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Partizipation als Regulierung

09.04.2016: Konflikte in der Sozialen Arbeit

  
 

Forum Wissenschaft 1/2016; Foto: Pressmaster / shutterstock.com

Auf zwischenmenschlichen Beziehungen mit allen widersprüchlichen Interessen, Wünschen und Vorstellungen und dem Streben nach Vermittlung dieser Widersprüche erwächst die Arbeitsgrundlage für Soziale Arbeit. Konflikte sind mithin zentraler Bestandteil dieser Arbeit. Es geht darum, Handlungsperspektiven daraus zu entwickeln - unter Berücksichtigung immanenter Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Welche Rolle Konflikte in der Sozialen Arbeit spielen, bewertet Timm Kunstreich.1

"Das Fundamentalthema unserer Epoche ist meines Erachtens das der Herrschaft, das seinen Gegensatz, nämlich das Thema der Befreiung, mit setzt als das Ziel, dass es zu erreichen gilt."2

Theoretischer Hintergrund

Wer über Herrschaft spricht, darf über Befreiung nicht schweigen - und umgekehrt. Der Grundkonflikt, der damit gesetzt ist, besteht darin, dass gute Herrschaft sich als Befreiung ausgibt bzw. als Beschützer der Freiheit. Reinhart Wolff spitzt dieses Dilemma in zwei konträren Positionen zu:

Es ist momentan noch offen, ob sich die Soziale Arbeit wieder verstärkt "in die Richtung einer Überwachungs- und Sicherungskultur zur Kontrolle, Ausgrenzung und Verfolgung problembeladener, armer und benachteiligter Randschichten der Bevölkerung und ihrer Kinder" entwickelt oder "in die Richtung der Förderung ganzheitlicher, vielseitiger und pro-aktiver demokratischer Hilfesysteme, die mit Blick auf das Kindeswohl, das Eltern- und Familienwohl und das Gemeinwohl eine solidarische Kultur des Aufwachsen ermöglichen"3 .

In keinem Arbeitsfeld ist es möglich, sich einfach für eine Richtung zu entscheiden, sondern der zentrale Konflikt besteht in allen Arbeitsfeldern darin, dass Elemente beider Pole fast unlösbar ineinander verhakt sind. Um mit diesem Konflikt einigermaßen zurechtzukommen, hat sich in unserer Profession das Bild des "doppelten Mandats" durchgesetzt. In diesem Zusammenhang wird immer auf die angeblichen Begründer dieses Konzeptes verwiesen - Lothar Böhnisch und Hans Lösch -, dabei wird allerdings in der Regel unterschlagen, dass die beiden das "doppelte Mandat" für eine professionelle Ideologie gehalten haben:

"... Dass das ›doppelte Mandat‹ auf der phänomenologischen Ebene vornehmlich als institutionalisierter Loyalität- und Rollenkonflikt erscheint [...], sagt zwar etwas über die Rolle aus, die der Sozialarbeiter in unserer Gesellschaft zu spielen hat, aber nichts über den objektiven Charakter dieser Rollenhaftigkeit."4

Zur Bedeutung des Konflikts5 in der Sozialen Arbeit

  • "Wir sollten unsere Konflikte lieben" (frei nach Malguzzi, dem Begründer der Reggio-Pädagogik).

Konflikt in der kritischen Analyse der "objektiven Charakters der Rollenhaftigkeit" in der Sozialen Arbeit bedeutet nicht "Störung", sondern Anerkennung der Widersprüchlichkeiten der modernen kapitalistischen Gesellschaften.

Latente Konflikte sind konflikthaft, manifeste Konflikte sind konfliktreich. Beide Formen sind zentrale Motoren gesellschaftlicher Entwicklungen. Ein Beispiel für einen latenten Konflikt ist im Zitat von Paulo Freire enthalten: In jeder Vorstellung von Herrschaft ist latent ein Konzept von Befreiung enthalten, das in kritischen Zeiten manifest werden kann, wie die Polarisierung der beiden Richtungen im Zitat von Reinhart Wolff deutlich macht, die einen manifesten Konflikt anzeigt.

Der Grundkonflikt: Objekt oder Subjekt

Die Überwachungs- und Sicherungskultur macht KlientInnen, AdressatInnen, NutzerInnen zu Objekten administrativer und professioneller Entscheidungsprozesse nach dem Motto: "Ich weiß, welcher Platz in der Gesellschaft für dich gut ist." Eine solidarische Kultur des Aufwachsens ist nur denkbar, wenn sich alle Beteiligten, also Fachkräfte und Adressaten oder Nutzerinnen, als Subjekte begegnen und ein "Nutzen" unmittelbar erlebbar wird. Dieser besteht vor allem in einem umfassenden Sinn von Teilhabemacht. Die folgende These unterstreicht diesen Zusammenhang:

Eine Stärkung praktischer Teilhabemacht in der Sozialen Arbeit ist ein Akt politischer Produktivität; Integration und Ausschließung hingegen verweisen auf die institutionelle und damit zugleich herrschaftliche Funktion von Sozialer Arbeit. Oder wie Oskar Negt formuliert: "Sozialarbeit muss an Ort und Stelle die objektiven Handlungs- und Erfahrungschancen der Betroffenen vergrößern, will sie den Kreislauf der Verelendung durchbrechen."6

Entgegen den Tendenzen neoliberal verfasster, moderner Sozialarbeit, die individuelle Nachfragemacht einzelner AkteurInnen (tatsächlich oder angeblich) zu stärken (z.B. in der "Elternnachfrage" bei der Hilfe zur Erziehung oder bei dem Kita-Gutschein), wird erst eine Stärkung individueller und kollektiver Teilhabemacht die Handlungs- und Erfahrungsdomänen der Betroffenen nachhaltig erweitern. Eine derartige Stärkung passiert überall dort, wo professionelle Interventionen von den NutzerInnen als gelingend erlebt werden, nämlich dann, wenn sie eine wichtige Bedeutung im solidarischen Beziehungsgeflecht ihrer Sozialitäten erhalten.7

Dieser Widerspruch ist die grundlegende Konfliktebene politischer Produktivität in der Sozialen Arbeit.

Teilhabemacht wird immer dann gestärkt, wenn z.B. ein Kind sich in einem Setting allseitig aufgehoben fühlt, wenn eine jugendliche Clique in ihrem Drang nach Selbstmächtigkeit unterstützt wird, wenn DrogengebraucherInnen praktische Lebenshilfe zuteilwird, die sie ohne die Eintrittskarte der Entzugswilligkeit in Anspruch nehmen können. Daraus sich ergebende Konflikte werden dann allerdings nicht den NutzerInnen/AdressatInnen als Defizite angelastet, sondern die Konfliktlinie läuft z.B. zwischen professionellen AkteurInnen und institutionellen Managern oder Trägern und Finanziers, d.h. sie verläuft im institutionellen und das bedeutet auch: im zumindest fachöffentlichen sozialen Raum. Zu nennen wären hier u.a. der Kampf gegen die (Wieder-)Einführung der geschlossenen Unterbringung, der Streit um die Herabsetzung der Strafmündigkeit, der Konflikt um akzeptierende Drogenarbeit, die Auseinandersetzung um die Arbeit mit sogenannten rechten Jugendlichen oder ganz aktuell: der Versuch des AKS8 Hamburg, eine fachpolitische Diskussion um den Stufen- bzw. Phasenvollzug vor allem in der Heimerziehung zu provozieren.9

Der zentrale Konflikt in der Sozialen Arbeit besteht also darin, Subjekte in ihren individuellen und kollektiven Teilhaberechten zu stützen (ihnen also dabei zu helfen, ihre Subjektrechte wirklich wahrzunehmen) bzw. darin, alle Tendenzen der Objektivierung (vor allem Ausschließung/Diskriminierung/Nicht-Anerkennung/Disziplinierung) abzuschaffen bzw. - wenn das nicht möglich ist - diese in ihren schlimmsten Auswirkungen zu relativieren.

Genau dieses versucht das Arbeitsprinzip Partizipation.

Die vier Komponenten des Arbeitsprinzips Partizipation sind Problemsetzung, Handlungsorientierung, Assistenz und Verständigung.

Erste Komponente: Problemsetzung

In welcher Situation hat wer welches Anliegen oder Problem?

In der überwiegenden Praxis Sozialer Arbeit wird diese Frage nicht wirklich gestellt, da es klar ist, dass der Professionelle definiert, was das Problem ist. Fachlich besonders beliebt - da mit dem Anschein eines weißen Kittels verbunden - ist das Stellen von Diagnosen, die allerdings aus der Perspektive der Betroffenen nicht selten den Charakter einer üblen Nachrede haben. Damit wird ein in der Regel manifester Konflikt unterdrückt, nämlich der, dass Betroffene häufig eine andere Problemsichtweise bzw. ein anderes Anliegen haben als die Professionellen. Diesen Konflikt will das Arbeitsprinzip Partizipation konstruktiv austragen.

Ausgangs- und Bezugspunkt jeder Überlegung und jeder Handlung im Kontext Sozialer Arbeit ist deshalb die Situation, in der es zwei oder mehrere Menschen miteinander zu tun haben und durch ihre Handlungen ein Netz wechselseitiger Beziehungen knüpfen. Versteht man dieses aktuelle Beziehungsgeflecht als das Besondere und Eigensinnige des Sozialen, so wird deutlich, dass dieses etwas ist, was weder auf psychische Vorgänge noch auf gesellschaftliche Strukturen reduziert werden kann.10 Dass diese Grundannahme nur scheinbar banal ist, wird unmittelbar deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass - egal wie stark die Situation durch ihren Kontext vorgeprägt ist - die Handelnden darüber entscheiden, ob zum Beispiel latente Konflikte manifest gemacht werden. Praktisch bedeutet das: Ausgehend von dem "generativen Thema" einer Situation11, in dem sich alle Kontextelemente dieser Situation bündeln, müssen die in der Situation wirksamen Handlungsperspektiven von allen Beteiligten so miteinander in Beziehung gesetzt werden, dass sie eine - konsensuale oder konflikthafte - Problemsetzung oder Eindeutigkeit des Anliegens erreichen. Die wesentliche Voraussetzung dazu, dass dieses in der Praxis wirklich erreicht wird, ist die Anerkennung der Beteiligten und der in die Situation eingebrachten Wissensdomänen als Gleichwertige, aber Unterschiedliche.

Der stärkste Widerstand, eine derartige Praxis tatsächlich zu realisieren, und die wesentliche Quelle für kaum lösbare Konflikte resultieren aus den Zwangselementen einer Situation, wenn herrschaftliche Normen und deren institutionelle Durchsetzung den Kontext derart prägen, dass deren Befolgung wie eine Selbstverständlichkeit erscheint.

Dass man zur Schule gehen muss, ist zum Beispiel eine derartige Selbstverständlichkeit. Dass es fast unmöglich ist, in Situationen mit strukturellen Machtgefällen eine andere Situationsdefinition zu realisieren als die mit dem Kontext quasi vorgegebene, beschreibt Nicola Ahrens-Tilsner aus ihrer Praxis als Schul-Sozialarbeiterin: "Da ich mir keinen anderen Handlungsraum als den mit der Überschrift ›Schulverweigerung‹ vorstellen konnte, habe ich fast ausschließlich in dieser Kategorie im Beratungsgespräch gearbeitet. Unter der Zielvorgabe ›Bearbeitung der Schulverweigerung‹ geriet die Zusammenarbeit mit Katja aus dem Blick. ›Die Tatsache, dass Hilfe nur in Zusammenarbeit mit der Klientin wirksam sein kann, wird dann schnell zum bloßen Umstand der Umsetzung einer vorgegebenen Zielsetzung‹ (Müller 2008: 117). Zu schnell wird eine eindeutige Sachlage unterstellt, und dabei übersehen, dass es sich im sozialpädagogischen Feld ›nur begrenzt um objektive Tatsachen, sondern vor allem um subjektive Zuschreibungen geht, die je nach Standpunkt verschieden sind‹ (Müller 2008: 117)."12 Aber selbst wenn es gelingen sollte, alle Anliegen in einer Handlungssituation miteinander zu verbinden, ist damit noch nicht automatisch eine auch zu realisierende Handlungsorientierung für die oder den Professionellen gegeben.

Zweite Komponente: Handlungsorientierung

Wie gewinnt die oder der Professionelle eine Handlungsorientierung, wie kann sie oder er das eigene Handeln begründen?

Um diese Frage praktisch folgenreich zu beantworten, ist eine klare Position im Konflikt um die Gleichberechtigung der Wissensdomänen der Beteiligten Voraussetzung. Es geht darum, ob wissenschaftliches Wissen im Alltag und im zwischenmenschlichen Umgang "wahrer" ist als das Alltagswissen oder ob es lediglich eine höhere Deutungsmacht im gesellschaftlichen Kontext hat und ob deshalb "Wahrheit" in der öffentlichen Meinung und im Alltag mit hegemonialer Dominanz verwechselt wird.13 Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht um die Tatsache, dass ein Physiker in seinem Wissenschaftsbereich besser Bescheid weiß als ein Laie, sondern um die Formbestimmtheit wissenschaftlichen Wissens.14 Unter der Voraussetzung, dass "Erkennen als aktives Verstehen"15 eine Fähigkeit aller Menschen ist, gibt es keinen plausiblen Grund für die Annahme, dass eine gesellschaftliche Wissensdomäne anderen aus der Struktur der Erkenntnis (also aus der Denkform, aus der Art und Weise wie Menschen wahrnehmen und denken) heraus überlegen sein soll. Bezogen auf den Fall von "Schulverweigerung" bedeutete das:

"Die im Fall Katja von den Juristen und Psychologen übernommene Diagnose ›Schulverweigerung‹ war folgenreich für alle Beteiligten, am meisten aber für Katja. [...] Indem ich mich dieser Reflexion über mein eigenes Handeln entzogen habe, haben andere darüber entschieden, worüber ich mir selbst ein eigenes Urteil hätte bilden müssen. Die Qualität der sozialpädagogischen Arbeit bemisst sich laut Müller an der ›Klarheit und Fairness, mit der Sozialpädagogen versuchen, diese Perspektiven wechselseitig ins Spiel zu bringen‹ (Müller 2008: 130), ohne dabei die Perspektiven des Adressaten einfach mit der eigenen Sichtweise zu vermengen; oder gar alle Wünsche abzuqualifizieren oder weg zu definieren, für deren Erfüllung es keine Vorschriften gibt. Indem ich mich auf die institutionelle Bedeutung des Falles gestützt habe, bin ich im weiteren Verlauf der Beratung auch mit dem Versuch einer professionellen, dialogischen Verständigung gescheitert,[...]."16 Sie hat also die Wissensdomäne von Katja nicht als gleichberechtigt erkannt bzw. anerkannt.

Dritte Komponente: Assistenz

Wie können "prospektive Dialoge" gelingen?

Das, was Professionelle der Sozialen Arbeit tatsächlich tun, wird - je nach professionellem Selbstverständnis - unterschiedlich benannt: behandeln, intervenieren, therapieren, beraten, erziehen, bilden usw. In der Regel spielen hier Fachwissen und spezielle Expertisen die zentrale Rolle - eng verbunden mit der tatsächlichen oder symbolischen Schlüsselgewalt.

Auch wenn Assistenz nicht bedeutet, die eigene Professionalität zurückzustellen - im Gegenteil: hier kommt sie voll zur Geltung! -, bleibt die strukturelle Distanz zwischen Professionellem und KlientInnen/AdressatInnen/NutzerInnen/Betroffenen erhalten und damit auch die professionelle Dominanz. Sie kann nicht übersprungen werden, muss aber immer in das eigene Handlungskonzept einbezogen bleiben. Hier kommt es ganz zentral auf den Inhalt der jeweiligen Kooperation an. Ein einfaches Befehl-Gehorsam-System verstärkt die hierarchische Distanz, hingegen kann Arbeit an einem gemeinsamen Vorhaben sie situativ aufheben. Sie ist dann ein Element, das sich aus der "gemeinsamen Aufgabenstellung als Medium sozialpädagogischer Tätigkeit" ergibt17 und damit unterschiedliche, aber gleichwertige Deutungsmuster bzw. Wissensdomänen im Handeln vereint.

Wie konflikthaft es ist, derartige Assistenz als prospektive Dialoge zu realisieren, beschreibt wiederum exemplarisch Nicola Ahrens-Tilsner: "Katja wollte in ihrer schwierigen Situation Hilfe dabei, ihr Leben außerhalb von Schule zu bewältigen. Mit diesem Anliegen ist sie aber in der Beratung nicht wahrgenommen worden. [...] Ihr Anliegen ist aber nicht wirklich zur Sprache gekommen. [...] Erst wenn diese Subjektivität in den Mittelpunkt gerückt wird, wird die Adressatin in der Lage sein, sich selbst als Handelnde zu erleben."18

Vierte Komponente: Verständigung

Verständigung wird dort nötig, wo Verstehen aufhört.

Problemsetzung bzw. die Klärung von Anliegen, Gewinnen einer Handlungsorientierung, Assistenz - das klingt nach einer klaren, einfachen Reihenfolge von Bearbeitungsschritten. Das ist in der Praxis aber nicht möglich und auch nicht sinnvoll, denn diese drei Komponenten sind zum einen untereinander eng verbunden und sind zum anderen jede für sich mit einer vierten verbunden, mit deren Hilfe sie sich erst realisieren können - vergleichbar den einzelnen Komponenten in einem Mehrkomponentenkleber. Diese vierte Komponente heißt Verständigung, denn alle Komponenten des Arbeitsprinzips Partizipation sind nur als Verständigungsprozesse denkbar und möglich. Deshalb liegt die Praxis der Verständigung quasi quer zu den anderen drei Komponenten. Verständigung in diesem Sinne macht auch immer wieder deutlich, dass es möglich ist, die Grenzen des "bloßen Verstehens" zu überschreiten - eben in prospektiven Dialogen. Vorschnelles Verstehen ist nicht selten eine Konsequenz "retrospektiver Monologe", die durch Bezug auf angeblich höheres Wissen meinen, verstanden zu haben, warum eine Person sich so verhält, wie sie es tut. Verständigung hingegen beginnt mit dem Zweifel am eigenen Verstehen und will herausfinden, welche Handlungsoptionen in der aktuellen Situation liegen. Das kann zu Konflikten führen bzw. zur Bearbeitung von Konflikten. Das wiederum ist nur in "prospektiven Dialogen" möglich. Nicola Ahrens-Tilsner hat diesen Perspektivenwechsel erfahren: "Es vollzog sich ein Perspektivwechsel von der rechtlich-institutionellen Perspektive auf den Fall als ›Fall von Schulverweigerung‹ zu einem Blick auf eine individuelle Bewältigungsstrategie einer Schülerin in einer besonderen Lebenslage. Mir wurde deutlich, dass jede Zuordnung eines ›Fall von‹ sich der Fall in einen anderen Handlungsraum verlagert. Hier ist der Fall an seine Grenzen gestoßen: eine Verlagerung des Handlungsraumes war im Rahmen des institutionellen Handlungskontextes mit seinem gesetzlichen Auftrag und dessen erster Priorität, der Sorge um die Erfüllung der Schulpflicht, nicht möglich."19

Die Komponenten Problemsetzung, Handlungsorientierung und Assistenz, verbunden durch dialogische Verständigung, verzichten auf jede Andeutung eines "weißen Kittels" (und deshalb ist das Arbeitsprinzip Partizipation vielleicht professionspolitisch gar nicht so erstrebenswert), sind auf der anderen Seite aber auch "praktisch" genug, tatsächliche Konflikte und Widersprüche in einer Weise produktiv aufzunehmen, die sowohl überzogene Selbstidealisierung ("Mandat für die Unterdrückten") als auch zynische Anpassung ("hier muss aber eine Grenze gesetzt werden") verhindert.

Anmerkungen

1) Leicht gekürztes Manuskript des am 16.12.2015 gehaltenen Vortrages an der Hochschule Hannover.

2) Paulo Freire 1973: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek: 85.

3) Reinhart Wolff 2012: Info NZFH (Nationales Zentrum Frühe Hilfen), rev. 11.1.2012: 11-26; hier: 26.

4) Lothar Böhnisch / Hans Lösch 1973: "Das Handlungsverständnis des Sozialarbeiters und seine institutionelle Determination", in: Hans-Uwe Otto / Siegfried Schneider (Hg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Neuwied/Berlin, 2. Halbband: 21-40; hier: 25ff. Diesen objektiven Charakter habe ich in meiner Dissertation von 1975 als "institutionalisierten Konflikt" (so der Titel) empirisch untersucht und versucht, aus dieser Analyse die Basis eines partizipativen Verständnisses von Sozialer Arbeit zu entwickeln.

5) Noch immer grundlegend: Lewis A. Coser 1965: Theorie sozialer Konflikte, Neuwied/Berlin; Hans Jürgen Krysmanski 1971: Soziologie des Konflikts, Reinbek.

6) Oskar Negt 1978: "Notizen zum Verhältnis von Produktion und Reproduktion am Beispiel des politischen Selbstverständnisses von Sozialarbeitern", in: Adrian Gaertner / Christoph Sachße (Hg.): Politische Produktivität der Sozialarbeit, Frankfurt am Main: 59-71; hier: 66.

7) Timm Kunstreich 2014a: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit, Bd. 1: 13ff; vgl. auch Langhanky 2001.

8) Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit.

9) Die Provokation ist erfolgreich - EREV (Evangelischer Erziehungsverband) und IGfH (Internationale Gesellschaft für Heimerziehung) setzen sich inzwischen damit auseinander.

10) Genauer: Kunstreich 2014a, a.a.O.: 7ff.

11) Freire 1973, a.a.O.: 84.

12) Nicola Ahrens-Tilsner 2009: Schulverweigerung - ein klarer Fall? Bachelorarbeit (Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg): 29; Hervorhebung i. O.

13) Zygmunt Bauman 1995: Ansichten der Postmoderne, Hamburg: 103.

14) Max Horkheimer 1937/1980: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M.: 144ff.

15) Georg Hans Neuweg 2001: Könnerschaft und implizites Wissen, Münster: 168.

16) Nicola Ahrens-Tilsner 2009, a.a.O.: 31; Burghard Müller 2008: Sozialpädagogisches Können, Freiburg.

17) Eberhard Mannschatz 2003: Gemeinsame Aufgabenbewältigung als Medium sozialpädagogischer Tätigkeit, Berlin.

18) Nicola Ahrens-Tilsner 2009, a.a.O.: 27f.

19) Nicola Ahrens-Tilsner 2009, a.a.O.: 33.


Timm Kunstreich (geb. 1944), Sozialarbeitswissenschaftler, Prof. Dr. em. an der Evangelischen Fachhochschule Hamburg; Mitglied in der Redaktion der Zeitschrift Widersprüche und im Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) Hamburg. Sein zweibändiger "Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit" (2014) kann kostenlos herunter geladen werden unter: timm-kunstreich.de.

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