in Bildung und Sozialstaat und eine starke wirtschaftliche Entwicklung bedingen sich gegenseitig.

Fachkräftemangel als Dumpingstrategie

Bei der Beschwörung des akademischen Fachkräftemangels durch die Kapitalseite treten zu den wirtschaftswissenschaftlichen Ideologien übrigens auch einmal mehr handfeste Interessen hinzu: Die oben genannten Zahlen über die Größe einer akuten MINT-Fachkräftelücke, die vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) entwickelt wurden, werden von ForscherInnen des DIW als unseriös zurückgewiesen. In einer leicht verständlichen Analyse erläutern sie, "warum die Klage der Arbeitgeberverbände über einen Fachkräftemangel empirisch nicht fundiert ist".11 Vielmehr vermutet das DIW durch die Betrachtung der momentanen Studierendenzahlen in naher Zukunft eher eine Fachkräfteschwemme bei den sogenannten MINT-AbsolventInnen und mahnt dagegen einen Fachkräftemangel in den dualen MINT-Ausbildungsberufen an. Also in den Bereichen, in denen sich die Wirtschaft selbst ihre zukünftigen Fachkräfte wegstreicht, weil aus betriebswirtschaftlicher Sicht Lehrstellen Kosten sind und so das Profitmaximierungsinteresse des Einzelkapitals in einer zunehmend krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus dem nationalen Klasseninteresse des Gesamtkapitals an gesellschaftlichem Erhalt und Ausbau des Fachkräftepotentials entgegensteht. Gut ausgebildete Menschen gibt es ja aber auch billiger woanders! Wieso beschwören also die Arbeitgeberverbände unter Hinweis auch auf Bildung auf einen Blick so massiv einen Fachkräftemangel unter AkademikerInnen?

Über diese Frage kommen wir zu der Einschätzung, dass Bildung auf einen Blick nicht unbedingt aus einer rückständigen Perspektive der konservativen Bildungsstaatlichkeit heraus interpretiert werden muss. Nicht die Strategie einer "defensiven Modernisierung" (Georg Bollenbeck) mit begabungstheoretischen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert sollte die Interpretation der OECD-Daten lenken. Aber auch nicht die ideologische Lesart einer neoliberalen bzw. humankapitaltheoretischen Profitmaximierungsstrategie zu Gunsten der deutschen Kapitalseite. Wenn man den ideologischen Graben kennt, über den sich die beiden Fraktionen beschießen, lassen sich verschiedene Daten der Indikatorensammlung mit Gewinn interpretieren. Das Fachkräftemangelgejammer der Arbeitgeberverbände entpuppt sich beispielsweise als relativ simple Preisdumpingstrategie für AkademikerInnen. Die Gymnasialfraktion hat es geschafft, den Zugang zur akademischen Bildung im internationalen Vergleich katastrophal gering zu halten. Die OECD kommt zu dem Schluss: "Somit zahlen deutsche Arbeitgeber einen höheren Aufschlag für Beschäftigte mit Tertiärabschluss"12 und deshalb machen sie das, was sie immer tun: Einen Untergang des Wirtschaftsstandorts an die Wand zu malen, was scheinbar selbst dann verfängt, wenn die Exportnation Deutschland halb Europa an die selbige konkurriert. Ziel ist die Vergrößerung des akademischen Fachkräfteangebots, um durch die so verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dessen Preis zu senken.

Aus einer emanzipatorischen Analyse von Bildung auf einen Blick lassen sich noch weitere interessante Schlüsse ziehen. Abseits der Profitmaximierungsstrategien der neoliberalen Gesellschaftsfraktionen kann natürlich festgestellt werden, dass ein zunehmendes Bildungsniveau für eine Gesellschaft emanzipatorische Auswirkungen hat. Auch hierfür finden sich im OECD-Bericht interessante internationale Vergleichszahlen.13 Die Transformation zu einer stärker wissensintensiven bzw. wissenschaftsbasierten Gesellschaft muss natürlich finanziert werden. Hier zeigt Bildung auf einen Blick, dass konservative Bildungsstaatlichkeiten noch stärker als andere Bildungsformationen in der neoliberalen Transformation dazu neigen, immer weniger Bereiche des Bildungssystems ausreichend zu finanzieren: "1995 gab Deutschland 5,1% seines BIP für Bildung aus, 2008 nur 4,9% - deutlich weniger als der OECD-Durchschnitt von 5,9%. Damit steht Deutschland nunmehr auf Platz 30 unter den 36 Ländern, für die Daten [...] vorliegen [...]".14

Anmerkungen

1) Josef Kraus, 2004: "Die OECD und ihre schulpolitischen Ladenhüter. Das Schlechtreden von Schule wird zum Kern des Bildungssystems", in: Bayerische Staatszeitung vom 24. September 2004

2) OECD, 2011a: Bildung auf einen Blick 2011. OECD-Indikatoren, Paris

3) Von Seiten des DL wird auch nicht auf Beleidigungen und krude Verdächtigungen gegenüber Andreas Schleicher, dem Leiter der Abteilung für Indikatoren und Analysen im Direktorat für Bildung der OECD verzichtet: "Hessens Kultusministerin Karin Wolff (CDU) meinte denn auch, Herr Schleicher müsse sich fragen lassen, für welche Fachkompetenz er eigentlich bezahlt werde. Dem Vernehmen nach und ganz ins Bild passend werden Schleicher in Kreisen der KMK Ambitionen auf einen Posten als Staatssekretär nachgesagt. Als willkommener Stichwortgeber jedenfalls hat er sich bewährt. [...] Oder liegt womöglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung richtig, die Schleicher jüngst abwechselnd einen ›Miesmacher‹ und ›selbsternannten Superminister‹ nennt und dessen Ausfälle gegen das deutsche Schulwesen in Zusammenhang bringt mit der Zurückweisung des damals zehnjährigen Andreas Schleicher durch ein Gymnasium in Hamburg"(Kraus 2004).

4) OECD, 2011b: Höchste Zeit für Hochqualifizierte: Trotz besserer Arbeitsmarktchancen geringer Zuwachs bei weiterführenden Abschlüssen in Deutschland. Pressemitteilung vom 13.11.2011, www.oecd. org/document/40/0,3746,de_34968570_ 35008930_48646888_1_1_1_1,00.html [10.10.2011]

5) OECD, 2011c: Länderanalyse Deutschland. www.oecd.org/dataoecd/31/11/48669662.pdf [20.10.2011]

6) OECD 2011b   . 

7) BDA/Die Arbeitgeber, 2011: kompakt: Fachkräftesicherung, www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/B45D11AAC1BFC2E0C12574F20030F107/$file/Fachkraeftesicherung.pdf [19.10.2011]

8) Alle Zitate aus Josef Kraus, 2010: "Das Bildungswesen nicht verstanden. Die OECD heizt erneut ein Wettrüsten um die Studierquoten an", in: Die Tagespost vom 08.09. 2010, www.lehrerverband.de/oecd2010.htm [18.10.2011]

9) Regressionsanalysen untersuchen über ein statistisches Verfahren die Art des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen: in unserem Beispiel zwischen Bildungskompetenzen einer Bevölkerung und dem Wirtschaftswachstum in einem Land. Bei einer bivariaten linearen Regressionsanalyse wird anhand von möglichst vielen Fällen über ein mathematisches Verfahren versucht die Streuung bei der einen Variable (der sogenannten abhängigen Variable) über den Einfluss der zweiten Variable (der sogenannten unabhängigen Variable) zu quantifizieren. Theoretisch vermutete kausale Beziehungen zwischen zwei Variablen können durch eine Regressionsanalyse einem ersten Test unterzogen und gegebenenfalls früh falsifiziert werden. Ein Beweis könnte mit einer Regressionsanalyse nur geführt werden, wenn mögliche Drittvariablen vollständig ausgeschlossen oder mit einbezogen werden können, was bei Forschungen über die soziale Realität kaum möglich ist. Des Weiteren bleibt die Frage nach der Richtung eines kausalen Zusammenhangs. In unserem Beispiel: Ist Bildung für zunehmendes Wirtschaftswachstum oder das Wirtschaftswachstum für zunehmende Bildung verantwortlich?

10) Christian Dreger / Georg Erber, 2008: "Humankapital und Wirtschaftswachstum in den Regionen der EU", in: Wochenbericht des DIW, Nr. 29/2008, Berlin, 406, www.diw.de/documents/publikationen/73/87463/08-29-1.pdf [28.05.2011].

11) Karl Brenke, 2010: "Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht", in: DIW-Wochenbericht, Nr. 46/2010, Berlin, 4, www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.363684.de/10-46.pdf [02.07.2011]

12) OECD 2011c, 3. Aufgrund von höheren steuerlichen Belastungen und höheren Sozialversicherungsbeiträgen für ArbeitnehmerInnen in Deutschland (im Gegensatz zu den geringen deutschen Belastungen der Einkommen, die z.B. aus Unternehmensgewinnen oder aus Kapitalerträgen entstehen) "erhalten die Arbeitnehmer netto weniger" als in vielen anderen OECD-Ländern (OECD 2011c, 5). Siehe auch OECD 2011a, Indikator A 10.

13) Siehe beispielsweise OECD 2011a, Indikator A 11.

14) OECD 2011c, 7. Siehe auch OECD 2011a, B-Indikatoren.


Tobias Kaphegyi arbeitet als Lehrbeauftragter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen und ist Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Gunter Quaißer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und Lehrbeauftragter an der Europäischen Akademie der Arbeit (Frankfurt am Main).

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