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Klaus Holzkamp

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Erst Offenheit gibt digitaler Bildung Richtung

  
 

Forum Wissenschaft 4/2016; Juergen Faelchle / Shutterstock.com

Digitalisierung im Bildungsbereich gehört zu den meistdiskutierten Fragen, wenn es um Modernisierungen im Bildungswesen geht. Im Fokus der öffentlichen Debatte steht dabei vor allem eine umfassende Verbesserung der technologischen Ausstattung von Schulen. Doch der alleinige Blick auf den technischen Fortschritt ist unzureichend. Vielmehr kommt es auf offenen Zugang und freie Verfügbarkeit an, wie Leonard Dobusch und Maximilian Heimstädt erläutern.

Digitalisierung, also gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Wechselspiel mit digital-technologischer Entwicklung, ist nicht technisch-instrumentell determiniert. Während in mancher Hinsicht Digitalisierung mit verschärftem Wettbewerb und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen verbunden wird (Stichwort: Plattformkapitalismus), wird in anderen Feldern Digitalisierung als Chance für gemeinwohlorientierte Gestaltung jenseits von Märkten gesehen (Stichwort: Commons).1 Gerade im Bildungsbereich eröffnet Digitalisierung Chancen, diesen pluraler sowie egalitärer zu gestalten. Für plurale und egalitäre Bildung reicht es jedoch nicht aus, analoge Bildungsregime zu verdaten ohne am institutionellen Rahmen zu rütteln. Was nützt technische Reproduzierbarkeit von Schulbüchern, wenn das Digital Rights Management (DRM) Zugang und Verwendbarkeit behindert? Was bringt die einfache Modifizierbarkeit von Lehrmaterialien, wenn Überarbeitungen nicht mit anderen online geteilt werden dürfen? Um die technologischen Potentiale von Verdatung in gemeinwohlfördernde Digitalisierung zu münzen, benötigt dieser Gestaltungsprozess eine Stoßrichtung: Offenheit.

Beschränkungen durch Urheberrecht

Die gemeinnützige Open Knowledge Foundation beschreibt Bildung als offen, "wenn keine technischen oder rechtlichen Einschränkungen bestehen, die Schaffung, Nutzung, Weiterverarbeitung und Weiterverbreitung von Wissen durch jedermann für jegliche Zwecke behindern."2 Viele der technischen Einschränkungen des Zugangs zu Bildung haben sich durch die Verdatung von Lehr- und Lernmaterialien aufgelöst. Einschränkungen eines unzeitgemäßen Urheberrechts lassen sich durch alternative Lizenzformen wie jene für Open Source Software, für Datensätze der öffentlichen Verwaltung ("Open Data"), vor allem aber durch Creative-Commons-Lizenzen für urheberrechtlich geschützte Werke umgehen. Derart "offene Lizenzen" wenden das Urheberrecht quasi gegen sich selbst, in dem auf dessen Basis der Allgemeinheit verschiedenste Nutzungsfreiheiten ("vier Rs") eingeräumt werden: Die Freiheit zur Weiterverwendung eines Werkes ("Reuses"), die Freiheit zur Veränderung eines Werkes ("Revise"), die Freiheit ein Werk mit einem anderen zu rekombinieren ("Remix") und die Freiheit ein Werk weiterzuverbreiten ("Redistribute"). Erst mit dieser rechtlich abgesicherten Offenheit lassen sich digital-technologische Potentiale für plurale und egalitäre Bildung heben. Erahnen lassen sich diese Potentiale mit einem Blick auf eine der zentralen Bildungsressourcen unserer Zeit: der Wikipedia.

In einem weiten, aber wohl kaum weit hergeholten Verständnis bezeichnet Bildung jegliche Form der Aneignung von Wissen. Ein Beispiel für zumindest in Ansätzen plurale und egalitäre Erarbeitung wie Zugänglichkeit digitalisierter Bildung ist die Wikipedia. Nie zuvor war enzyklopädisches Wissen derart frei verfüg- und nutzbar. Entscheidend für das Funktionieren der Wikipedia ist aber nicht nur die Wiki-Technologie, es ist vor allem auch die Nutzung einer offenen Lizenz. Erst sie ermöglicht, dass die hunderttausende AutorInnen in der Wikipedia nicht erst untereinander Rechte klären müssen, wenn sie Inhalte weiterentwickeln. Mehr noch, die offene Creative-Commons-Lizenz der Wikipedia stellt auch sicher, dass das kollaborativ produzierte Wissen dauerhaft und damit nachhaltig offen zugänglich bleibt. Die offene Lizenz erlaubt auch den Einsatz von Texten, Bildern und Videos außerhalb der Wikipedia selbst, in Blogs, Präsentationen und YouTube-Videos. Vor allem aber hat die offene Verfügbarkeit zu einer Nutzungsexplosion geführt. Waren klassische gedruckte Enzyklopädien mehr ein bildungsbürgerliches und teures Statussymbol, in das kaum je ein Blick geworfen wurde, so nutzen heute nach der ARD-ZDF-Onlinestudie über 93 Prozent der 14-29jährigen zumindest gelegentlich Wikipedia.3 Von der unerreichten - und zuvor unerreichbaren - Breite und Aktualität an abgedeckten Themen ganz zu schweigen. Auch wenn die Wikipedia mit Problemen wie beispielsweise fehlender Diversität unter den Beitragenden kämpft, die Vorzüge überwiegen die Nachteile bei weitem.

Angesichts des Erfolgs der offen lizenzierten Wikipedia gerade auch als Bildungsressource stellt sich jedoch die Frage, wieso offene Lizenzen in den unzähligen und milliardenschweren Initiativen zu digitaler Bildung auf Schul- und Hochschulebene nicht einmal am Rande Berücksichtigung fanden. Stattdessen wurde vor allem in technische Ausstattung und Medienbildung investiert, an Zugänglichkeit öffentlich finanzierter Bildungsmaterialien wurde nicht gerüttelt.

Offene Bildung in der Praxis

Leuchtturmprojekte der offenen Bildung finden sich vor allem beim Blick in die USA. Bereits im Jahr 2001 startete das Massachusetts Institute for Technology (MIT) das Projekt "Open Courseware" (OCW). Im Rahmen dieses Projekts stellt das MIT seitdem Materialien aus 2150 hochschuleigenen Kursen kostenlos online zur Verfügung. Im US-Bundesstaat Kalifornien wurde 2009 die "Digital Textbook Initiative" ins Leben gerufen, die darauf abzielt, reguläre Lehrbücher durch digitale und offen lizenzierte zu ersetzen. Kurz nach Beginn dieser und anderer Initiativen prägte die UNESCO den Begriff der "Open Educational Resources" als offene (im Sinne der 4Rs) Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig. Im Sommer 2016 schließlich veröffentlichte das US-Bildungsministerium die Initiative #GoOpen. #GoOpen-Schulbezirke verpflichten sich dazu, binnen zwölf Monaten zumindest ein Schulbuch mit ausschließlich offen lizenzierten Materialien zu ersetzen sowie den Implementierungsprozess für potentielle Nachfolger öffentlich zu dokumentieren. Besonders bemerkenswert an dieser jüngsten Entwicklung: #GoOpen kooperiert mit einem neuen Projekt des US-Internetriesen Amazon. Seit kurzem können sich Lehrkräfte und Schulen in den USA unter amazoninspire.com für ein Portal für Lernunterlagen im Schulbereich anmelden. OER sollen laut Selbstbeschreibung des Projektes eine zentrale Bedeutung einnehmen. In den Nutzungsbedingungen ("Terms of Use") wird die sehr liberale Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 (CC-BY) als Standardlizenz angeführt.

In Deutschland sind OER erst in den letzten Jahren zumindest im politischen Diskurs angekommen. Laut einer Studie der Technologiestiftung Berlin vom Sommer 2016 werden inzwischen in fast allen deutschen Bundesländern verwaltungsseitig Informationen zu OER angeboten, OER in Lehrerfortbildungen thematisiert und zumindest in kleinem Maßstab offene Lehr- und Lernmaterialien über Lernmittelplattformen bereitgestellt.4 Bislang völlig unangetastet blieben jedoch die eingefahrenen, auf klassisch-gedruckte Schulbücher abstellenden Strukturen von Lehr- und Lernmittelfinanzierung. Trotz mehrheitlich öffentlicher Finanzierung, sei es über Steuergelder oder Elternbeiträge, sind so Schulbücher nicht offen digital verfügbar.

Dabei wäre das Transformationspotential von verstärktem Einsatz offener Lizenzen für öffentlich finanzierte Lernunterlagen beträchtlich. Durch OER wird Lehrenden wie SchülerInnen ermöglicht auf Materialien zusätzlich zu denen von der Schule angeschafften zurückzugreifen. In jeder Lehreinheit kann ein Kapitel aus einem anderen Buch genutzt werden. Arbeitsblätter müssen nicht mehr zwingend als Gesamtpaket erworben werden, sondern Lehrende können je nach Lehrkontext bestehende Arbeitsblätter abändern, kombinieren und angereichert mit ihren KollegInnen teilen. Hierdurch erweitert sich nicht nur die didaktische "Klaviatur" der Lehrenden, außerdem könnten offen lizenzierte und somit frei verfügbare Schulbücher ein Gegengewicht zu kostenfreien und lobby-finanzierten Lernmaterialien im Netz bilden. So unterscheiden sich einer Analyse der Verbraucherzentrale Bundesverband aus dem Jahr 2014 zufolge die Qualität der Angebote je nach Herausgeber deutlich. Wurden diejenigen aus öffentlicher Quelle sowie von zivilgesellschaftlichen Organisationen überwiegend als "sehr gut" oder "gut" bewertet, erzielte nur ein Drittel der von Unternehmen und wirtschaftsnahen Verbänden bereitgestellten Materialien dieses Ergebnis. Noch deutlicher war das Ungleichgewicht der als "mangelhaft" bewerteten Materialien, die zu 74% von wirtschaftsnahen Herausgebern stammen. Neben didaktischen Schwächen leiden diese Materialien unter anderem auch an Verletzungen des Kontroversitätsgebotes, also der kontroversen Darstellung gesellschaftlich umstrittener Themen.5

Hinzu kommt der einfachere Zugang auch jenseits von Klassen und Konferenzzimmern. In Berlin ist rund ein Drittel der SchülerInnen "lmb". Das schulbürokratische Kürzel steht für "lernmittelbefreit" und bedeutet somit, dass das Kind aus einer Familie kommt, der die an die Schule zu zahlende Jahrespauschale für Schulbücher nicht zugemutet werden kann. Der Elternbeitrag wird daher von der öffentlichen Hand getragen. Die Kehrseite dieser Maßnahme ist jedoch, dass die Anschaffung all jener Lernunterlagen, die nicht von der Pauschalabgabe abgedeckt sind, zum Problem für "lmb-Familien" werden und SchülerInnen das neue Schuljahr im Zweifel ohne neue Ausgabe des Englischbuches beginnen müssen. Einschränkungen, die mit offenen Lizenzen für öffentlich finanzierte Lernunterlagen substantiell reduziert werden könnten.

Die Mühen der Ebene

Widerstand gegen den Einsatz offener Lizenzen im Rahmen öffentlicher Lernmittelfinanzierung kommt vor allem von Seiten der Bildungsmedienverlage. Offene Lizenzierung von Schulmaterialien bedeutet jedoch keineswegs das Ende von Schulbuchverlagen. Deren Kompetenzen hinsichtlich AutorInnenbegleitung, graphisch-didaktischer Aufbereitung und, wenn auch in neuer Form, Vertriebs sind weiterhin notwendig und werden auch in Zukunft vergütet werden müssen.

Zentrales Moment für den Durchbruch von OER in der Fläche sind neue Formen der Finanzierungsabwicklung, die mit OER-Ansätzen kompatibel sind und damit auch professionellen Anbietern die Nutzung offener Lizenzen ermöglichen. Die derzeitige Form der Lernmittelfinanzierung stammt noch aus prädigitaler Zeit und ist ganz auf das gedruckte Buch ausgerichtet. Deshalb zögern Verlage auch, OER-Lernunterlagen anzubieten, weil sie - wohl zurecht - befürchten, nicht mehr genug am Verkauf gedruckter Bücher zu verdienen, wenn die Unterlagen digital frei verfügbar sind. Neue Finanzierungsmodelle müssen demnach offene Lizenzen möglich machen ohne das Kerngeschäft von Bildungsmedienverlagen - die Aufbereitung hochwertiger Bildungsinhalte - zu untergraben.

In einer Studie der Technologiestiftung Berlin wurde exemplarisch ausgeführt, wie ein mit OER kompatibles Finanzierungsmodell aussehen könnte.6 In einem ersten Schritt legt das Bildungsministerium des Landes einen Kriterienkatalog für ein OER-Lernmittel fest und informiert ausreichend über die Anforderungen der Lehrplankonformität. Nachdem der Kriterienkatalog veröffentlicht wurde, reichen interessierte Anbieter Konzepte und Kostenprojektionen ein, die vom Bildungsministerium begutachtet werden und jene Anbieter ausschließen, deren Konzepte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zertifizierbar sind. Aus den Kostenprojektionen folgt eine Mindestzahl an SchülerInnenbeiträgen, die für die erfolgreiche Finanzierung und damit die Erstellung des Lernmittels erforderlich ist. Diese (Vor-)Finanzierung von OER-Lernmitteln folgt dabei einer Crowdfunding-Logik: nur wenn sich genügend Schulen zur Kostenbeteiligung verpfichten, werden die Lernmittel überhaupt erstellt. Sollte die Mindestzahl der SchülerInnenbeiträge nicht erreicht werden, erfolgt die Beschaffung einer Zweitwahl (in der Regel also eines herkömmlichen Schulbuchs). Liegen die vom Bildungsministerium bestätigten Konzepte und Kostenprojektionen für OER vor, können die einzelnen Schulen intern und autonom entscheiden, ob ein Teil ihres Lernmittelbudgets auf die Erstellung von OER verwendet werden soll. Es kommt nach diesem Modell also nicht zu einer zentralen Ausschreibung der Erstellung von Lernmitteln, sondern das bestehende Modell der Lernmittelbeschaffung wird für OER-Vorfinanzierung geöffnet. Wurde ein OER-Lernmittelprojekt einmal erfolgreich umgesetzt, kann dieses in Folgejahren zu deutlich kleineren Summen aktualisiert werden. Aktualisierungsangebote werden genauso wie Angebote zur Neuerstellung in wettbewerblichen Verfahren mit Mindestfinanzierungssummen durchgeführt.

Eine derartige Reform öffentlicher Lernmittelfinanzierung würde schließlich überhaupt erst die Voraussetzungen für nachhaltige OER-Geschäftsmodelle schaffen. Auch traditionelle, buchbasierte Geschäftsmodelle im Bereich Lernmittelerstellung sind auf Zugang zu öffentlichen Geldern angewiesen. Ebendieser Zugang bleibt OER-Geschäftsmodellen in Deutschland bislang verwehrt.

Hochschulen: Offen ist nicht gleich offen

Auch im Hochschulbereich lässt sich beobachten, wie der Zugang zu kodifizierbarem Wissen niederschwelliger wird. Bereits zur Jahrtausendwende begann das MIT damit, Unterlagen ganzer Kurse unter einer offenen Lizenz frei zugänglich zu machen. In weiterer Folge begannen prominente Universitäten wie Harvard oder Stanford damit, auch die Teilnahme an Online-Kursen ("Massive Open Online Courses", MOOCs) ohne Aufnahmeselektion zu ermöglichen.

Wenig Zweifel besteht daran, dass MOOCs bisherige Bildungsregimes zu Teilen umformen. Bildungsinhalte können zeit- sowie ortssouverän in Anspruch genommen werden. In gewisser Weise tragen MOOCs damit auch zu pluraler und egalitärer Bildung bei: Hatten Studierende zuvor abseits von Nebenfächern oder einem seltenen "Studium generale" nur stark eingeschränkte Möglichkeiten Vorlesungen aus anderen Studiengängen zu hören (ganz abgesehen von bürokratischen Hürden schon ganz allein aus zeitlicher Kollision) bieten MOOCs die Möglichkeit, sich einen eigenen Vorlesungsmix als abendliche Netflix-Alternative zusammenzustellen. Das "Open" in MOOCs ist jedoch ein völlig anderes als das "Open" in OER. Auch digital und mit Bildungsbezug sind MOOCs nicht notwendigerweise auch freie Bildungsmaterialien im Sinne von OER. Open meint lediglich, dass der Zugang nicht durch Zulassungsverfahren wie bei US-Universitäten üblich eingeschränkt ist. Die Inhalte und Materialien von MOOCs sind in der Regel restriktiv lizenziert.

Kostenfreie MOOCs sind nämlich nicht unbedingt offene MOOCs. MOOCs können - ganz in Anlehnung an das berühmte Motto aus der Open Source Software Bewegung - zwar frei im Sinne von Freibier, allerdings unfrei im Sinne der oben beschriebenen 4Rs sein (Reuse, Revise, Remix, Redistribute). Erst wenn mit einer Lizenz, beispielsweise der Creative Commons CC-BY-SA, versehen wird aus einem kostenlosen MOOC ein offener MOOC. Wie Bildungsforscher Markus Deimann bemerkt: "Diese Freiheit zur Modifikation von Materialien ist eine zentrale Voraussetzung digital-gestützter Bildung und wird von den mittlerweile oft kommerziell angebotenen MOOCs nicht unterstützt."7

Auch sind MOOCs nicht unbedingt kostenfrei. MOOCs werden nicht nur von öffentlich finanzierten Bildungseinrichtungen direkt, sondern vermehrt von privatwirtschaftlichen Organisationen angeboten, die darin ein Geschäftsmodell erkennen. In den vergangenen Jahren haben Anbieter wie das US-amerikanische Coursera mit verschiedenen Umsatzquellen experimentiert. Zum einen wurde versucht, die Plattform als Recruiting-Instrument für Firmen zu vermarkten. Zum anderen wurden die MOOCs Lernenden als "Freemium"-Modell angeboten. Hierbei kann der Kurs zwar kostenfrei besucht werden, ein Zertifikat von einer der Partneruniversitäten wird jedoch nur gegen eine Gebühr ausgestellt.

Neben dem restriktiven Offenheitsbegriff von MOOCs und der mit ihnen verbundenen Stärkung von Kommodifizierungstendenzen im Bildungsbereich ist auch das Versprechen von demokratisierter Bildung á la "Mit MOOCs studieren alle in Harvard!" eine Illusion. Im Gegenteil, MOOCs machen deutlicher denn je, dass der Wert des Besuchs von Elite-Universitäten nur zu einem sehr geringen Maße im dort vermittelten Wissen besteht. Wovon Harvard und Harvard-AbsolventInnen in erster Linie profitieren, ist das mit der Zulassung verbundene Prestige und das persönliche Netzwerk aus Lehrenden und KommilitonInnen vor Ort. So haben die britischen Organisationsforscher Dacin, Munir und Tracey sehr eindrücklich nachgezeichnet, wie an der University of Cambridge Zugang zu und Selbstverständnis als Gesellschaftselite besonders von Interaktionen außerhalb der Vorlesungen und abseits etwaiger Prüfungsleistungen, sondern beispielsweise in den traditionsschwangeren Ritualen rund um gemeinsame College Dinners reproduziert werden.8 Aus diesen Gründen ist es auch so, dass Institutionen wie Universitäten durch offeneren Zugang zu Lernmaterialien und Online-Kurse in ihrer Existenz nicht bedroht sind. Sie waren, sind und werden immer viel mehr sein als bloße Wissensvermittlungseinrichtungen.

Letztlich ist es die große Sichtbarkeit und Reputation von "Elite-Universitäten" wie Stanford oder Harvard, die deren MOOCs bisweilen zu Blockbustern werden lässt. Die ohnehin bereits bestehende Diskurshoheit einiger weniger, meist US-amerikanischer Universitäten wird dadurch noch unmittelbarer wirksam. In dem Maße, in dem an anderen Universitäten Vorlesungen durch MOOCs dieser Universitäten ersetzt werden, mag dies zwar zu einer technisch-instrumentell hochwertigen Ausbildung beitragen, gleichzeitig jedoch einem Theoriemonismus oder zumindest der Verfestigung der ohnehin schon ausgeprägten Diskursmacht prestigeträchtiger Institutionen wie Harvard, Stanford, oder dem MIT Vorschub leisten. Ein praktisches wie aktuelles Beispiel für dieses Spannungsverhältnis: Die ökonomische Lehre an US-Eliteuniversitäten ist stark im neoklassischen Theorie- und Methodenmainstream verwurzelt. Je breiter diese MOOCs somit von Studierenden oder vielleicht sogar Studieninteressierten rezipiert werden, desto wahrscheinlicher reproduziert sich ebendieser Mainstream und desto stärker rücken alternative Denkschulen in den Hintergrund.

Digitale Potenziale ausschöpfen

Um also auch im Hochschulbereich digitale Potenziale für plurale und egalitäre Bildung auszuschöpfen, gilt es den Gestaltungswillen vor allem auf Offenheit im Sinne von OER (und weniger auf die Produktion von nur sehr eingeschränkt offenen MOOCs) zu lenken. Im Hochschulbereich stellen sich einige dem Schulbereich ähnliche und einige spezifische Probleme. Ein ähnliches Problem liegt in den nicht geringen Anschaffungskosten für Lehrbücher im Hochschulbereich. Zwar sollten theoretisch alle benötigten Bücher auch als E-Book oder zur Ausleihe bereit stehen, doch haben alltagspraktisch viele Bibliotheken Probleme mit der Bereitstellung von E-Books. Bestandskopien sind vor allem in Prüfungszeiten oft vergriffen. Ein grundlegenderes Spannungsverhältnis, das von der Open-Access-Bewegung bereits seit den späten 90er-Jahren thematisiert wird, liegt darin, dass wissenschaftliche Publikationen (z.B. Zeitschriftenbeiträge, Sammelbandkapitel, Lehrbücher) von staatlich finanzierten Stellen aus verfasst, der Öffentlichkeit und sogar der Hochschule selbst jedoch nur gegen Zahlung an private Bildungsverlage zugänglich sind. Neue Finanzierungsmodelle für offen lizenzierte Lehrbücher würden also hier - analog zum Schulbereich - potenzielle Bildungshürden abbauen.

Im Unterschied zum Schulbereich sind die zentralen Steuerungsmöglichkeiten im Bereich der Hochschullehre sehr begrenzt. Umso wichtiger ist es daher, auf Anreize wie Wettbewerbe zu setzen. Vor allem wäre es sinnvoll, Exzellenzmittel auch für die Lehre zu widmen und diese Finanzierung an die Nutzung offener Lizenzen zu koppeln. Denn erst durch die offenen Lizenzen ist die nachhaltige und öffentliche Verfügbarkeit geförderter Lehr- und Lernunterlagen sichergestellt. Gleichzeitig wäre durch Förderung von OER-Lernmaterialien ein höherer Stellenwert der Lehre ganz allgemein verbunden.

Jedenfalls aber gilt auch für den Bildungsbereich, dass mit bloßer Digitalisierung noch nichts gewonnen ist. Die Potenziale digitaler Technologien für plurale und egalitäre Bildung sind erst durch politische Förderung digitaler Offenheit zu realisieren.

Anmerkungen

1) Felix Stalder 2016: Kultur der Digitalität, Berlin.

2) okfn.de/mission/.

3) www.ard-zdf-onlinestudie.de/.

4) www.technologiestiftung-berlin.de/de/top-themen/work/open-educational-resources/oer-in-deutschland/.

5) www.verbraucherbildung.de/verbraucherwissen/unterrichtsmaterialien-als-werbeplattform.

6) www.technologiestiftung-berlin.de/fileadmin/daten/media/publikationen/140514_Studie_OER.pdf.

7) netzpolitik.org/2015/viel-ueber-moocs-nichts-ueber-oer-markus-deimann-ueber-das-bildungskapitel-im-efi-jahresgutachten/.

8) M. T. Dacin, K. Munir & P. Tracey 2010: "Formal dining at Cambridge colleges: Linking ritual performance and institutional maintenance", in: Academy of Management Journal, 53(6): 1393-1418.

Leonhard Dobusch, Betriebswirt und Jurist, forscht als Universitätsprofessor für Organisation an der Universität Innsbruck u.a. zum Management digitaler Gemeinschaften und transnationaler Urheberrechtsregulierung. Maximilian Heimstädt arbeitet am Institut für Management der Freien Universität Berlin an einer Dissertation zu Verwaltungstransparenz und institutionellem Wandel. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung an der Universität Witten/Herdecke und Projektmitarbeiter am Institut für Organisation und Lernen der Universität Innsbruck.

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