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Klaus Holzkamp

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Der arabische Frühling in Nordafrika

29.07.2011: Revolution oder Revolte?

  
 

Forum Wissenschaft 2/2011; Foto: Simone Rozio

Eine Bewertung der arabischen Aufstände fällt auch Monate nach dem Sturz Ben Alis in Tunesien und Mubaraks in Ägypten schwer, wie Sofian Philip Naceur herausstellt. Während dem ägyptischen Volk der Verlust der Revolution durch einen schleichenden Militärputsch droht, ist die Situation in Tunesien noch mit Hoffnungen auf einen Bruch mit den etablierten Herrschaftsstrukturen verbunden, Libyen hingegen droht die Teilung.

Bei genauem Hinsehen deutete die politische und wirtschaftliche Situation in der Region seit Jahren auf eine derartige Eruption hin, wenngleich die grenzüberschreitende Dynamik überrascht. Die Strukturdefizite der arabischen Volkswirtschaften und die staatliche Repression gehören zu den primären Ursachen der Revolte. Ein wichtiger externer Akteur für die Stabilität der Regime ist die EU, die mit ihrer wirtschaftspolitischen und militärischen Unterstützung zum Status Quo in der Region beitrug. Relevant ist hier nicht nur die militärische und politische Aufwertung der Regierungen, sondern auch die Bedeutung der Rente. Der entwicklungshemmende Einfluss der Ölrente wird durch die ökonomischen und migrationspolitischen Verflechtungen Nordafrikas mit der EU zusätzlich zementiert. Europa vertritt handfeste energie- und migrationspolitische Interessen in der Region, dennoch hat sich die EU bei der Bewertung innergesellschaftlicher Konflikte in Nordafrika verkalkuliert. Da Europa zuletzt darauf konzentriert war, die Finanz- und Wirtschaftskrise unter Kontrolle zu bekommen, vernachlässigte Brüssel den Blick auf seine Peripherie, wo der Zusammenbruch des Welthandels massive wirtschaftspolitische Verwerfungen auslöste. Die arabische Revolte ist eng verknüpft mit den handelspolitischen Einschränkungen im internationalen Warenverkehr, vor allem in solchen Staaten, die über kein anhaltend hohes Rentenniveau aus dem Export von Erdöl verfügen. Die einbrechende Nachfrage ließ die arabischen Volkswirtschaften kollabieren und verschärfte aufgrund fehlender staatlicher Initiativen zur Abfederung der Krise deren Folgen.

Sozialvertrag erodiert

Im Gegensatz zu Europa legten die arabischen Regime keine milliardenschweren Konjunkturpakete und Hilfsfonds auf und die Krise traf die Region mit voller Wucht. Die Aufstände sind keine Hungerrevolten, obwohl die Spekulation mit Lebensmitteln an den internationalen Finanzmärkten den Revolten zusätzlich Auftrieb verlieh. Das Pulverfass, bestehend aus jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft, der nur auf die Rentenaneignung ausgerichteten Wirtschaft und dem Verlangen des Volkes nach Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie politischer Partizipation, ist explodiert und das Ergebnis des begonnenen Umbruchs bleibt offen.

"Im Zuge der verstärkten neoliberalen Ausrichtung staatlicher Entwicklungsstrategien sowie der massiven persönlichen Bereicherung der herrschenden AutokratInnen ist in vielen Staaten der alte Sozialvertrag erodiert und unglaubwürdig geworden. Er beruhte vor allem auf Beschäftigung im öffentlichen Sektor, Subventionen von zentralen Konsumgütern, hohen Importzöllen und geringer direkter Besteuerung."1 Die Wut der arabischen Straße konnte seit der Entkolonialisierungsphase keine derartige Dynamik entfalten. Ein wesentlicher Faktor für den Status Quo nach der Unabhängigkeit war die Inbesitznahme der Herrschaftsinstrumente durch nationale Eliten, die den Kolonialapparat mitsamt ihrer wirtschaftlichen Schlüsselbereiche und der sicherheitsrelevanten Infrastruktur einfach übernahmen. Es entstanden zentralistische monopolisierende Eliten, die sich stabile und wirkungsvolle Instrumente zum Machterhalt schaffen konnten. Wenig überraschend war daher die Stabilität der politischen Systeme, schließlich konzentrierten die Regime ihr politisches Handeln auf das übergeordnete Leitmotiv des Machterhaltes. Die Instrumente für die Absicherung der Herrschaft ohne jedwede Partizipation der Massen reichten von massiver Repression bis zu temporär begrenzten politischen Liberalisierungen wie in Algerien Ende der 1980er Jahre. "Politische Liberalisierung in arabischen Ländern geschah ausschließlich regimegesteuert von oben. Sie blieb überall selektiv, kontrolliert und reversibel."2 Nach dem Sturz Ben Alis begannen die arabischen Staaten mit partiellen politischen Öffnungen, um den Druck der Straße zu kanalisieren. Rabat verdoppelte die staatlichen Benzinsubventionen und kündigte politische Reformen an, um Protesten vorzubeugen. Algier erhöhte die Lebensmittelsubventionen, legalisierte vier oppositionelle Parteien und beendete den 1992 ausgerufenen Ausnahmezustand. Jordanien und Jemen reagierten ähnlich.

Während in Tunesien Möglichkeiten bestehen, die verkrusteten Herrschaftsstrukturen aufzubrechen, stehen die Chancen für einen Umbruch in Ägypten oder Algerien schlechter. Tunesien ist aufgrund der geringen Rohstoffvorkommen darauf angewiesen den Arbeitsmarkt zu stimulieren, um Steuergelder zu akquirieren. Rentenstaaten wie Libyen und Algerien hingegen setzen auf ihre Erdöl- und Erdgasindustrien. Die staatliche algerische Ölgesellschaft akquiriert 98% der Deviseneinnahmen, 60% des Staatshaushaltes und 40% des algerischen BIP und ist ein Staat im Staate. Ölrenten ermöglichen es der Zentralregierung in Algier auf das Erheben von Steuern weitgehend zu verzichten. Auch Tunis und Rabat gehören zu den Empfängern politischer Renten, diese haben jedoch mitnichten einen derartigen Einfluss auf den Staatshaushalt. In Rentenstaaten etablieren sich so genannte Staatsklassen, also pragmatisch orientierte Bündnisse gesellschaftlich einflussreicher Gruppen, die mit Hilfe der Rente sämtliche Machtpositionen in Staat und Wirtschaft monopolisieren. Durch steigende Renten entwickeln sich Staatsklassen zu einer von der Gesellschaft entkoppelten herrschenden Klasse, die mit sinkendem Steuerniveau das Interesse verliert, das Volk in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Staatsklassen streben nach Selbstprivilegierung und Einflusssteigerung im Rahmen ihrer finanziellen Ressourcen. Dennoch stehen diese Klassen unter gewissen Legitimationszwängen, da Staat und Staatsklasse die Loyalität der Massen stabilisieren müssen, um sozialen Protesten vorzubeugen. Die Einkünfte aus dem Ölexport und die Zuwendungen an Tunis und Rabat im Rahmen der EU-Migrationspolitik sind derartige Renten, die aufgrund ihres Umfangs die Transformation dieser Länder verhindern. Die wirtschaftlichen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise konnten dennoch selbst mit Hilfe der Öleinkünfte nicht kompensiert werden, mit der Folge einer Eskalation der sozialen Misere breiter Bevölkerungsschichten. Die Aufstände im Maghreb sind eine direkte Folge der Disfunktionalität der Volkswirtschaften Nordafrikas, sowie der Förderung der rentenbasierten Strukturen durch externe Akteure.

Barcelona-Prozess und Mittelmeerunion

Das Zögern Europas, auf die Aufstände im Maghreb politisch zu reagieren, ist aufgrund ihrer geopolitischen Interessenlage die einzig logische Konsequenz. Schließlich gehören die Energie- und Migrationspolitik im Mittelmeerraum zu den außenpolitischen Leitlinien der EU. Schon im Zuge des 1995 initiierten Barcelona-Prozesses spielten Energiepolitik und Migrationsregulierung eine übergeordnete Rolle. Die Versuche die Region institutionell in die Außenwirtschaftsstrukturen Europas einzubinden sollten zwar Fehlentwicklungen in Nordafrika abfedern, jedoch entpuppte sich dies aufgrund mangelnden politischen Willens auf beiden Seiten des Mittelmeeres als Lippenbekenntnis. Während die Regime am Machterhalt interessiert sind und die Kooperation mit der Hoffnung verknüpfen, mit zusätzlichen Renteneinnahmen ihren innenpolitischen Handlungsspielraum zu erhöhen, konzentriert sich die EU auf den Ausbau des Migrationsregimes, die Ausweitung der Energieimporte und den Aufbau von Produktionsstätten europäischer Konzerne im Maghreb. Das 1998 signierte Europa-Mittelmeerabkommen mit Tunis galt als erster Schritt zu einem umfassenden Freihandelsabkommen. Inzwischen kann man den Vertrag vielmehr als ordnungspolitisches Vehikel zum Schutz europäischer Märkte bezeichnen. Brüssel setzte in dem Vertrag Klauseln durch, die es europäischem Kapital erlauben, in Nordafrika steuerfrei zu arbeiten, während es den Produzenten von Agrar- und Textilwaren im Maghreb verwehrt wird, in die EU zu exportieren. Durch diese protektionistischen Bestimmungen konnten massiv industrielle Fertigwaren und subventionierte Agrargüter in den Maghreb strömen, die die einheimischen Betriebe unter extremen Konkurrenzdruck setzten, dem sie nicht standhielten. Die EU vertritt in Nordafrika handfeste sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen und befindet sich in einem Stabilitäts-Demokratie-Dilemma.3 Die soziale Misere im Maghreb lässt sich aus europäischer Perspektive nicht allein mit Wirtschaftsabkommen, Entwicklungshilfe oder Technologietransfers beheben. Produktionsauslagerungen und Direktinvestitionen sind nicht geeignet, um die marginal in die Weltwirtschaft integrierte maghrebinische Peripherie ökonomisch zu stärken und die Rente zurückzudrängen.

Europäische Energiepolitik

Die EU intensiviert seit Jahren ihre Kooperation mit Algerien und Libyen, um sich im Rahmen ihrer Diversifikationsstrategie von russischen Energieimporten unabhängiger zu machen. Daher ist Europa zwingend auf die Erschließung der Öl- und Gasreserven im Maghreb angewiesen. Europa muss 80% seines Ölbedarfs importieren. fast ein Drittel der Ölimporte und über 45% der Gasimporte werden von Russland gedeckt. Zwar baut die EU derzeit die Nabucco-Pipeline, die unter Umgehung Russlands Kohlenwasserstoffe aus Zentralasien über die Türkei nach Europa bringen soll, aber da einige der an dem Konsortium beteiligten Firmen auch am Bau von Leitungen mitwirken, die Moskau kontrolliert, muss man sich fragen, inwiefern diese Pipeline den russischen Einfluss auf den Energiemarkt Europas reduzieren soll. Während Berlin seine Abhängigkeit von russischen Importen reduziert und dafür verstärkt mit Algerien und Libyen kooperiert, versucht Spanien die Abhängigkeit von Algier zu mindern und Lieferverträge mit Moskau abzuschließen. Diese innereuropäischen Verwerfungen muten konfus an, mindern jedoch keineswegs den steigenden Bedarf der EU an zusätzlichen Energieimporten aus Nordafrika. Algier liefert derzeit 16% des europäischen Gasbedarfs und will die Kapazitäten ausbauen. Auch Libyen war zuletzt ein wesentliches Arbeitsfeld europäischer Energiekonzerne, die nach der Verstaatlichung der Erdölindustrie 1970 erneut auf den libyschen Markt drängen. Da die Förder- und Exportbedingungen vom staatlichen libyschen Ölkonzern diktiert werden und vergleichsweise protektionistisch anmuten, europäische Konzerne jedoch über kaum gesicherte Reserven verfügen und neue Kohlenwasserstofffunde selten sind, wurden zahlreiche Verträge mit Tripolis signiert. Libyen und Algerien gehören zu den wenigen Staaten, die regelmäßig neue Funde vermelden. Vor dem Hintergrund der Versuche der Regime ihren Machterhalt zu sichern und mittels einer Ausweitung ihrer Renteneinkünfte auf das Bevölkerungswachstum ordnungs- und finanzpolitisch adäquat reagieren zu können und sozialen Spannungen vorzubeugen, weiten beide ihre Förder- und Transportkapazitäten aus. Um den Absatz in Europa auszubauen will Algier die Fördermenge von derzeit 1,4 Millionen Barrel Rohöl täglich auf 2 Millionen steigern, die Gasförderung soll bis 2015 von 80 auf 100 Mrd. Kubikmeter pro Jahr erhöht werden.

Konsolidierung der Festung Europa

Das von der EU errichtete Migrationsregime im Mittelmeerraum wird seit Ausbruch der arabischen Revolte deutlich sichtbar. Der Ausbau der Festung Europa allein ist nicht ausreichend, um dem migrationspolitischen Diskurs adäquat zu begegnen, schließlich ruhen die Ursachen der Migration in der sozioökonomischen Lage der Entsendeländer. Dennoch zielt die Aufmerksamkeit der EU einzig auf den Ausbau der Migrationsabwehr. Insbesondere seit 2003 entfaltet sich in Europa eine bis heute ungebrochene Dynamik bei der militarisierten Aufwertung des europäischen Grenzschutzes. Zwar lehnte das EU-Parlament die 2003 erstmals formulierten Pläne zur Errichtung von Aufnahmelagern in Nordafrika strikt ab, dennoch beschlossen die EU-Innenminister 2004 den Bau solcher Lager im Maghreb. Die wiederholt vom EU-Parlament betonte Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention wurde ignoriert. Allein Tunesien unterhält 13 von Italien finanzierte Abschiebelager. 2003 schloss Rom mit Libyen ein Abkommen zur Rücknahme illegaler Einwanderer, belieferte Tripolis im Zuge des 2004 aufgehobenen Waffenembargos mit militärischen Gütern und integrierte das Land somit direkt in das europäische Migrationsregime. Seither erweiterten die größten Waffenproduzenten Europas, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, ihre Waffenlieferungen in die Dritte Welt stetig.4 Zwar sind die Exporte nach Nordafrika verhältnismäßig gering, die Steigerungsraten der letzten Jahre sind jedoch erheblich. So intensivierte Deutschland seine polizeiliche Ausstattungs- und Ausbildungshilfe in der Region und verdoppelte die Waffenlieferungen nach Ägypten von 33,6 Mio.Euro 2008 auf 77,5 Mio. 2009. Auch versucht Deutschland seit 2008 sicherheitsrelevante Ausstattung und sogar Fregatten an Algerien zu verkaufen. Die Auslagerung des Grenzschutzes in die Peripherie steht im eklatanten Widerspruch zu europäischen Menschenrechtsnormen, wird jedoch als wesentliche Säule der EU-Migrationspolitik ausgebaut. Die Militarisierung des Mittelmeerraumes ist aufgrund rechtsstaatlicher Mängel und der autoritären politischen Strukturen in Nordafrika eine Gefahr für die maghrebinische Bevölkerung, das Leben von Flüchtlingen und die Sicherheit Europas.

Die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik bezeichnete 2005 ein frühes Filtern der Migrationsströme als notwendigen Bestandteil europäischer Flüchtlingspolitik. In diesem Sinne wurde der Etat für die Kontrolle der Außengrenzen durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex kontinuierlich aufgestockt. Von 35 Mio.Euro 2007 hat sich der Etat bis 2009 fast verdreifacht. Anfangs lediglich als Instrument zur Koordinierung der gemeinsamen Bemühungen geschaffen, um die Kontrolle der Fluchtrouten gewährleisten zu können, weitet Frontex seinen Handlungsspielraum deutlich aus. Exekutivdirektor Laitinen fordert inzwischen eigenes Einsatzgerät und Personal. Bislang benennen die EU-Staaten einen Expertenpool, der im Bedarfsfall von der Agentur angefordert werden kann. Über die Koordinierung hinaus will Frontex als Grenzpolizei agieren. Diese Entwicklung birgt die Gefahr einer weiter fortschreitenden Erosion des europäischen Flüchtlingsschutzes. Die Vernetzung des EU-Grenzregimes wird unterdessen unvermindert fortgesetzt. Derweil die EU-Innenminister über die Kompetenzerweiterungen für Frontex verhandeln - die Agentur soll personenbezogene Daten von MigrantInnen speichern und verarbeiten dürfen - wird weiter am Grenzüberwachungssystem Eurosur gearbeitet, das ab 2013 alle EU-Grenzbehörden miteinander vernetzen soll. Diese technisch hochgerüstete Infrastruktur soll neben Frontex auch die maghrebinischen Partner integrieren. Angesichts der arabischen Aufstände muss abgewartet werden, inwiefern sich die neuen Regime diesen Plänen beugen. Während die neue ägyptische Regierung der EU in Sachen Migrationspolitik entgegen kommt und Abschiebungen aus der EU auf Basis der Rückführungsabkommen fortsetzt, sträubt sich die neue Regierung in Tunesien zu einem Handlanger der europäischer Abschottungspolitik zu werden. Fraglich bleibt dennoch, wie lange Tunis auf die finanziellen Zulagen aus Brüssel verzichten wird.

Mediterrane Integration oder Abschottung der Peripherie?

Bei der Migrationspolitik im Mittelmeerraum konzentrierte sich das Engagement der EU auf die Auslagerung des Migrationsregimes nach Nordafrika sowie den massiven Ausbau von Frontex. Sowohl in der Energiepolitik als auch bei der Migrationsregulierung stützt die EU wirtschaftspolitische Strukturen im Maghreb, die in dieser Form nicht aufrecht zu erhalten sind, da sie zur nachhaltigen Instabilität auf politischer und sozioökonomischer Ebene führen und nicht nur das soziale Gefüge der betroffenen Staaten destabilisieren, sondern zugleich Europa gefährden. Die EU ist auf stabile politische und gesellschaftlich prosperierende Rahmenbedingungen in ihrer südlichen Peripherie angewiesen. Die wirtschaftliche Integration Nordafrikas ist vor dem Hintergrund der protektionistischen EU-Außenwirtschaftspolitik - vor allem im Agrarsektor - lediglich ein ordnungspolitisches Vehikel zur Durchsetzung europäischer Hegemonialpolitik. Demnach fungieren die herrschaftspolitischen und wirtschaftlichen Mechanismen Nordafrikas - Staatsklassenherrschaft und Rente - als Resonanzfläche für die europäische Außenhandelspolitik. Diese ist ein wesentlicher Faktor bei der Zementierung sozioökonomischer Verwerfungen sowie eines zunehmenden gesellschaftspolitischen Konfliktpotenzials im Maghreb. Die EU ist jedoch zwingend darauf angewiesen, das wirtschaftspolitische Verhältnis zu diesen Staaten auf eine neue institutionalisierte Grundlage zu stellen, die gewährleisten muss, dass eine wirtschaftliche und politische Integration und Partizipation der maghrebinischen Bevölkerung eingeleitet wird. Die arabische Revolte wird andernfalls die Binnenwirtschaft der EU empfindlich treffen. Eine institutionalisierte Mittelmeerunion ist zwar nur ein Ansatz zur Unterstützung der Transformation gegebener politischer und wirtschaftlicher Strukturen in Nordafrika, jedoch kann eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Europa und den Maghrebstaaten die asymmetrischen Beziehungen beider Blöcke in beiderseitigem Interesse aufbrechen und neu konstituieren.

Anmerkungen

1) Lenner, Katharina, 2011: "Bilder einer Revolution"; in: analyse & kritik 558, 18.02.2011, 4

2) Schlumberger, Oliver, 2008: Autoritarismus in der arabischen Welt; Baden-Baden, 140

3) Vgl. Vobruda, Georg, 2011: "Transfer und Revolte", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2011, 85

4) Exportierten sie von 2000 bis 2003 militärische Güter im Wert von 1,9 Mrd. US-Dollar in den Nahen Osten, waren es 2004 bis 2007 bereits Waren im Wert von 23,7 Mrd. US-Dollar. Vgl. Oberansmayr, Gerald, 2009: "Kriege als Exportgut", in: Lunapark 21, Heft 5, 62



Sofian Philip Naceur ist Doktorand am Institut für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Friedens- und Konfliktforschung. Zudem ist der Autor freier Mitarbeiter bei Radio Unerhört Marburg und Mitglied bei attac und der Linkspartei.

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