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Klaus Holzkamp

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Neusortierung des deutschen Parteiensystems

01.01.2014: Nachlese zu den Bundestagswahlen 2013

  
 

Forum Wissenschaft 4/2013; Foto: stm/Photocase

Benjamin Hoff analysiert vor dem Hintergrund der Bundestagswahlen 2013 die langfristigen Trends des deutschen Parteiensystems. Es zeichnen sich mittelfristig neue Koalitionsmöglichkeiten ab, denen allerdings ein politisches Projekt fehlt.

Die Dimension mancher Ereignisse eröffnet sich erst mit einigem Abstand. Es könnte sein, dass die Bundestagswahl 2013 zu diesen Ereignissen gehört.

Künftig sind nur noch fünf Parteien in vier Fraktionen im Bundestag, denn erstmals seit 1949 scheiterten die Liberalen bei einer Bundestagswahl an der 5%-Hürde.

Niemals in den vergangenen 50 Jahren bundesdeutscher Geschichte entfielen so viele abgegebene Wahlstimmen auf Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind. Rechnet man die Wahlbeteiligung hinzu, dann repräsentiert das neu gewählte Parlament nur noch 59,5% der Wahlberechtigten in Deutschland.

Die Unionsparteien verfehlten nur knapp die absolute Mehrheit der Stimmen und wollen mit der SPD erneut eine Große Koalition eingehen.

Sollte es dazu kommen, wird die Opposition über so wenig Mandate verfügen, dass sie bestimmte Minderheitsrechte nur in Absprache mit den Mehrheitsfraktionen wahrnehmen kann. (Tabelle 1)

Längerfristige Trends im Parteiensystem

Seit Mitte der 1990er Jahre deutet sich eine fünfte Phase der Entwicklung des deutschen Parteiensystems an; geprägt durch dessen Pluralisierung, eine höhere Volatilität der Wähler sowie eine fortgesetzte Abschwächung der Dominanz der Volksparteien.

Wurde in den 1990er Jahren die hohe Volatilität der Wähler als ein überwiegend ostdeutsches Phänomen betrachtet, zeigte sich dieses in den vergangenen Jahren in ganz Deutschland. Die Zustimmung zu Parteien nimmt in kurzen Zeitphasen stark zu und schwächt sich ebenso stark wieder ab.

Seit der Stabilisierung des Parteiensystems in den 1960ern und bis Ende der 1980er lagen die Veränderungen bei den Ergebnissen der vier relevanten Parteien (CDU, SPD, FDP und Grüne) in einem Korridor von bis zu maximal knapp zehn Prozentpunkten zur jeweils vorhergehenden Wahl. Seit 2001 wurden insgesamt 22 Ereignisse ermittelt, bei denen die CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne und LINKE mehr als zehn Prozentpunkte jeweils bezogen auf die vorhergehende Wahl verloren oder hinzugewonnen haben. Die Zahl erhöht sich, wenn Wahlen aus den 1990er Jahren hinzugezählt werden, auf 26 (Tabelle 2).

Volksparteien sind heute nicht mehr zwangsläufig "Großparteien". Sie haben an Bindungskraft verloren. Die Landtagswahl 2012 in Baden-Württemberg symbolisiert diese Veränderung. Dort gelang den Grünen - in Folge der Katastrophe von Fukushima - ein Doppelschlag: Erstmals nach 50 Jahren ununterbrochener Regierungstätigkeit stellen die Grünen den Ministerpräsidenten - die SPD agiert als kleinerer Koalitionspartner. Kurze Zeit später deklassierten die Grünen in Bremen erneut die CDU und wurden zweitstärkste Partei.

Die abnehmende Dominanz der Volksparteien führt in Verbindung mit Volatilität der Wähler/-innen und der Pluralisierung des Parteienspektrums dazu, dass die bisher bestehenden Lager rot-grün vs. schwarz-gelb nicht mehr zwangsläufig in der Lage sind, parlamentarische Mehrheiten zu erzeugen. Sollen Bündnisse aus SPD und CDU nicht der Koalitionsregelfall in Deutschland werden, ist erhöhte Flexibilität von allen Parteien gefordert.

Politische Bequemlichkeit statt Interesse an Gestaltungspolitik

Während hierzulande die Große Koalition als quasi natürliches Ergebnis der Bundestagswahl kommentiert wird, wäre in vielen anderen Staaten ein solches Bündnis überhaupt nicht zwangsläufig.

In jedem unserer skandinavischen Nachbarstaaten würden konservative Parteien, wenn sie so stark geworden wären, wie die CDU/CSU, eine komfortable und vermutlich sogar vier Jahre andauernde Minderheitsregierung bilden.

Dass Union und Grüne weder in Hessen noch im Bund miteinander koalieren, überrascht auswärts ebenso, wie die Tatsache, dass, obwohl SPD, Linke und Grüne im Bundestag eine Koalition bilden könnten, sie sich nicht einmal gemeinsam an einen Tisch setzen, um auszuloten, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen gemeinsam geteilte politische Anliegen durchgesetzt werden könnten.

Uns Deutschen fehlt offensichtlich die Kreativität bei der Regierungsbildung. Denn wer hierzulande das Modell der Tolerierung einer Minderheitsregierung ins Spiel bringt, wird gemeinhin damit konfrontiert, dass "stabile politische Verhältnisse" erforderlich seien. Dass sich Tolerierung und Stabilität nicht ausschließen müssen, ergibt ein Blick auf die durchaus vorzeigbaren Erfahrungen mit der Tolerierung von Minderheitsregierungen auf Landesebene.

Bessere Zeiten für Schwarz-Grün gab es selten

Man muss kein Anhänger von schwarz-grün sein, um festzustellen, dass die Entscheidung der Grünen, die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien abzulehnen, nach dieser Bundestagswahl - anders als 2005 - mindestens leichtfertig war.

Das Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag eröffnet für die Grünen die Gelegenheit, sich als liberale Bürgerrechtspartei zu profilieren. Der historische FDP-Fehler bestand in der Aufgabe des sozial-liberalen Erbes und der Selbst-Reduzierung auf die Partei der "Besserverdienenden". Richard Herzinger empfiehlt in der Welt vom 8. Oktober 2013 der FDP, sich dort umzusehen, wo immer größere Teile der Gesellschaft sich Freiräume schaffen, "jenseits von staatlicher Gängelung und Subventionierung". Sieht man einmal davon ab, dass die Überführung von z.B. Kindertagesstätten in freie Trägerschaft sicherlich keine staatliche Gängelung ist, sondern Selbstorganisation und öffentliche Förderung verknüpft, und dass die negative Konnotation der "Subventionierung" selbst wieder propagandistisch wirkt, hat der Vorschlag von Herzinger einen Mangel. Dort, wo er die Liberalen künftig sehen möchte, befinden sich bereits die Grünen. Denn dieses Milieu ist der Humus, der sie trägt, aus dem sie entstanden sind.

In den vergangenen vier Jahren hat Angela Merkel in dem ihr eigenen pragmatischen Regierungsstil mehr oder weniger geräuschlos wesentliche Kernkonflikte, bei denen Union und Grüne sich als Antipoden gegenüberstanden, abgeräumt:

  • der Atomausstieg ist beschlossen,

  • die Wehrpflicht abgeschafft,

  • die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften weitgehend der Ehe gleichgestellt

  • eine CDU-Arbeitsministerin tritt für eine starre Frauenquote in Aufsichtsräten ein.
  • Hätten die Grünen diese Ergebnisse in einer Regierung mit der SPD umgesetzt - sie könnten vermutlich vor Kraft kaum laufen. Gerade deshalb ist es schwer verständlich, warum sie die Chance, in Regierungsverantwortung den Begriff des Sozialliberalismus aus ihrer Geschichte heraus neu zu buchstabieren, nicht wahrgenommen haben.

    Die Tür zu rot-grün-roten Bündnissen hätten sich die Grünen damit sicherlich nicht verbaut - dazu ist das Eigeninteresse von SPD und Linken zu stark.

    Minderheitsregierungen: nicht instabil aber aufwendiger

    Dass die Annahme, Minderheitsregierungen wären grundsätzlich instabil, in den Bereich der politischen Legende gehört, wurde bereits ausgeführt. Ob sie erfolgreich sind oder nicht, hängt von der Stärke der einen oder mehreren Parteien in der Minderheit ab und von der Fähigkeit, der Regierung, Mehrheiten im Parlament zu finden.

    Unbestritten ist sicherlich die Fähigkeit Merkels zu pragmatischen Kompromissen. Eine Minderheitsregierung von CDU/CSU könnte sich im Bundestag auf 311 von 630 Mandaten stützen. Die Union regiert derzeit, Hessen eingeschlossen, in acht von 16 Bundesländern. Obwohl sie im Bundesrat nur über die sechs bayerischen Stimmen verfügt, umfassen die Länder mit Unionsbeteiligung derzeit insgesamt 35 Stimmen. Demgegenüber wird sich die Große Koalition im Bundesrat, - einschließlich Hessen und Bayern - nur auf 32 Stimmen stützen können.

    Unbestritten wäre eine CDU/CSU-Minderheitsregierung angesichts der parlamentarischen Mehrheit von rot-grün-rot ein Risiko. Doch das tatsächliche Problem einer Unions-Minderheitsregierung liegt in der Union selbst.

    Nicht auszuschließen, dass diese Wahlperiode die Abenddämmerung der Kanzlerschaft von Angela Merkel einläutet. Die Unionsparteien haben, entgegen allen Prognosen vom Ende der Volksparteien, bei der Bundestagswahl 2013 über 40% der Stimmen bei gestiegener Wahlbeteiligung erreicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Partei mit einem überragenden Wahlergebnis den Gipfel erreicht, nachdem es unweigerlich abwärts geht.

    Nicht erst in der Nachbetrachtung der Bundestagswahl ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Unionsparteien heute wieder stark dem Kanzlerwahlverein ähneln, zu dem sie bereits unter Helmut Kohl verkümmerten. In einer Großen Koalition mit 503 von 630 Mandaten lassen sich die Fliehkräfte in CDU/CSU gut verkraften, während sie in einer Minderheitsregierung tatsächliche Sprengkraft entfalten könnten. Möglicherweise würde dies den Unionsparteien eher guttun, als die Behäbigkeit großkoalitionärer Politik.

    Eine rot-grüne Minderheitsregierung würde im Bundestag aus sich selbst heraus zwar nur auf 255 von 630 Mandaten kommen, doch könnte sie sich in einer Vielzahl der politischen Entscheidungen der Zustimmung der Linken sicher sein. Darüber hinaus verfügt rot-grün-rot im Bundesrat derzeit über eine Mehrheit von 36 der 69 Stimmen und es könnten 23 Stimmen mehr sein, würde die SPD statt Große Koalitionen zu bevorzugen, die rechnerischen rot-(grün-) roten Mehrheiten in Hessen, Thüringen, dem Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt ausnützen.

    Nach der Wahl waren sich die vormaligen sozialdemokratischen Wahlkämpfer/-innen einig: Einen Ausschluss von rot-grün-rot dürfe es künftig nicht mehr geben, wolle man eine ernsthafte Chance auf eine erfolgreiche SPD-Kanzlerkandidatur haben. Auf dem Bundesparteitag der SPD soll dies sogar in einen Beschluss gegossen werden. Dieser Positionswandel wird zwar begleitet von der Beschreibung weiterhin bestehender Differenzen zwischen den drei Parteien, doch wären entsprechende Bündnisse sicherlich nicht erfolgloser als das Kabinett Merkel/Westerwelle/Rösler.

    Selbst wenn die Skepsis überwiegen sollte, ist ein erneuter Blick nach Norwegen hilfreich. Dort wurde bei der jüngsten Parlamentswahl die erfolgreiche rot-grün-rote Regierung unter Ministerpräsident Stoltenberg abgewählt. Die Ursache: Der Wunsch nach einem politischen Wechsel. Seitdem amtiert dort die bürgerliche Høyre mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei als Minderheitsregierung "mit Beitrittsoption". Obwohl die kleineren Christdemokraten und Liberalen mit der Fortschrittspartei kein Bündnis eingehen wollten, unterzeichneten alle vier Parteien ein Abkommen mit detaillierten Vereinbarungen für die kommenden Jahre. Und ein Beitritt im Laufe der Wahlperiode zur Regierung steht ihnen jederzeit offen.

    Der frühere Berliner Wirtschaftssenator der Linken, Harald Wolf, hat vor der Bundestagswahl im Politmagazin Cicero bedenkenswerte Argumente gegen eine rot-grün-rote Koalition auf Bundesebene zum jetzigen Zeitpunkt geäußert und für eine Tolerierung von rot-grün durch die Linke plädiert. Dem halten Vertreter/-innen von SPD und Grünen entgegen, dass die Linke sich in einer solchen Situation die Rosinen der Regierungsarbeit herauspicken und bei den schwierigen Entscheidungen einen "schlanken Fuß" machen würde. Unabhängig davon, ob der Vorwurf zutreffend ist oder nicht - das Modell Norwegen würde diesen Einwand überzeugend entkräften und Mehrheitsbildungen ermöglichen.

    Rot-grün-rot: Sinnvolle Perspektive aber kein politisches Projekt

    Mit der Entscheidung für eine große Koalition im Bund werden diese Gedankenspiele ebenso hinfällig wie vergleichbare Entscheidungen in Wiesbaden für Hessen. Dies ist zwar ärgerlich aber kein Grund für Vorwürfe - jenseits der politisch-medial gebotenen Empörung.

    Die rot-grün-roten Sondierungen in Hessen sind für das Verhältnis der drei Parteien von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Nirgendwo haben die drei Parteien bislang so ernsthaft, unaufgeregt und insgesamt offen über ein rot-grün-rotes Bündnis verhandelt. Das allein ist bereits ein Fortschritt im Diskurs zwischen den drei Parteien, der mit dem Begriff "akkumulierte Enttäuschungserfahrung" freundlich umschrieben ist. Deutlicher formuliert könnte man sagen: Es besteht kein Vertrauen in die jeweils andere Partei. Dass Deutschland zudem nur wenige jüngere Erfahrungen im Setting eines Dreier-Bündnisses hat, kommt erschwerend hinzu:

    • Die Konflikte zwischen SPD und Grünen ("Koch und Kellner") sind legendär. Man möge sich nur an die Debatten um Garzweiler II in NRW erinnern.
    • Dass rot-grün in Berlin scheiterte, lag nicht an den nur zwei Stimmen Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Dort sitzen zwei wohlwollende Parteien in der Opposition (LINKE und Piraten). Ursache war das tief greifende beiderseitige Misstrauen zwischen den SPD und Grünen in der Hauptstadt.
    • Die Sondierungsgespräche in NRW und Thüringen waren Ausdruck von fehlendem Vertrauen zwischen allen drei R2G-Parteien und mussten deshalb scheitern.
    • Die Hessenwahl 2008 endete bekanntermaßen im Fiasko und dass in NRW einige gute gemeinsame Erfahrungen gemacht wurden, ist über das Ende der Minderheitsregierung und den Landtagsverlust der LINKEN in der kollektiven Erinnerung verschüttet worden.
    • Die Entscheidung der SPD, in Ostdeutschland sowie im Saarland lieber mit der CDU als mit der LINKEN zu koalieren, war sowohl der irrigen Annahme geschuldet, die Linke durch Ausgrenzung bedeutungslos zu machen, sowie nicht zu unterschätzenden lokalen Erwägungen auf der Beziehungsebene. Lafontaine und Maas - das ging eben nicht zusammen.
    • An das funktionierende Tolerierungsmodell in Sachsen-Anhalt 1994-1998 können sich nur noch wenige erinnern. Die Tolerierung in Berlin 2001 war die Ouvertüre für zehn Jahre rot-rot und dauerte nur einige Monate.
    • Die Linke tut gut daran, den eigenen Anspruch an rot-grün-rot zu relativieren. Ihre Koalitionsoptionen sind bislang digital: 0/1. Entweder es kommt zu einem Bündnis oder die LINKE ist in der Opposition. Ist der eigene Slogan: "Alle wollen regieren, wir wollen verändern" ernst gemeint, dann ist dies vordergründig kein Problem. Auch wenn eine Daueropposition für die Linke keine Option ist, sofern man nicht enden will wie die bayerische SPD.

      Relativiert die Linke ihren eigenen Anspruch an rot-grün-rot, kann sie auch verbal gegenüber SPD und Grünen abrüsten. Dies ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Die SPD sollte sich nicht weiterhin Vorbehalte gegen Bündnisse mit der Linken ausdenken, die immer weniger überzeugen, nachdem Lafontaine in den Ruhestand gegangen ist. Die Linke ihrerseits sollte damit aufhören - wie Katrin Rönicke im FAZ-Blog Stefan Reinicke von der taz zitierend so schön formuliert - mit der SPD wie mit einem Schwererziehbaren oder Alkoholiker umzugehen, bei dem man immer aufpassen muss, dass er nicht rückfällig wird und mal eben neue Hartz-Gesetze verabschiedet.1

      Kurzum: Die Ambivalenz der Linken, Regierungsbeteiligungen einerseits rundheraus abzulehnen, aber auf Ablehnung durch SPD und Grünen mit der Attitüde des enttäuschten und beleidigten Liebhabers zu reagieren, ist unglaubwürdig, wenn man in der Sache dazu übergehen möchte, aktiv an den inhaltlichen Untersetzungen und der politischen Umsetzung von Reformalternativen zu arbeiten.

      Alle Akteure sollten sich im Zuge der Rationalisierung des Verhältnisses zwischen den potenziellen Partner/-innen bemühen, rot-grün-rot nicht als politisches Projekt zu überhöhen und die Fehler von rot-grün zu wiederholen. Die linken Flügel von SPD und Grünen berauschten sich jahrelang an den Möglichkeiten von rot-grün. Der Crossover-Diskurs der 1990er Jahre ist beredtes Zeugnis radikalreformerischer Hoffnungen. Letztlich wurden Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt wurden. Ein bloßes Anknüpfen an diesen Diskurs ohne kritische Reflexion darüber, worin die strukturellen Irrtümer über die Umsetzungsmöglichkeiten postfordistischer Regulation durch Bildung einer rot-grünen Bundesregierung lagen, wäre der erste Spatenstich für das Begräbnis rot-grün-roter Regierungsarbeit (Böhning/Hoff 2007).

      Wer das heute Unmögliche, eine Bundesregierung aus SPD, Grünen und Linken erreichen will, hat realistisch zu sein: Koalitionen oder Tolerierungen sind Bündnisse auf Zeit. Nicht mehr, nicht weniger. Ein politisches Projekt für den wünschenswerten gesellschaftlichen Politikwechsel sind sie eben nur zum Teil. Dieser wird freilich auch nicht beschleunigt, wenn sich die beteiligten Akteure der Zusammenarbeit verweigern.

      Was tun? Was tun!

      Es ist deutlich geworden, dass dieser Beitrag sich weniger der inhaltlichen Umschreibung von Reformalternativen als der Rationalisierung des Verhältnisses zwischen SPD, Grünen und Linken widmet. Reformalternativen zur Durchsetzung zu verhelfen bedeutet in gleichem Maße:

      • die ernsthafte Arbeit an konsistenten politischen Konzepten,

      • Arbeit an der politischen und zwischenmenschlichen Kommunikation im rot-grün-roten Lager,
      • Authentizität und Vertrauen in der Kooperation mit bzw. als Teil von Institutionen, Verbänden und Akteuren im radikalreformerischen Spektrum.
      • Aufgrund von Ressourcen, Zeit und Möglichkeiten kommt den Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen und LINKEN eine besondere Verantwortung zu. Ein Ort der Vertrauensbildung, wie ihn bislang die sogenannte Oslo-Gruppe darstellte, wäre dazu aus dem Status des Mauerblümchens herauszuholen. Toni Hofreiter gehörte diesem Kreis bislang an, nun ist er Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. Es gibt schlechtere Ausgangsbedingungen als diese.

        Auch die rot-grün-roten parteinahen Stiftungen, gewerkschaftsnahe Stiftungen oder linksreformerische Think-Tanks bzw. Verbände, wie z.B. der BdWi, tragen Verantwortung für rot-grün-rote Diskurse einerseits sowie die Klärung differierender Positionierungen andererseits. Drei Beispiele seien genannt: Progressive Europa-Politik angesichts europäischer Des-Integration, Grenzen und Möglichkeiten gemeinsamer rot-grün-roter Außen- und Sicherheitspolitik, Perspektiven sozial-ökologischer Energie- und Industriepolitik.

        Damit eine solche Debatte Futter bekommt, ist das linksreformerische Spektrum innerhalb der Linken gehalten, bislang ungeklärte Themen innerhalb der Partei selbst aufzurufen. Es ist anzunehmen, dass ein gemeinsamer Begriff davon, was eine linke Außen- und Sicherheitspolitik sein kann und soll, auch innerhalb des Spektrums noch nicht abschließend diskutiert ist. Das Thema ist deshalb endlich aufzugreifen und diskutierfähig zu machen, statt außen- und sicherheitspolitische Glaubenssätze einzubalsamieren und im Partei-Mausoleum auszustellen.

        Mit gleicher Offenheit wäre in der Linken zu diskutieren, wie die Beschlüsse zu Mindestrente, Grundsicherung, Kindergrundsicherung sowie Positionen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen solide miteinander verbunden werden können und an welcher Stelle derzeit Inkonsistenzen bestehen.

        Wo die Desiderate reformpolitischer Inhalte liegen, müssen SPD und Grüne zunächst für sich selbst definieren. Letztere haben mit der Entscheidung ihres Berliner Parteitages nach der verlorenen Bundestagswahl, künftig neben rot-grün ebenso aktiv auf rot-grün-rote oder schwarz-grüne Bündnisse hinzuwirken, eine realistische Ausgangslage zur Erhöhung der eigenen Handlungsfähigkeit getroffen. Der linke und der SPD-Diskurs werden sich entsprechend verändern müssen. Denn nicht Haltelinien oder Abgrenzung ist die Antwort auf die neuen Herausforderungen im Parteiensystem, sondern konkrete Lernerfahrungen der Zusammenarbeit, auf Gemeinde- und Landes- bis hin zur Bundesebene.

        Verwendete Literatur:

        Böhning, B./Hoff, B.-I. 2007: "›New Deal‹ - keine Rolle rückwärts. Plädoyer für eine radikalreformerische Politik", in: Freitag

        Infratest dimap, 2012. ARD-DeutschlandTREND April 2012, www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2012/april/

        Köcher, R. 2013: Alternative für Deutschland?

        Wipperling, A. 2007: Protest parties in responsibility of government, Dissertation at the University of Potsdam. opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/2703/pdf/wipperling_diss.pdf

        Wolf, H. 2013: "Wechselnde Mehrheiten statt rot-rot-grün", in: Cicero-online, 05.08.2013, www.cicero.de/berliner-republik/ex-senator-gegen-gysi-wechselnde-mehrheiten-statt-rot-rot-gruen/55282

        Anmerkung

        1 blogs.faz.net/wost/2013/09/29/nicht-mit-schmuddelkind-519/.

        Benjamin-Immanuel Hoff ist Sozialwissenschaftler, Staatssekretär a.D. und CEO des Beratungsunternehmens MehrWertConsult. An der Alice-Salomon-Hochschule Berlin ist er Honorarprofessor. Er gehört dem linksreformerischen "forum demokratischer sozialismus" (fds) in der Partei DIE LINKE an und ist noch bis Dezember 2013 dessen Bundessprecher.

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