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Klaus Holzkamp

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Fit für den Weltmarkt

15.02.2004: Die EU-Integration als europäische Antwort auf die Globalisierung

  
 

Forum Wissenschaft 1/2004; Titelbild: E. Schmidt

Der Prozess der EU-Intergration ist seit jeher von harten Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Aktuell wird um die Verabschiedung einer europäischen Verfassung gestritten. Dabei steht vor allem der Konflikt um die Stimmverteilung im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gisela Kremberg plädiert für einen viel weitgehenderen Streit. Mit der Verabschiedung der Verfassung in ihrer jetzigen Form, so ihre Einschätzung, werden die Weichen nahezu unumkehrbar für ein neoliberales, militärisches und hierarchisches Europa gestellt. Sie fordert deshalb einen offen ausgetragenen »Richtungskampf« und plädiert für einen breiten Widerstand.

Der Kurs der Festung Europa steht schon lange im Zeichen des Rüstens für die Triadenauseinandersetzung mit den USA und Japan/Asien. Europa macht sich fit für die globalisierte Schlacht um die Töpfe, um Einflusssphären und um Märkte - sei es durch das Schengener Abkommen und Europol, den einheitlichen Binnenmarkt und Wirtschaftsraum, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), oder der gemeinsame Militärpolitik. Dabei geht es auch um die Neuverteilung bisher noch nicht verteilter Pfründe z.B. aus der ehemaligen »Zweiten Welt«, der realsozialistisichen. Für diese Ambitionen ist es ein großer Vorteil, dass mit der EU-Osterweiterung ein großer Teil der betroffenen Staaten schon heranrückt; weitere, wie z.B. Bulgarien und Rumänien, stehen bereits in der Warteschleife. Dafür nimmt die EU auch »gern« die Lasten in Kauf, die die bisherige Ungleichentwicklung mit sich bringen wird. Denn schließlich werden ja die EU-SteuerzahlerInnen die Kosten zu tragen haben. Es geht aber auch um den Einfluss in den Ländern der sog. Dritten Welt, wie sie sich nach dem Zusammenbruch der Blockkonfration nach 1989/90 neu (oder auch noch nicht neu) geordnet haben. Dabei wird nach profitablen Regionen und Märkten sortiert und das Schüren neuer Konflikte, das Aufbrechen alter Allianzen oder das Plattmachen starrhalsiger Staaten (siehe Irakkrieg) kann dabei sehr nützlich sein. Schließlich ist ein straff organisierter und durchstrukturierter EU-Mechanismus vonnöten, der Gewicht und Macht, aber auch ein Höchstmaß an Flexibilität in den Instrumenten besitzen muss, um die globale Schlacht zu bestehen, so sehen es jedenfalls die MacherInnen.

Die rührige Absicht, mit Hilfe einer europäischen Integration zum Nutzen der einzelnen Nationalstaaten Kräfte zu bündeln und zu potenzieren, reicht da allerdings nicht mehr aus. Ballast muss über Bord geworfen werden und das sind in diesem Sinne zahlreiche kulturelle, soziale, politische Errungenschaften. Das geht nicht ohne Auseinandersetzungen, Widersprüche, Kontroversen und Punktsiege in allen Teilbereichen des »Fitnessprogrammes« ab.

Zentrale Kampfarena, in der die verschiedenen innereuropäischen Positionen um die Neujustierung der EU zu Tage treten, ist derzeit die Debatte um eine eigenständige Verfassung der EU. Ein (umstrittener) Entwurf dafür liegt vor, geplant ist deren Verabschiedung im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz am 9. Mai.

Nachdem ich zunächst auf einzelne Dissenzpunkte innerhalb der EU eingehen werde, die neben der Verfassungsdiskussion zu Auseinandersetzungen führten und führen, soll sich der Beitrag im Folgenden auf die Verfassungsdiskussion konzentrieren.

Innereuropäische Widersprüche

Die innereuopäischen Widersprüche beim Thema europäischer Binnenmarkt (seit 1992) hielten sich bei der grundsätzlichen Debatte noch in Grenzen. Es überwog die übergeordnete Hoffnung, durch den freien Zugang Kosten zu sparen und damit profitabler für die jeweiligen nationalen Wirtschaften zu sein. Bei der konkreten Umsetzung jedoch flammten immer wieder die nationalen Wirtschaftsinteressen und Befindlichkeiten auf. Die daraus resultierenden Konflikte konnten bisher zumeist entsprechend der jeweiligen Lobby durch Ausgleichszahlungen, Subventionen, Entschädigungen, Beitragssenkungen usw. behoben werden.

Bei der Diskussion um die europäische Währungsunion (1998 beschlossen, seit 2002 umgesetzt) wurde dann schon eher deutlich, wo ein zentraler Konflikt liegt, nämlich in der Frage der Souveränitätsverschiebung zu Gunsten des supranationalen Zusammenschlusses. Traditionell wird die Aufgabe einer eigenen Währung eng verbunden mit einem Verlust der nationalen Unabhängigkeit gesehen. Einige Länder, wie Großbritannien und die skandinavischen Länder, sahen diese gefährdet und schlossen sich der Währungsunion nicht oder nicht sofort an. Wie stark die nationale Souveränitätsaufgabe ist, macht aktuell die Bindung der nationalen Haushalte an die Stabilitätskriterien deutlich. Im November vergangenen Jahres konnten auch wir den neuen Grad an Spannungen und Widersprüchen des EU-Konstruktes erleben, als es Deutschland und Frankreich gelang, trotz mehrfacher Verletzung dieser Stabilitätskriterien ungeschoren davon zu kommen. Das gelang nur, weil Deutschland wie auch Frankreich zu den großen Staaten der EU gehören und daher meinen, sich Sonderrechte herausnehmen zu dürfen. Dies hat ein schon immer dagewesenes latentes Spannungsfeld ausgemacht: nämlich die Auseinandersetzung zwischen den großen und den kleinen Staaten und den Aufbruch von Paritäten, wenn es den großen Staaten nötig erscheint.

Weitere Konflikte betreffen die Innenpolitik und lassen sich an den Auseinandersetzungen um das Schengener Abkommen festmachen. Ebenso gab es entsprechend der unterschiedlich gestalteten Asylgesetzgebung, die zum Schengener Abkommen kompatibel gemacht werden mussten, Auseinandersetzungen, da erkämpfte Zugeständnisse zu einer liberalen Asylpolitik unter dem Gemeinschaftsdruck zurückgefahren werden mussten. Das ist insbesondere stark in Frankreich passiert und dasselbe haben wir auch in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit erleben müssen - trotz einer angeblich zuwanderungsfreundlichen Regierung. Zur Befriedung dieser Debatte taugte das Argument, dass sich die Außengrenze im Zuge der Erweiterung verschieben werde, und die sog. Drittstaatenregelung, die durch das Versprechen einer besseren polizeilichen Zusammenarbeit und der Unterstützung auf diesem Gebiet erkauft wurde. Außerdem gab es immer wieder Versuche in diversen Verträgen und Abkommen solche Regelungen unabhängig von einem bestehenden Zusammenhang einzubauen, so z.B. in dem Verhandlungsmandat zum Rahmenabkommen zum Lomè-Folgeabkommen zur Regelung der Beziehungen zwischen der EU und den sog. AKP-Staaten (das sind - seit den Römischen Verträgen - in besonderer Form »assoziierte« Staaten Afrikas, Lateinamerikas und des Pazifiks, die ehemals Kolonien einzelner europäischer Staaten waren), dem Vertrag von Cotonou oder auch in bilateralen Investitionsschutzabkommen bzw. Freihandelsabkommen.

Ein weiteres Thema, das spätestens seit Ende der Blockkonfrontationn 1989/90 an Bedeutung gewonnen hat, ist das Vorhaben, eine Gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu gestalten. Auch wenn die Diskussion etwas in den Hintergrund gerückt wurde, weil sie aufgrund des abhanden gekommenen Feindes gegenüber der Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar war, ist eine Kontinuität festzustellen: 1992 beschlossen erstmals die Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedsstaaten, Verantwortung in sicherheits- und außenpolitischen Fragen an die EU zu übertragen. Es wurde ein Prozess "der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik"1 eingeleitet. Miltiärdoktrinen wurden erst national, dann europaweit neu definiert: Handlungsspielräume werden nun bei humanitären Rettungseinsätzen gesehen, in Bezug auf friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedensschaffender Maßnahmen. Unter deutscher Präsidentschaft wurde 1999 auf dem Gipfel in Köln der Aufbau einer europäischen Militärmacht beschlossen. Ende 2000 fiel die Entscheidung über die Führungsstruktur und den Umfang des Streitkräftepotentials (Ziel: 100.000 SoldatInnen, 400 Kampfflugzeuge und 100 Schiffe). Dieser gesamte Prozess wurde von Auseinandersetzungen innerhalb der NATO, aber auch innereuropäischen begleitet. Hauptgegner dieser Politik waren von Anfang an kleine Staaten und die um ihre Neutralität bangenden Staaten wie Österreich, das inzwischen der EU beigetreten ist. Auch in der Schweiz wurde eine umfassende Diskussion ausgelöst, die durch die Verfassungsdiskussion neuen Auftrieb erhielt. Vom Selbstverständnis her gehörten die skandinavischen Länder immer zu den Gegnern dieses von Großbritannien, Deutschland und dann auch Frankreich betriebenen stringenten Voranschreitens. Die Außenminister Schwedens und Finnlands wagten im Zusammenhang mit der Verfassungsdiskussion diesbezüglich erst im November 2003 einen weiteren Vorstoß mit einer gemeinsamen Erklärung, die sich gegen die Bereitstellung militärischer Kapazitäten, gegen das Alleinentscheidungsrecht der Kommission und gegen einen möglichen Missbrauch des Labels EU für Militäreinsätze wendet.

Ein oft in Vergessenheit geratenes Konfliktfeld ist im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit das Abkommen von Cotonou. Das seit 2002 vorliegende Partnerschaftsvertragswerk stellt das Nachfolgevertragswerk zu den fünf sog. Lomè-Abkommen dar, die seit 1971 die besonderen Beziehungen zwischen der EU und den nunmehr 81 AKP-Staaten regeln und zahlreiche Vorzugsregeln für diese Staaten geschaffen haben, ohne jemals nur am klaren Vorteilsverhältnis zugunsten der EU gerüttelt zu haben. Bei der Ausarbeitung der konkreten regionalen Partnerschaftsabkommen wird sich entscheiden, welche Verbündete sich die EU gegenüber den USA schaffen kann. Die USA sind bereits seit einigen Jahren dabei, eine von ihnen dominierte gesamtamerikanische Freihandelszone zu schaffen. Diese scheinbaren Nebenkonfliktlinien dürfen nicht übersehen werden, weil sie einerseits immer noch die postkolonialen Sonderbeziehungen verschiedener EU-Mitgliedsländer zu ihren ehemaligen Kolonien transportieren, was EU-weit immer wieder zu Konflikten führt. Andererseits sind sie auch von Bedeutung, weil sie die weiteren Auseinandersetzungen um Liberalisierung und Deregulierung im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) flankieren und beeinflussen können. Hier entscheidet sich auch, ob es gelingt sog. Entwicklungsländer gefügig zu machen oder ob bei weiteren WTO-Verhandlungen mit zusätzlichen unsicheren Kandidaten wie der »Gruppe der 20« zu rechnen ist (das ist eine Gruppe von mehrheitlich großen Entwicklungs- und Schwellenländer, die die Globalisierungsrunde der WTO in Cancun zum Scheitern gebracht hat). Denn diejenigen, die in der WTO und in anderen internationalen Institutionen und Gremien (z.B. Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF)) die neoliberale Gloalisierung vorantreiben und Themen setzen, sind hauptsächlich die USA und die EU. Es ist darüber hinaus von Bedeutung, dass auch das seit 1995 bestehende einheitliche Verhandlungmandat der EU gegenüber der WTO nur über das Austragen großer Interessengegensätze im Vorfeld einer jeden Verhandlungsrunde zu Stande kommt. Und selbst da kommt es noch einmal darauf an, welche MinisterInnen die Themen verhandeln und welche Lobby hinter ihnen steht: Sind es die WirtschaftsministerInnen der Länder, sind es die EntwicklungsministerInnen oder die HandelsministerInnen? Auffällig wird das gerade in Fragen des Nord-Süd-Gefälles. Hier lassen sich das Bemühen und die Ansagen von EntwicklungsministerInnen sehr wohl als positive Absichten herausstellen. Entscheidend jedoch ist, welches Minsiterium in der Sachfrage die Kompetenzhoheit gewinnt. Erst dann kommen die nationalen Interessengegensätze bei der Mandatsaushandlung der EU im Rahmen der WTO zum Tragen. Auch hier liegen Ursachen für die bisher geringen Fortschritte in Fragen der Entwicklung, Entwicklungsfinanzierung, aber auch der Landwirtschaft und des Subventionsabbaus.

Gravitationszentrum Europa

In diesem Jahr werden durch die anstehende Osterweiterung zu den 15 bisherigen Mitgliedsstaaten 10 Staaten hinzukommen. Bulgarien und Rumänien stehen für eine Aufnahme 2007 in der Warteschleife, die Türkei hofft darauf, bald dazu zu gehören und die Assoziationsprozesse sind im vollen Gange. Auch in diesem Erweiterungsprozess werden Konflikte sichtbar. Auf der einen Seite stehen Länder, die nach einem »Kerneuropa« rufen, nach einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Auf der anderen Seite wissen die schwächeren Glieder in der EU-Kette (Spanien, Portugal, Griechenland und Irland) aus eigener Erfahrung mit hart abgerungenen Anpassungszugeständnissen und Transferleistungen nur zu gut, was neue, z.T. wirtschaftlich wesentlich schwächere Mitglieder, wie das bei den Staaten Mittel- und Osteuropa der Fall ist, am Topf der EU bedeuten. Während bei bisherigen Erweiterungsrunden noch Struktur- und Regionalfonds zur Verfügung standen und diese jeweils substantiell erhöht wurden, ist für die nun größte und wahrscheinlich einschneidendste Runde nichts dergleichen vorgesehen. Verantwortung dafür tragen die großen Länder, insbesondere Deutschland, das sich zwar dringlich für die Osterweiterung eingesetzt hat, sich aber anderseits vehement dagegen gesperrt hat, Transferleistungen für deren Landwirtschaft oder die sehr schwachen Industrien einzuplanen. Das Memorandum der Euromemo-Ökonomen sagt eine dramatische Zunahme von regionalen Disparitäten und damit heftigen innereuropäischen Konfliktstoff voraus.2 Dafür spricht z.B. die Tatsache, dass sich mit der anstehenden Osterweiterung die EU-Bevölkerung in Regionen mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter 75% des derzeitgen EU-Durchschnitts mehr als verdoppeln wird.

Ein weiterer Aspekt, der sich seit Rom aber vor allem mit den einsetzenden Erweiterungsrunden und in Erwartung der Osterweiterung wie ein Faden durch die offiziellen Debatten zieht, ist die Diskussion um ein »Kerneuropa«. Diese Diskussion wurde Anfang der 1990er Jahre von konservativen PolitologInnen und PolitikerInnen, u.a. Wolfgang Schäuble, vorangetrieben. Im Zusammenhang mit den Erweiterungen und der anstehenden Verfassungsdiskussion wurde diese Idee wieder aufgegriffen, insbesondere in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Jürgen Habermas und Jaques Derrida dachten öffentlichkeitswirksam darüber nach, dass wohl einstweilen nur die kerneuropäischen Mitgliedsstaaten bereit seien, der EU staatliche Qualität zu verleihen.3 Inzwischen wird von den führenden PolitikerInnen Deutschlands und Frankreichs ein kerneuropäisches Konzept verfolgt und sogar als Drohpotential gegen die kleinen Mitgliedsstaaten und die »Neuankömmmlinge« benutzt. Nicht nur aus Ärger über die nicht erfolgreich abgeschlossene Regierungskonferenz der EU im Dezember 2003 spricht Joschka Fischer von einem "Gravitationszentrum Europa", in dem wohl nur einige wenige vorangehen könnten.4

Im Folgenden werde ich auf die Diskussion um die europäische Verfassung ausführlicher eingehen. Diese schließt viele der oben erwähnten Aspekte ein und bildet m.E. derzeit den Schwerpunkt der Auseinandersetzungen innerhalb der EU. Im Dezember 2003 ist der vom europäischen Konvent5 ausgearbeitete Verfassungsentwurf bei der Regierungsverhandlung gescheitert. Er soll nun im Mai 2004 von der Regierungskonferenz beschlossen werden und noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni per Referendum in den Ländern Gesetzeswirklichkeit werden. Höchste Zeit also, sich den Verfassungsentwurf einmal näher anzusehen und die Konfliktlinien herauszuarbeiten. Vielleicht kann es gelingen, politische, wissenschaftliche, parlamentarische und außerparlamentarische AkteurInnen aufzuklären, um gemeinsam dafür einzutreten, dass uns keine Verfassung übergestülpt wird. Es besteht die Gefahr, dass die Verfassung gleich einem Korsett die EU enger schnürt in Richtung Neoliberalismus, Militarisierung, Zentralisierung, Demokratie- und Sozialabbau. Die Verabschiedung dieser Verfassung würde die Türen für Alternativen zu vernünftigen, fairen Entwicklungen und Entscheidungen verschließen.

Festschreibung der neoliberalen Globalisierung

Bei der EU-Verfassung geht es nicht nur um die Art der Verfasstheit und damit um den Status der einzelnen EU-BürgerInnen in einem Staatenbund (gegenwärtig) oder in einem Bundesstaat (Förderation). Es geht auch um die Festschreibung und Durchsetzung der EU als Gegen-Militärmacht, als Supermacht, es geht um die Festschreibung des Neoliberalismus als Entwicklungskonzept für bald 30 Staaten und wesentlich mehr Völker. So sprach der deutsche Außenmnister Fischer bereits im Jahre 2000 von der Zielsetzung: "Mit dem lockeren Geflecht des Staatenverbundes werden wir im Zeitalter der Globalisierung keine Wirkung erzielen."6 Dies kommt auch im z.Z. debattierten Verfassungsentwurf zum Tragen.

Die zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen, die faktisch zum Scheitern des Verfassungsentwurfs geführt haben, sind die um den »Platz an und für sich und die Größe des Tellers« eines jeden und potentiellen Mitgliedsstaates am globalisierten EU-Tisch. Leider ist die Ausrichtung der EU in Richtung neoliberaler Globalisierung bisher nicht der Punkt, um den gestritten und verhandelt wird. Um diesen zentralen Konflikt zu thematisieren, bedarf es in den nächsten Monaten zahlreicher Impulse, Auseinandersetzungen und Mobilisierungen seitens der zivilgesellschafltichen Ebene, von WissenschaftlerInnen, von sozialen Bewegungen u.a.

Das ist deswegen von so immenser Bedeutung, weil mit der Verfassung ein dauerhafter rechtlicher Rahmen für die neoliberale Globalisierungspolitik der EU geschaffen wird, aus dem dann kein alternatives Ausbrechen mehr möglich sein wird. Indem die Souveränität und Macht in wesentlichen und grundsätzlichen Fragen an den EU-Ministerrat bzw. an die Kommission übergeben wird, geben die Nationalstaaten das Ruder aus der Hand und küren den Rat zum Steuermann, der das gesamte Schiff Europa in den Wogen der Globalisierung zu fragwürdigen und gefährlichen Manövern führen kann. Einzelne Mitgliedsländer können dabei auch komplett zum Verlierer der Globalsierung werden und nicht nur bestimmte Gruppen der Bevölkerungen, die schon jetzt deutlich in jedem Mitgliedsland zu den Verlierern gezählt werden müssen: AsyberwerberInnen, Frauen, Arbeitssuchende, immer größere Teile der Arbeitnehmerschaften.

In den Kernaussagen der geplanten Verfassung wird deutlich, wohin die Reise gehen soll: es geht darum, die EU als eine »Supermacht« aufzubauen und sie zu einer weltweiten militärischen Interventionsmacht umzubauen, die fit ist für die entscheidenden Triadenauseinandersetzungen. Diesen Zielen wird alles andere erbarmungslos untergeordnet. Notwendige Folgen dieser Zielrichtung sind das klare Bekenntnis zum Neoliberalismus, Militärausbau als Grundsatz, die Unterordnung von Beschäftigungpolitik unter die Belange der Wirtschaftspolitik, die Stärkung der Exekutive auf Kosten von Demokratie,Transparenz und Mitbestimmungsrechten und ein Bedeutungsverlust der mühsam erkämpften Grundrechtecharta. Der vorliegende Verfassungsentwurf erklärt den Ausbau der EU zur Militärmacht wie folgt: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art I-40).7 Das Ganze soll unter europäischer Hoheit mit einem "Europäischen Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" erfolgen, das "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" durchsetzen soll (Art. III-212). Hier scheint sich eine starke Rüstungslobby durchgesetzt zu haben. Aber machen wir uns nichts vor: die Militarisierung der EU ist bereits seit langem im Gange. Wenn sie auch bestimmten Zwängen unterworfen war, gab es sie schon vor 1990 als europäischen Arm der NATO, aber auch immer unter deren Kontrolle. Nach dem Wegfall der Zwei-Block-Konfrontation 1990 kam es zu einer neuen Diskussion über eine Europäische Sicherheitsarchitektur. Darüber hinaus gab es schon traditionell unterschiedliche Ambitionen und Rollen der europäischen Mächte Frankreich als Atommacht, Großbritannien mit der besonderen transatlantischen Bindung und Deutschlands Einbindung, um eine deutsche Sonderrolle in der internationalen Politik zu vermeiden. Nicht nur deshalb ging es mit der EU-Integration anfänglich erst in zweiter Linie um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Vermittlung der »Notwendigkeit« zur zielgerichteten und nun sogar mit Verfassungsrang versehenen Militarisierung der EU fiel mit den Entwicklungen seit Ende der 1990er (Jugoslawienkrieg) und dem seit dem September 2001 propagierten Kampf gegen den weltweiten Terrorismus leichter. Da kippten alte Widerständler wie Österreich oder die Schweiz, die um ihre Neutralität bangten, die skandinavischen Länder, die traditionell sensibel mit der Abgabe von Souveräntitätsrechten, insbesondere in Verteidigungsfragen sind, und auch die kleinen Mitgliedsstaaten, die wie alle anderen Mitgliedsstaaten um ihre Ausgabenbilanz bangen müssen, die sich noch mehr zu Lasten der öffentlichen Kassen verschieben wird.

In der Auseinandersetzung in dieser Sachfrage wurde die Argumentation für den Ausbau der Militärmacht dadurch unterstützt, dass die USA mit ihren mehrfachen interventionistischen Alleingängen die Wahl der im globalen Wettbewerb erlaubten Mittel vorgegeben hat: »Krisen« werden durch das Auslösen kriegerischer Auseinandersetzungen (Präventivkriege) »beigelegt«. Der staatliche innereuropäische Widerstand schwindet mit dem Bewusstsein, dass die EU die Gegenmacht zu den USA angeblich auf allen Feldern behaupten muss.

In den "Zielen der Union" werden Prinzipien des Neoliberalismus in den Verfassungsrang gehoben, so in Art. III-69, wo von der "Festlegung" auf den "Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" die Rede ist. Hier gibt es von staatlicher Seite, außer etwa bei den skandinavischen VertreterInnen, keinen Widerspruch. In verschiedenen Arikeln werden die einzelstaatlichen Verantwortungen für öffentliche Daseinsvorsorge oder eine beschworenes Gut wie "kulturelle Vielfalt" WTO-kompatibel relativiert (vgl. Art. II-55).

Wirtschaftspolitisch ist eine ausschließliche Orientierung der Zentralbank an der "Preisstabilität" vorgesehen (Art. I-29) und die Fortführung des Stabilitätspaktes (Art. III-76). Dieser bedarf nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre eigentlich einer Revision. Geplant ist offenbar, dass der Pakt von kleinen Staaten bei Strafe eingehalten werden muss, während er durch die großen Staaten jederzeit gebrochen werden kann, wie jüngst durch Frankreich und Deutschland. Dies wird, wenn es auch im Nachgang zu keinerlei Sanktion kommen sollte, weiterhin eine Quelle von Konflikten bleiben. Eine konstruktive Beschäftigungspolitik muss dabei zwangsläufig auf der Strecke bleiben.

Dem langjährigen Druck auf einen größeren Einfluss des europäischen Parlaments, auf Transparenz und Mitspracherechte gibt der Verfassungsentwurf scheinbar nach. Bisher wurden die Europäische Gemeinschaft, seit 1993 die EU, in den Entscheidungsfragen ausschließlich durch Organe der Exekutive (Kommission, Ministerrat, Europäischer Rat) repräsentiert. In der Gesetzgebung entwickelten sich zwar Anhörungsrechte des Parlaments, z.T. auch Mitsprache- und Zustimmungsrechte. Ganze Teile des EU-Budgets sind jedoch nach wie vor nicht Bestandteil des Haushaltes (z.B. der Europäische Entwicklungsfonds) und werden daher nicht vom Parlament beraten. Die Gesetzgebungsinitiative lag einzig und allein bei der Kommission. Wenn auch dem Europäischen Parlament nun mehr Rechte hinsichtlich Information und Anhörung eingeräumt werden, ist nicht zu übersehen, dass die Gesetzesbefugnis für die Kommission weiter gestrafft, das Verordnungsrecht umfassend gestaltet und ausgebaut wurde z.B. durch die Erweiterung ihrer Kompetenzbereiche. Dies betrifft auch die Kompetenz in sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen. Hier wird den Mitgliedsstaaen die einzelstaatliche Mitsprache sogar quasi entzogen, da kein Konsens vorliegen muss.

Eine Grundrechtecharta hat zwar Eingang in den Verfassungsentwurf gefunden, soziale Grundrechte finden jedoch dort kaum Erwähnung. Ein Quasivolksbegehren muss durch eine Millionen EU-BürgerInnen eingebracht werden und kann die Kommission auffordern zu bestimmten Themen Rechtsakte zu erlassen (Art. I-46). Für diese Möglichkeit der Partizipation gibt es bisher noch keinen Vorschlag für deren gesetzliche Ausgestaltung.

Das auf der Regierungskonferenz in Nizza im Jahr 2000 nach heftigen Auseinandersetzungen mühsam erreichte Abstimmungsmodell für die Mitgliedstaaten wurde mit dem Verfassungsentwurf des Konvents in Frage gestellt. Bisher gab es das Modell der gewichteten Stimmen, wonach die großen Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien jeweils 29 Stimmen haben und damit nur 2 Stimmen mehr als Länder wie Spanien und Polen. Für qualifizierte Mehrheiten sind laut Nizza-Vertrag 72,3% und bei Bedarf 62% der Bevölkerung der EU notwenig. Als unpraktikabel erschien diese Regelung Deutschland und Frankreich im Hinblick auf die Osterweiterung und ihrer Ambitionen, Tempo und Richtung des Intergrationsprozesses stärker zu beherrschen. Mit der Stimmverteilung nach Nizza ist es vergleichsweise schwer, die nötigen Mehrheiten zu organisieren. Deutschland und Frankreich brachten deshalb einen Vorschlag ein, nach dem für eine qualifizierte Mehrheit bereits die einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten und 60% der EU-Bevölkerung ausreichen sollen. Bei diesem auf den ersten Blick sinnvollen Verfahren würden die ohnehin kleinen Staaten mit der meist auch geringeren Bevölkerungszahl einmal mehr verlieren. Die eigentlichen Verlierer dieser Regelung aber wären die mittelgroßen Staaten Polen, Spanien, die Niederlande und die Staaten mit einer Bevölkerung um die 10 Millionen wie Belgien, Griechenland, Tschechische Republik und Portugal. Aber auch bei Großbritannien stieß der Vorschlag auf Ablehnung. Deutlich wird damit, wo sich im kommenden halben Jahr die Konfliktlinien in dieser Auseinandersetzung abzeichnen.

Die Uhr tickt …

Bis zur geplanten Verabschiedung einer Verfassung am 9. Mai 2004 bleibt nur noch wenig Zeit. Ein auf Initiative des Europäischen Sozialforums in Paris von außerparlamentarischen Bewegungen geplanter Aktionstag gegen eine solche Verfassung ist sicher notwendig, wird aber zu spät kommen, wenn nicht vorher eine umfassende Auseinandersetzung stattfindet. Deshalb erachte ich es als eine dringliche Aufgabe, den Verfassungsentwurf, dessen Verabschiedung unser weiteres europäisches Schicksal besiegeln wird, im Vorfeld zu analysieren, auf seine Auswirkungen hin zu überprüfen und auf Nachbesserungen und Änderungen zu drängen. Dabei kommt der kritischen Wissenschaft eine ebenso zentrale Rolle zu wie der Politikvorbereitung durch den Druck der Straße, durch die praxisgetragenen Einschätzungen und Analysen der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure, Verbände und Gremien. Es ist wichtig, die verbleibende Zeit der Stimmen-Uneinigkeit der Regierungschefs zu nutzen, um inhaltliche Änderungen an einer europäischen Verfassung zu erreichen, die zumindest die weitere Militarisiung der EU und die Festlegung auf ein neoliberales Wirtschaftsmodell nicht festschreibt sowie mehr demokratische Rechte und Transparenz beinhaltet und die Sicherung von sozialen und Bürgerrechten. Bündnisse von Wissenschaft, sozialen Bewegungen und politischen Aktueren (z.B. Parteien), die ein anderes Europa wollen, sind wichtig. Dabei sollte Wahltaktik weitgehend außen vor bleiben. Gegenwärtige Aktionen, wie z.B. die der nationalen und regionalen Sozialen Foren, die im Nachgang zum Europäischen Sozialforum (Paris, November 2003) entstanden sind, sollten in ihren Aktionen und Kampagnen der nächsten Wochen und Monate immer den Bezug zu einem solch verfassten Europa herstellen und sich nicht scheuen, die Zusammenhänge zwischen scheinbar nur lokalen und nationalen Kämpfen und ihrer Einordnung in den gloablisiereten Rahmen des EU-Systems herzustellen.


Anmerkungen

1) vgl. Vertrag von Amsterdam, Präambel, 2.10.1997

2) vgl. EuropeanEconomists for an Alternative Policy in Europe (Euromemorandum Group): Full Employment, welfare, and a Strong Public Sector. Democratic Challenges in a Wider Union - Memorandum 2003. Barcelona-Paris-London, Dez. 2003

3) vgl. Habermas/Derrida in FAZ, 31.5.2003

4) Joschka Fischer im Fernsehinterview, 13.12.2003

5) Der Verfassungskonvent ist ein zeitweiliges und nicht offizielles Instrument der EU und wurde Ende 2001 im belgischen Laeken ins Leben gerufen. Er setzt sich zusammen aus 105 VertreterInnen der Regierungen, der Parlamente und der Kommission unter Mitberatung/Anhörung durch zivilgesellschafliche Strukturen und war auf Konsensentscheidung ausgerichtet.

6) Joseph Fischer in einer Diskussion mit Jean Pierre Chevènement, August 2000. In: Die Zeit 21.6.2003

7) Zu diesen und den folgend zitierten Artikeln vgl. den Verfassungsentwurf des Konvents, vorgelegt zur Regierungskonferenz Herbst 2003


Gisela Kremberg, Diplomarabistin und Pädagogin, ist Mitglied im Verein für angewandte Konfliktforschung e.V. und Sprecherin der AG Internationalismus. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Entwicklungspolitik, Globalisierung und Nord-Süd-Politik

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