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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Nach dem Referendum

15.09.2005: "... und was die europäische Linke daraus macht"

  
 

Forum Wissenschaft 3/2005; Titelbild: Eckhard Schmidt

Der Sieg des NON am 29. Mai im Referendum zum Projekt des Verfassungsvertrages in Frankreich verursachte ein politisches Erdbeben. In ganz Europa liefen Kommentare unter diesem Titel. Dagegen wurde wenig über den Prozess gesagt, der zu diesem Resultat führte. Dabei ist genau er die wichtigste, innovativste und verheißungsvollste Dimension dieses politischen Großereignisses, meint Francis Wurtz .

Eine Bresche geschlagen

Das wichtigste Charakteristikum dieses "Wahlkampfs" ganz besonderer Art war die Rolle, welche die Bürgerinnen und Bürger darin gespielt haben: sie waren nicht bloß Wähler, sondern vor allem selbst die politischen Akteure. Die wichtigsten Organisationen, die sich für das NON engagiert haben, appellierten ganz offen an ihre Bereitschaft zur Reflektion, an ihre Intelligenz und an ihr Verantwortungsbewusstsein als BürgerInnen des 21. Jahrhunderts. So hat z.B. die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) im großen Stil Texte im ganzen Land verteilt: Zuerst, ab September 2003, eine Dokumentation, welche die wichtigsten Passagen des Verfassungsprojektes in Auszügen wiedergab und dadurch dessen Orientierung besonders in wirtschaftlichen und sozialen Fragen verdeutlichte; dann, ab Oktober 2004, den gesamten Text des Verfassungsvertrages. Organisationen wie Attac waren ebenfalls sehr aktiv. Auch die Debatten innerhalb der Sozialistischen Partei (PS) trugen stark zur Konfrontation der Ansichten bei. Schließlich spielte noch das Internet eine bedeutende Rolle. Zu Tausenden wurden Debatten initiiert - mit ständig steigender Beteiligung.

Den Verfassungstext in der Hand, oftmals die wichtigsten Stellen unterstrichen - freier Wettbewerb, öffentliche Dienstleistungen, die Europäische Zentralbank genauso wie die Grundrechtecharta, die Beziehungen zur Nato - so stellten die Leute ihre Fragen, kommentierten Passagen des Vertrages, untermalten ihre Anliegen mit konkreten Erfahrungen und stellten die politisch Verantwortlichen zur Rede. Etliche dieser Debatten wurden kontrovers geführt - einE VertreterIn des NON, einE VertreterIn des OUI, mit den Fragen der Öffentlichkeit konfrontiert -, aber sie verliefen ohne Beleidigungen und immer an den grundsätzlichen Fragen orientiert. Auf diese Weise haben sich die BürgerInnen die Politik wieder angeeignet, haben mit dem "Einheitsdenken" gebrochen, das den europäischen Diskurs dominiert, und den Fatalismus überwunden, der die öffentliche Meinung dominierte und zu Verdrossenheit gegenüber der Politik im Allgemeinen, besonders aber in Bezug auf die Europapolitik geführt hatte.

Deshalb kann man von einem großen Fortschritt für die Demokratie und gleichermaßen für Europa sprechen. Eine Bresche wurde in das geschlagen, was wie eine Mauer die BürgerInnen von den Entscheidungszentren der europäischen Politik trennt. Ich erinnere daran, dass die Beteiligung am Referendum 70% betrug, dass 80% der ArbeiterInnen, aber auch die eindeutige Mehrheit der sog. Mittelschichten mit NON gestimmt haben. In allen Altersgruppen (außer den über 65-jährigen) genauso wie in allen linken Gruppierungen hat das NON überwogen.

Mit langem Atem

Die Tatsache, dass der Sieg des NON in Frankreich und anschließend in den Niederlanden eine derartige Welle von Kritik an der aktuellen Politik und Funktionsfähigkeit der EU in den Meinungsumfragen in ganz Europa auslöste, zeigt das Ausmaß der Vertrauenskrise, die die europäische Konstruktion untergräbt. Diese zeigt sich auch in der von Wahl zu Wahl sinkendenWahlbeteiligung und den immer kritischeren Tönen von GewerkschaftsaktivistInnen und GlobalisierungskritikerInnen gegenüber der Ausrichtung und den Strukturen Europas.

Destabilisiert, hat die Führung Europas durch die Bank zunächst abwehrend reagiert und führte auf verlorenem Posten einen Kampf um die Interpretation des NON. Im besten Fall wurden die Gründe als vielschichtig bezeichnet, im schlimmsten Fall als populistisch und fremdenfeindlich. Dabei stammt das Bild des "polnischen Installateurs", das den VerfechterInnen des NON untergeschoben wurde, um die Populismus-These zu erhärten, von dem ehemaligen EU-Kommissar Bolkestein selbst, der damit die Gegner seiner ultraliberalen Dienstleistungsrichtlinie geißeln wollte. Die tatsächlichen Motive des französischen NON wurden in einer von der Kommission selbst in Auftrag gegebenen Studie bestätigt und auf Basis dieser Ergebnisse im Bulletin von "Eurobarometer" analysiert: "Die sozialen Bedenken stehen im Zentrum des NON". Besonders hervorgehoben werden unter den Hauptgründen, die die Befragten angeführt haben, "eine zu liberale Ausrichtung des Textes in wirtschaftlicher Hinsicht" sowie der "Mangel an einem sozialen Europa". Nur 4% der Befragten sprachen sich "gegen Europa" aus. Die Botschaft ist also klar: JA zu Europa, aber NEIN zu seiner neoliberalen Ausrichtung.1

Dieses Gefühl teilen viele andere Völker. Der europäische Gewerkschaftsbund, dessen Präsident John Monks, Mitglied der Labour Party, sich immer aktiv für ein JA eingesetzt hat, spiegelt das wider, wenn er die "25" auffordert, die "Befürchtung eines Absinkens der sozialen Standards und einer neoliberalen Politik" zu berücksichtigen, um "das Vertrauen der europäischen Bürger zurück zu gewinnen". Auch der Sprecher der Sozialisten im Europaparlament - selbst energischer Verfechter eines JA - hat in einer Bemerkung, die er als "selbstkritisch" bezeichnete, zugegeben, die "Augen verschlossen zu haben" vor den Warnungen, die die politisch Verantwortlichen schon seit geraumer Zeit durch die Europawahlen erhalten haben. Die Blindheit, die der Europäische Rat Mitte Juni bewies, ist angesichts dessen nur noch bestürzend: Er hat beschlossen, den Ratifikationsprozess des gescheiterten Verfassungsprojektes fortzusetzen, in dem "der Zeitplan den Umständen angepasst wird" - ein demokratietheoretisch fragwürdiges Vorgehen. Man hat sich darauf geeinigt, eine "Pause zum Nachdenken einzulegen …, um Zeit zu gewinnen", präzisierte Kommissionspräsident M. Barroso. Obendrein hat er der öffentlichen Meinung Europas ein noch karikaturistischeres Bild jenes merkantilen Europas gezeichnet, egoistisch und ohne jenes Projekt, das unsere MitbürgerInnen zu Recht ablehnen! Man hätte den Erwartungen der EuropäerInnen den Rücken nicht deutlicher zukehren können.

Im Kontext dieser verschärften Krise, zu deren weiterem Auflaufen er selbst beigetragen hat, ist nun Tony Blair in die Offensive gegangen. Wohl in der Annahme, Angriff sei die beste Verteidigung, stützt er sich auf die tatsächlichen Misserfolge der gegenwärtigen EU: Massenarbeitslosigkeit, Entfremdung der BürgerInnen, Missachtung bürgerschaftlichen Engagements. Damit rechtfertigt er dann die neoliberalste Lesart der europäischen Vertragstexte, wie sie mit den folgenden Worten vor Kurzem von Schatzkanzler Gordon Brown zusammengefasst wurde: "All regulatory proposals to be tested for their impact on competitiveness"; "give business a central role in the EU rule-making and simplification process"; "reform of the labour market" etc.2 Im Namen der Notwendigkeit, auf den Veränderungswillen der europäischen BürgerInnen zu hören, hat der neue amtierende Präsident des Europäischen Rates entschieden, die "Modernisierung des Sozialmodells" und die "Anpassung an die Globalisierung" als Ecksteine zu setzen. Er betrachtet das NON nicht als gegen die europäische Verfassung, sondern gegen die "europäische Führung" gerichtet … Kein Zweifel: der britische Premierminister wird mit seinen Thesen viele liberale und sozial-liberale Kräfte um sich sammeln, überglücklich, inmitten einer europäischen Existenzkrise den Joker dafür gefunden zu haben, wie "alles anders werden kann, damit nichts sich ändert". Man sieht: Der Sieg des NON in Frankreich ist ein bisher einzigartiges Hilfsmittel, um Europa nach den Vorstellungen der EuropäerInnen zu verändern, doch bleibt alles offen. Europa zu ändern ist ein politischer Kampf, für den wir einen langen Atem brauchen.

Historische Herausforderung

Zeichen einer neuen Zeit: Seit dem 24./25. Juni haben sich VertreterInnen von linken Parteien, Gewerkschaften, Organisationen, bürgerschaftlichen Netzwerken aus 20 Ländern Europas in Paris getroffen, um die nächste Etappe ihres gemeinschaftlichen Engagements zu planen. Sie haben sich nicht nur auf sehr konkrete Ziele für die nächsten Monate geeinigt, sondern auch auf eine Zusammenarbeit, die für alle progressiven Kräfte offen ist, die sich gegen den Neoliberalismus stellen wollen. Die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische grüne Linke (GUE/NGL) im Europaparlament war Mitorganisatorin dieser Initiative.

Zu den unmittelbar bevorstehenden Auseinandersetzungen gehört innerhalb der europäischen Institutionen die Prüfung des symbolhaften Projekts der "Bolkestein-Richtline" zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors. Das Parlament ist dazu aufgerufen, sich bis zum Herbst zu positionieren, wahrscheinlich im Oktober. Mit Blick darauf wird in ganz Europa eine große Demonstration vorbereitet, wahrscheinlich für den 15. Oktober. Dieser Stichtag wird eine Stunde der Wahrheit für die europäischen EntscheidungsträgerInnen, die mit großer Mehrheit für diese Richtlinie sind, aber auch für die linken Kräfte, die überwiegend - jedoch in sehr unterschiedlichem Maß - Gegner der Richtlinie sind. Die Auseinandersetzung mit dem Projekt einer Arbeitszeitrichtlinie bildet eine weitere Etappe dieser Konfrontation; schließlich bleibt der britische Regierungschef unnachgiebig beim Erhalt der Ausnahmeregelungen von der Maximalarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche. Diese beiden Momente werden notwendigerweise verstehen lassen, was die Verfechter einer "Modernisierung des Sozialmodells" damit meinen. Die Idee, die symbolische Summe von einer Million Unterschriften für eine europäische Petition zu sammeln, die den Forderungen zu einer Umkehr der europäischen Politik in einigen Schlüsselaspekten Ausdruck verleihen soll, kommt ebenfalls voran. Die Rolle der EU beim nächsten WTO-Gipfel in Hongkong im Dezember sowie der Gipfel der 25 am Ende dieses Jahres werden von weiteren Aktionen begleitet werden. Die Dynamik des 29. Mai bleibt also lebendig und kann sich in der nächsten Zeit weiter entwickeln.

Parallel zu dieser unersetzlichen sozialen Mobilisierung besteht die andere große Herausforderung, der sich die europäische Linke wird stellen müssen: in europäischer Dimension die Entfaltung einer breiten bürgerschaftlichen Diskussionskultur zu fördern, die, ohne an ein bestimmtes Modell gebunden zu sein, ihre Lehren aus der Erfahrung so noch nie da gewesener Demokratie und aus den Debatten im Prä-Referendums-Frankreich zieht. Das lässt sich natürlich nicht anordnen. Aber die Tatsache, dass diese Erfahrung mit Interesse verfolgt wurde und von Erfolg gekrönt war, lässt Raum für Hoffnung. Das Europa nach dem Referendum wird, was die europäische Linke daraus macht.


Anmerkungen

1) Vergleiche "Eurobaromètre Flash", IP/05/740 (15.06.2005): "le NON à la Constitution n‘est pas un NON à l‘Europe".

2) Rede von Gordon Brown vor dem britischen Unterhaus am 26.05.2005


Der Strasbourger Francis Wurtz ist gelernter Philologe und seit 1999 Vorsitzender der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament. Seit 1979 europäischer Parlamentarier, ist er auch seit dem selben Jahr Mitglied im Vorstand des PCF und dort zuständig für internationale Fragen.

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