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Klaus Holzkamp

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Leben: von Kraft und Stoff zur formalen Organisation

15.12.2004: Industrialisierung und Vergeschlechtlichung eines biologischen Begriffs

  
 

Forum Wissenschaft 4/2004; Titelbild: Karl Blossfeldt (Herr und Frau Wilde)

Arbeiten zum Energiebegriff in der Biologie des 19. Jahrhunderts und seinen Implikationen für Genderaspekte konzentrieren sich bisher meist auf dessen zweite Hälfte. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber, so Kerstin Palm , lassen sich an »Kraft«- bzw. »Energie«konzepten technische und vergeschlechtlichte Implikationen des Lebensbegriffs zeigen.

Der Biologe Wolfgang Wieser verfasste in den 1950er Jahren eine kleine, sehr aufschlussreiche Schrift über die neuesten Theorien und Perspektiven der damaligen Biologie, die wesentlich von kybernetischen und systemtheoretischen Vorstellungen geprägt war.1 Dabei stellte er fest, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich allmählich eine zentrale Fragestellung herauskristallisiert, die ihm inzwischen in der Biologie vorrangig scheine, nämlich: "Was sind die Gesetze, die den Aufbau von Teilen zu Ganzheiten regeln?"2 Diese Frage ziele vor allem auf die Mechanismen der Organisation der Ganzheit - Mechanismen, die in Lebewesen anzutreffen seien und sich inzwischen elegant, rein formal und unabhängig vom konkreten Gegenstand betrachten ließen. Die aufgefundenen Gesetze könnten also gleichermaßen auf Organisches und Anorganisches, auf Natürliches und Künstliches bezogen und technische Prinzipien und biologische Phänomene daher wechselseitig zur Illustration verwendet werden.

Kybernetische Plausibilisierung

Dies sei insbesondere durch eine neue Klasse von Maschinen möglich geworden: "Die elektronischen Maschinen der Neuzeit sind […] keine ‚Kraft‘-, sondern ‚Nachrichten‘- und ‚Steuerungsmaschinen‘, die nicht Energie, sondern Information und Organisation produzieren, also nicht der tierischen Muskulatur, sondern dem Nervensystem ähneln."3 Diese Maschinen könnten eine zentrale Eigenschaft von Lebewesen technisch plausibilisieren, die lange Zeit als rätselhaft und unerklärlich gegolten habe, nämlich die mit der Organisation komplexer Systeme verbundene Zielgerichtetheit, die die Entstehung und Erhaltung eines komplizierten lebenden Körpers bis dahin wie durch Geisterhand arrangiert erscheinen ließ: "Wie schon angedeutet, sind ja technisch-kybernetische Mechanismen dadurch charakterisiert, dass ein System auf ein bestimmtes Ziel hingesteuert wird. Die Kanone wird auf einen Punkt im Raum, der Thermostat auf eine bestimmte Temperatur hingesteuert usw. Betrachtet man nur die Effektoren solcher Systeme, also die Kanone oder das Wärmeelement, so machen deren Bewegungen den Eindruck, als strebten sie das Ziel aktiv an. Und genau dies gilt natürlich für die Reaktionskreise in Organismen: sie machen den Eindruck, als strebten sie ihr Ziel aktiv an. Es sind formale Gemeinsamkeiten dieser Art, die uns erlauben, Querverbindungen zwischen Technik und Biologie zu konstruieren."4

Damit sei ein sehr bedeutsamer Richtungswechsel in der Biologie erfolgt, der vergleichbar sei mit der Einführung einer einzigen Energieform für alle chemischen, physikalischen und biologischen Vorgänge zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Erst dadurch seien die Lebenserscheinungen entmystifiziert und in einem aus »Kraft« und »Stoff« bestehenden Begriffsfeld auf einen naturwissenschaftlichen Begriff gebracht worden. Mit der Fokussierung auf Vorgänge bei der Organisation von Organismen werde diesen maßgeblichen Kategorien Kraft und Stoff nun noch ein drittes Prinzip hinzugefügt, das sich inzwischen als entscheidend bei der Aufklärung der Lebensvorgänge herausstelle: "Organisation ist ein Prinzip, das nicht auf eine der beiden Kategorien Kraft und Stoff zurückgeführt werden kann, sondern selbst eine unabhängige Größe ist, weder Energie noch Substanz, sondern etwas Drittes, durch das Maß - und die Art - der Ordnung (oder negativen Entropie) eines Systems ausgedrückt."5 Diese Ordnung beruhe wesentlich auf einem organisierenden und regulierenden Kommunikationssystem: "Ohne Kommunikation keine Ordnung, ohne Ordnung keine Ganzheit."6

Neuer Energiebegriff

Die Beziehung zwischen Technik und biologieimmanenten Konzepten, ebenso wie ihre geschlechterspezifische Dimension, will ich im Folgenden am Beispiel der wesentlichen Elemente eines Kraft-Stoff-Universums aufzeigen. An der Formulierung des hierfür wesentlichen neuen Energiebegriffs im 19. Jahrhundert war der Naturforscher Julius Robert Mayer maßgeblich beteiligt. Zur Veranschaulichung seiner Argumentationsweise und Vorstellungswelt kommt er ausführlich zu Wort. Mayers Ideen von der Erhaltung und Umwandlung der Energie bekamen zwar erst durch Joules experimentelle Forschungen und Helmholtz‘ theoretische exakte Fassung ihre umfassende wissenschaftliche Anerkennung.7 Die historische Position dieser Ideen direkt auf der Schwelle des Umschwungs gibt programmatisch Aufschluss und ermöglicht Einblicke in das damalige neue Denken der Biologie. Zum Schluss schlage ich mit Überlegungen zu Genderbezügen den Bogen wieder zurück zu Wiesers Perspektive. Statt große Zeiträume der Biologiegeschichte kontinuierlich nachzuvollziehen, erlaubt das Fallbeispiel konkretere Einsicht in den radikalen Wandel grundlegender Konzepte der Biologie in den letzten zweihundert Jahren.

Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wird als ein wesentliches Kennzeichen für Leben die Fähigkeit eines Körpers zur Selbstbewegung gesehen, d.h. sowohl zur spontanen Bewegung des Körpers im Raum als auch zur zielgerichteten selbständigen Ausbildung einer bestimmten Körperform. Im 18. Jahrhundert verbreitete sich im Rahmen vitalistischer Überlegungen dazu die Idee von einer parallel zur Gravitationskraft agierenden seelenartigen Lebenskraft als zweiter grundlegender Naturkraft, die diese Selbstbewegung plausibilisieren sollte. Der Heilbronner Arzt Julius Robert Mayer gehörte Anfang des 19. Jahrhunderts zu den ersten Naturforschern, die eine solche zweite Naturkraft als mystische Projektion verwarfen. Er schlug statt dessen ein neues einheitliches Kraftkonzept für die unbelebte und belebte Natur vor. Dabei stellte er den Wärmebegriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.

Galten vormals die Wärme des Körpers, »warme Säfte«, als Ausdruck eines inneren Lebensfeuers, kamen gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr Überlegungen auf, Wärme als Folge eines einfachen chemischen Vorgangs anzusehen: der Verbrennung. Sadi Carnot beschrieb 1824 Wärme als bewegende Kraft und setzte damit Wärme und mechanische Bewegung in Beziehung zueinander. Hier schloss Mayer an mit der Feststellung, Wärme sei keineswegs, wie lange behauptet, ein Stoff, sondern eine bestimmte Qualität von Arbeit, die auch die Lebensprozesse antreibe. Es gebe dabei - und das war entscheidend für Mayers Theorie - eine konstante Beziehung zwischen Bewegung, ausgedrückt als mechanische Arbeit, und Wärme, eine mechanische Äquivalenz, die gemessen werden könne.

Kraft und Stoff

Überhaupt stünden alle bisher getrennt voneinander behandelten Kräfte, neben der Bewegungskraft und der Wärme also auch Elektrizität und chemische Affinität, in einem festen Umwandlungsverhältnis zueinander. Letztlich seien sie Äußerungsweisen nur einer einzigen Grundkraft: "Es gibt in Wahrheit nur eine einzige Kraft. In ewigem Wechsel kreist dieselbe in der toten, wie in der lebenden Natur. Die Kraft in ihren verschiedenen Formen kennen zu lernen, die Bedingungen ihrer Metamorphosen zu erforschen, das ist die einzige Aufgabe der Physik."8

»Kraft« sei dabei entgegen der bis dahin kursierenden materialistischen Auffassung deutlich und prinzipiell von »Stoff« unterschieden und trete getrennt von ihm auf. Sie sei unzerstörbar, immateriell und in quantitativen Relationen von einer Form in eine andere umwandelbar. Daher sei die verbreitete Auffassung zu verwerfen, es existiere eine spezifische Lebenskraft; es gehe hier ausschließlich um physikalisch-chemisch zu beschreibende Phänomene: "In den lebenden Tierkörpern wird Kohlenstoff und Wasserstoff oxydiert und dagegen Wärme und bewegende Kraft erzeugt. Das mechanische Äquivalent der Wärme lehrt uns nun in unmittelbarer Anwendung auf die Physiologie, dass der Oxidationsprozess die physikalische Bedingung der mechanischen Arbeitsfähigkeit des Organismus ist, und es gibt dasselbe zugleich die numerische Bedingung zwischen Verbrauch und Leistung an."9

Anson Rabinbach beschreibt treffend die Bedeutung dieser Vorstellungen einer sich ewig erhaltenden (Arbeits-)Kraft, die in einander umwandelbare Kraftformen auffächern kann: "Die Theorie der Energieerhaltung beinhaltete ein Bild von der Natur als einer Produktivkraft, die imstande ist, die unbeschränkte und unveränderliche universelle, bewegende Kraft von Tier, Mensch und mechanischen ‚Motoren‘ zur Verfügung zu stellen. In einem dramatischen Abschied vom Newtonschen Universum mit seinen ‚Maschinen‘ antreibenden, eigenständigen Kräften wurde die Energie zu einer das ‚Werk‘ des Kosmos betreibenden ‚Kraft jenseits von Materie und Bewegung‘. Als Demiurg universalisiert, als ein ‚Proteus‘ in jedweder Natur allgegenwärtig - so vollzog sich mit dem Begriff der Arbeits-Kraft eine Redefinition des Bewegungsprinzips im Universum unter dem Aspekt von dessen Kraft, Arbeit zu leisten."10

Die verschiedenen Kraftformen waren so nicht nur ineinander umwandelbar, sondern durchströmten nun, wie es bei Rabinbach anklingt, in bestimmter Weise den unbelebten und belebten Kosmos: "Die Natur hat sich die Aufgabe gestellt, das der Erde zuströmende Licht im Fluge zu haschen und die beweglichste aller Kräfte, in starre Form umgewandelt, aufzuspeichern. Zur Erreichung dieses Zweckes hat sie die Erdkruste mit Organismen überzogen, welche lebend das Sonnenlicht in sich aufnehmen und unter Verwendung dieser Kraft eine fortlaufende Summe chemischer Differenz erzeugen."11 Diese lichtfangenden Organismen seien die Pflanzen: Sie "nehmen eine Kraft, das Licht, auf, und bringen eine Kraft hervor, die chemische Differenz."12 Die Pflanzenenergie werde dann als pflanzliche Nahrung von Tieren aufgenommen: "Das lebende Tier nimmt fortwährend aus dem Pflanzenreiche stammende brennbare Stoffe in sich auf, um sie mit dem Sauerstoff der Atmosphäre wieder zu verbinden. Parallel diesem Aufwande läuft die das Tierleben charakterisierende Leistung: die Hervorbringung mechanischer Effekte, die Erzeugung von Bewegungen, die Hebung von Lasten."13 Diese Leistung werde durch zwei Faktoren möglich: "Zur Tätigkeitsäußerung eines Muskels gehört zweierlei: 1. der Einfluß eines motorischen Nerven als Bedingung und 2. der Stoffwechsel als Ursache der Leistung."14 Der Prozess der (muskulären) Selbstbewegung zerfalle demnach in eine psychische Seite, eine Willensäußerung, die die Bewegung veranlasst, und eine physische, die die mit einer bestimmten Kraft angetriebene Bewegung ausführt.

Maschine und Körper

Diese Beschreibungen verweisen deutlich auf den gesellschaftlichen Bereich, aus dem der Autor Inspirationen für ein entsprechendes Körperverständnis bezieht: auf die industrielle Sphäre mit ihrer zu dieser Zeit prominenten Dampfmaschinentechnik. Mayer unterstreicht diesen Bezug selbst: "Dem Willen des Steuermanns und des Maschinisten gehorchen die Bewegungen des Dampfbootes. Der geistige Einfluß aber, ohne welchen das Schiff sich nicht in Gang setzen, oder am nächsten Riffe zerschellen würde, er lenkt, aber er bewegt nicht; zur Fortbewegung bedarf es einer physischen Kraft, der Steinkohlen, und ohne diese bleibt das Schiff, auch beim stärksten Willen seiner Lenker, tot."15 Die Nahrung, die ein tierisches Lebewesen zu sich nimmt, werde nun, analog der Steinkohle, im Körper verbrannt und daraus eine mechanisch beschreibbare Kraft des Lebens gewonnen: "Der Herd dieses Prozesses16 ist die Höhle des Blutgefäßsystems, das Blut aber, eine langsam brennende Flüssigkeit, ist das Öl in der Flamme des Lebens."17 Die Nahrung erfülle dabei mehrere Funktionen: "Die Nahrungsmittel dienen dem tierischen Organismus nicht nur als Brennstoffe oder als Respirationsmittel, sie dienen demselben auch, bis er seine volle Größe erreicht hat, zum Wachsen und ebenso auch ferner zum Wiederersatz abgenutzter Gewebeteile." Mayers Fazit lautet nun sehr deutlich: "In dieser Hinsicht, ich sage in dieser Hinsicht18 ist der tierische Organismus bei aller unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Zergliederung immerhin einer Dampfmaschine zu vergleichen." Mit der Einführung der Arbeitskraft in die Naturtheorie gelang so eine Gleichsetzung des hervorstechenden industriellen Maschinentypus des 19. Jahrhunderts mit dem lebenden Körper. Dampfmaschinen und Körper waren gleichermaßen Gebilde, die Energie nutzen, umwandeln und erhalten könnten.

Anders als bei Wieser ca. hundert Jahre später erschien Mayer die Entstehung des Gesamtgefüges eines Lebewesens, die zweite Art der Selbstbewegung, noch nicht als wissenschaftliches Problem. Er nahm es einfach bewundernd mit dem Gestus theologisch motivierter Ehrfurcht als gegebene, vollkommen wohlgestaltete und sinnvolle Komposition hin: "Hier wie in jedem physiologischen und pathologischen Prozesse, spielt Organologisches und Chemisches, Solidares19 und Humorales20, Nerv und Blut gleichzeitig seine Rolle, und es mögen die Lebenserscheinungen einer wundervollen Musik verglichen werden, voll herrlicher Wohlklänge und ergreifender Dissonanzen; nur in dem Zusammenwirken aller Instrumente liegt die Harmonie, in der Harmonie nur liegt das Leben." Im 20. Jahrhundert sollte dann das Vertrauen in eine genuine Harmonie der Natur ebenso nachlassen wie zugleich das Bestreben und Zutrauen zunehmen, selbst in die Organisation von Natur einzugreifen und ihre Abläufe und Effekte zu »optimieren«.

Die zentrale Frage bei Mayer ist also, wo und wie Arbeit im Organismus erzeugt wird und werden kann und wie damit die ganze lebendige Maschinerie in Gang gehalten wird. Im Gegensatz zu Wiesers Forschungsinteresse interessiert sich Mayer noch nicht dafür, nach welchen Regeln eine solche Maschine überhaupt läuft und wie die Anwendung der Regeln koordiniert ist. Sein zentrales Interesse richtet sich statt dessen auf die arbeitsfähigen Antriebskräfte vor allem des animalen Körpers: "Da die Arbeitskraft unter den Produkten des animalen Lebens ohne Frage das wichtigste ist, so ist das mechanische Äquivalent der Wärme der Natur der Dinge nach zur Grundlage für das Gebäude einer wissenschaftlichen Physiologie bestimmt."21

Auch Mayer sichtet neben »Kraft« und »Stoff« schon ein drittes Prinzip. Er bringt es allerdings noch nicht mit seinem Forschungsfeld der Naturwissenschaft in Verbindung: "Der lebende Körper besteht (…), wie wir wissen, nicht bloß aus materiellen Teilen, er besteht wesentlich auch aus Kraft. Aber weder die Materie noch die Kraft vermag zu denken, zu fühlen und zu wollen. Der Mensch denkt." Erst im 20. Jahrhundert wird dieses dritte Prinzip in einer technisierten Form, als Steuerungs- und Nachrichtenproduktion, wieder aufgegriffen und avanciert zum zentralen Prinzip der Biologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Kraft, Arbeit, Geschlecht

Interpretationen dieser Vorstellungen Mayers und anderer Kraft- bzw. Energietheoretiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Genderperspektive liegen m.W. kaum vor. Die meisten Arbeiten konzentrieren sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und diagnostizieren für die Diskussionen um den II. Hauptsatz der Thermodynamik und den daraus abgeleiteten drohenden Wärmetod des Universums sowie für die Neurastheniedebatte eine Krise bürgerlicher Männlichkeit. Auf die Kraftvorstellungen allgemein im 19. Jahrhundert lässt sich noch Maria Osietzkis aufschlussreiche Analyse anwenden. Sie stellte fest, dass das Dampfmaschinenmodell des Körpers sich "aus einer sozialen Praxis von Männlichkeit [nährte], die durch Kraft und Arbeit charakterisiert sowie an der Optimierung des Verhältnisses beider im Rahmen einer industriellen Produktionsweise und Erwerbstätigkeit ausgerichtet war."22 Lebende Körper waren in dieser treffenden Lesart wissenschaftlich denjenigen Maschinen nachgebildet, die im Zentrum der männlich vereinnahmten öffentlichen Produktionssphäre standen und wesentlich teilhatten an der Errichtung männlicher Berufsidentität. Die Aneignung der äußeren Natur im Bereich der Industrieproduktion und die Aneignung der inneren Natur, des eigenen arbeitsfähigen Körpers, flossen in Mayers physiologischem Entwurf vom Dampfmaschinenkörper zusammen und evozierten strukturanaloge Problem- und Deutungsperspektiven für Körper und Maschinen.

Diese Interpretationsweise lässt sich auch auf das 20. Jahrhundert und speziell auf die durch Wieser aufgeführten theoretischen Veränderungen in der Biologie anwenden. Die biologischen Modelle aus der Mitte des 20. Jahrhunderts nehmen wiederum zentrale Aspekte der öffentlichen Sphäre auf, die zunehmend von kybernetischen und Kommunikationsmaschinen geprägt war. Allerdings waren zu dieser Zeit nicht mehr in erster Hinsicht »Kraft«-, sondern Koordinations-, Regelungs- und Organisationsprobleme zu lösen. Nicht mehr Kraft durchströmte jetzt vorrangig das Universum, sondern Information; statt muskel- und maschinenbetriebener Arbeitsfähigkeit in industriellen Fabrikhallen stand nun komplexes Denken im Rahmen einer ausgedehnten Dienstleistungsgesellschaft und robotergestützter Fertigungsbänder im Vordergrund. Wenn auch in geringerem Maße als im 19. Jahrhundert, war dieser Bereich in den 1950er Jahren doch weiterhin ein mit Männlichkeit besetztes Tätigkeitsfeld.

Der Wandel von einer Kraft-Stoff-Dualität zum Primat jener Form, die von stofflichen Qualitäten abstrahiert und allgemeine Regeln der Organisation aller Materialitäten aufzustellen sucht, kann aber auch vor dem Hintergrund der Deutungsperspektive der Geschlechterforschung diskutiert werden. Dies zeigt sich an einigen Forschungsansätzen. Abendländische Ausdeutungen der Beziehungen zwischen Stoff und Form und die sich wandelnden Assoziationen von passiver Stofflichkeit mit Weiblichkeit und aktiver Form(gebung) mit Männlichkeit sind in ihrem historischen Verlauf und an Beispielen unterschiedlicher philosophischer Richtungen vielfach beschrieben.

Als dominierend stellte sich der Gedanke heraus, dass nicht eigentlich Stoffliches, sondern allein die Form - die Idee oder das intelligible Prinzip - bzw. später die Struktur - der Mechanismus - stofflicher Gebilde rational zugänglich seien.23

Wie könnte vor diesem Hintergrund das Kraft-Stoff-Modell und seine Verschiebung zum Form-Modell interpretiert werden? Diese Frage wird in der Genderforschung kontrovers debattiert. Zwei in ihr vertretene Perspektiven greife ich abschließend heraus.

Perspektiven

Da die neuen theoretischen und praktischen Zugriffe der Lebenswissenschaften auf den Körper es zunehmend unmöglich machen, zwischen Organismus und Maschine, Natur und Kultur und anderen vormals kontradiktorisch gesetzten Bereichen zu unterscheiden, werden einerseits Möglichkeiten zur Überwindung geschlechtercodierter Dualismen und emanzipatorische Gestaltungspotentiale gesucht und gesichtet, wie dies beispielsweise die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway in ihren Schriften ausführt. Auf der anderen Seite wird aber darauf hingewiesen, dass sich in der technischen Formulierung und Informatisierung des Lebendigen der identitätslogische und faktische Zugriff auf den Körper und die Aneignung der weiblich konnotierten Bereiche radikalisieren könnten. Diese Ansicht vertreten zum Beispiel die Hannoveraner Sozialwissenschaftlerinnen Regina Becker-Schmidt und Carmen Gransee.24

Ich tendiere in dieser Diskussion aus zwei Gründen eher zu Haraways Position. Zum einen halte ich es für problematisch, in der Kritik an naturwissenschaftlicher Aneignungslogik eine Verbindung von Stofflichkeit und Weiblichkeit weiterhin vorauszusetzen und diese Konnotation damit zu verfestigen, anstatt sie in Frage zu stellen. Zum zweiten teile ich Haraways melancholischen und zugleich moralischen Pragmatismus. Ich plädiere mit ihr dafür, sich innerhalb dieser Kombinationsmöglichkeiten nicht mehr an der Frage nach einer adäquaten Charakterisierung der materiellen Welt zu orientieren, da es hierfür keinerlei Maßstäbe gibt. Haraway schlägt stattdessen als Leitfrage vor, wem eine bestimmte Auslegung von Natur / Realität / Kosmos usw. nütze, und von hier aus emanzipatorische Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft zu suchen. Diese Haltung beruht auf der vermutlich richtigen Einschätzung, dass dem Verfügbarkeitsparadigma der neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht zu entkommen ist.

In der Tat hat sich mit dem Bezug auf die Form und die Abstraktion von stofflichen Qualitäten ein umfassender wissenschaftlicher Zugriff auf die materielle Welt potenziert. Das Verfügbarkeitsparadigma der modernen Naturwissenschaft kann auf substanzielle und rational nicht einholbare Prinzipien wie Kraft und Stoff ganz verzichten. Es muss nur wissen, welche Effekte sie hervorbringen und wie diese zu handhaben sind. Dies allerdings hat einen Nebeneffekt: Alle vormals mit theologischen und kulturellen Werten aufgeladenen und voneinander prinzipiell unterschiedenen Bereiche wie Natürliches, Technisches, Körperliches, Maschinelles sind nun dieser Werte beraubt und werden wie in einem riesigen Baukastensystem beliebig kombinierbar.

In dieser werteoffenen Situation besteht nach Haraway einerseits die Chance, einzugreifen mit neuen Wertsetzungen jenseits alter theologischer und säkularer Werteordnungen mit ihren asymmetrischen Privilegienzuteilungen und hierarchisierenden Bedeutungszuweisungen. Andererseits aber, und vor allem - auch dies mit Haraway -: Es besteht die moralische Verpflichtung eines solchen Eingreifens.


Anmerkungen

1) Wolfgang Wieser: Organismen, Strukturen, Maschinen - Zur Lehre vom Organismus. Frankfurt a.M. 1959

2) ebd., S. 98

3) ebd., S. 29

4) ebd., S. 46f. (Hervorh. im Original)

5) ebd., S. 13

6) ebd., S. 13

7) 1851 ersetzten dann der Physiker Thomson und der Ingenieur Rankine den Kraftbegriff durch den noch heute gebräuchlichen Begriff der Energie.

8) Julius Robert Mayer: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. Leipzig 1911, S. 8 (im Vorwort von J. Haas)

9) Julius Robert Mayer: Kraft - Leben - Geist. Eine Lese aus Robert Mayers Schriften. Hrg. von Emil Abderhalden. Halle 1942, S. 33 (Hervorh. im Orig.)

10) Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor. In: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hrg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1998, S. 293

11) Mayer 1911, ebd., S. 47

12) Mayer 1911, S. 49

13) Mayer 1942, S. 30

14) Mayer 1911, S. 61

15) Mayer 1911, S. 61

16) des Oxydationsprozesses, K.P.

17) Mayer 1911, S. 75

18) der Hervorbringung mechanischer Effekte, K.P.

19) Festes, K.P.

20) (Körper-)Säftebezogenes; K.P.

21) Mayer 1942, ebd., S. 29

22) Maria Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik. In: Sarasin/Tanner 1998, S. 321f.

23) Vgl. dazu z.B. Geneviève Lloyd: Das Patriarchat der Vernunft. Männlich und weiblich in der westlichen Philosophie. Bielefeld 1985

24) Vgl. zu dieser Kontroverse: Donna Haraway, Modest_Witness@Second_Millennium . FemaleMan©_Meets_OncoMouse™. New York, London 1997; Carmen Gransee, Grenz-Bestimmungen. Zum Problem identitätslogischer Konstruktionen von ‚Natur‘ und ‚Geschlecht‘. Tübingen 1999; Gill Kirkup, Linda Janes, Kath Woodward, Fiona Hovenden (eds.), The gendered cyborg. A reader. London, New York 2000; Nina Lykke, Rosi Braidotti (eds.), Between monsters, goddesses and cyborgs. Feminist confrontations with science, medicine and cyberspace. London, New Jersey 1996; Regina Becker-Schmidt: Computer sapiens: Problemaufriß und sechs feministische Thesen zum Verhältnis von Wissenschaft, Technik und gesellschaftlicher Entwicklung. In: Elvira Scheich (Hrg.): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie. Hamburg 1996.


Dr. Kerstin Palm ist promovierte Biologin. Zur Zeit ist sie als wissenschaftliche Assistentin im Kulturwissenschaftlichen Seminar an der Humboldt-Universität Berlin tätig und arbeitet an ihrem Habilitationsprojekt zur Geschichte des Lebensbegriffs aus der Genderperspektive.

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