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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Zweite Lektüre

24.09.2012: Publikation mit Hindernissen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2012; Foto: Fotolia.com – koya79

Am 12. Mai diesen Jahres lud die Marx-Engels-Stiftung zu einem Kolloquium zum Gedenken an den Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski nach Wuppertal. Zu diesem Anlass unterzog Georg Fülberth das bekannteste Buch Kuczynskis einer erneuten Lektüre. Auf diese Weise spürt er den Entwicklungen im Denken des Autors nach. Wir danken der Redaktion der Marxistischen Blätter, die in ihrer aktuellen Ausgabe alle Referate dieses Kolloquiums dokumentieren, für die Genehmigung zum Abdruck dieses Textes.

1977 schloss Jürgen Kuczynski sein Buch Dialog mit meinem Urenkel ab. Erinnerungen alter Genossen mussten vor dem Druck dem Zentralkomitee vorgelegt werden, die Veröffentlichung wurde Jahr um Jahr verzögert. Angeblich hat Erich Honeckers Tochter Sonja schließlich 1983 eine erste Auflage erwirkt, die aber Bückware blieb. Kurz danach war das Buch wieder verschwunden. Der Spiegel wies darauf hin. Im Vorfeld seines achtzigsten Geburtstages ließ Jürgen Kuczynski durchblicken, dass er sich jeglicher Ehrung entziehen werde, wenn der Dialog mit meinem Urenkel nicht wieder erscheinen werde. Das Buch kam dann 1984 tatsächlich wieder heraus, wurde ein Bestseller in der DDR und auch in der Bundesrepublik sehr beachtet. 1996 folgte ein zweiter Band: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel.

Der Inhalt

Das Buch von 1977/1983/1996 ist ein Stück Autobiografie, eine Festrede auf die Deutsche Demokratische Republik und eine Kritik.

Die autobiografischen Abschnitte setzen - wenngleich nur in fragmentarischer Form - die Memoiren Jürgen Kuczynskis, die erstmals 1973 erschienen waren,1 fort. Hierher gehören auch Briefe von einer China-Reise und das Tagebuch eines Kuba-Aufenthalts 1977.

Die Auseinandersetzung mit der DDR folgt den stilistischen Regeln einer Würdigung. Über dieses Genre hat sich Jürgen Kuczynski im Zusammenhang mit einer Festrede auf die Völker der UdSSR, die er 1977 zu einem Jubiläum der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft hielt, geäußert. Vor diesem Text hatte er seinem Urenkel über die Stalinzeit erzählt. Jetzt, in der Rede, kam diese nicht mehr vor. Jürgen Kuczynski, der ein sehr bewusster Stilist war, wusste was bei einer solchen Gelegenheit gesagt werden konnte und was nicht, es war eine Frage des Taktes: gelogen durfte auch jetzt nicht werden; Positives wurde erwähnt, Negatives als bekannt vorausgesetzt. Dies klingt nach "de mortuis nihil nisi bene" (Wenn man über Tote kurz nach ihrem Ableben redet, soll vorerst nur das Gute zur Sprache kommen). Tatsächlich hat Jürgen Kuczynski dieses Prinzip auch noch an einer anderen Stelle des Dialogs mit meinem Urenkel angewandt: als Antwort auf die Frage: "Warst Du eigentlich mit Deiner Beerdigung zufrieden, Urgroßvater?" Er erinnert daran, dass er zu Lebzeiten immer in Meinungsstreit gestanden habe, und hofft, dass auch nach seinem Tod noch kontrovers über ihn geurteilt werden möge. Am Grab aber könne das unterbleiben. Das gehöre eben zum Stilprinzip einer solchen Ansprache.

Der Inhalt jener Teile des Dialogs mit meinem Urenkel, die als Festrede auf die Deutsche Demokratische Republik gelten können, lässt sich so zusammenfassen:

Die DDR sei eine sozialistische Gesellschaft, allerdings - hier widerspricht Kuczynski der damaligen offiziellen Version - eine noch nicht entwickelte, sondern eine sich erst entwickelnde. Aber dieser Sozialismus sei nicht mehr rückgängig zu machen. Folgende Kritik wird geübt: Es gehe zu langsam voran. Ursachen seien die Bürokratie und übertriebene Kontrolle der Politik über Wissenschaft und Medien. Presse, Funk, Fernsehen und Gesellschaftswissenschaften seien von Schönfärberei beherrscht.

Das ist alles an Kritik. Allerdings wird sie auch indirekt geübt: in zwei Grabreden für Fritz Behrens, der gemaßregelt wurde, und Wolfgang Steinitz, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit behindert worden ist.

Das Fehlen von Demokratie wird nicht beklagt. Im kubanischen Tagebuch berichtet Jürgen Kuczynski von Diskussionen mit seiner Schwester Renate über den so genannten Gradualismus. Gemeint ist der Eurokommunismus. Dessen Vorstellung von einem Weg zum Sozialismus teilt er, nicht aber die Überlegung, dass eine kommunistische Partei an der Macht bereit sein müsse, sich wieder abwählen zu lassen.2

Das Verhältnis der einzelnen Komponenten des Buches lässt sich so quantifizieren: 49% Autobiografie, 49% Festrede, 2% Kritik.

Die Ausgabe von 1983/84 ist nicht völlig identisch mit der 1977 eingereichten Fassung. Im Zentralkomitee - Jürgen Kuczynski vermutet: von Kurt Hager - wurden Streichungen verlangt. Sie sind in der Edition von 1996 kenntlich gemacht, erst dann erschien die Urfassung. Die Striche betreffen die vorstehend referierten Punkte. Um sein Buch endlich frei zu bekommen, hat Jürgen Kuczynski sie berücksichtigt und zugleich durch neue Formulierungen umgangen: seine Kritik bleibt in der erstmals gedruckten Fassung im Prinzip erhalten.

Jürgen Kuczynski berichtet, das Politbüro-Mitglied Konrad Naumann habe den Dialog mit meinem Urenkel als das "republikfeindlichste Buch" bezeichnet, das seit langem in der DDR erschienen sei. Dies mag insofern zutreffen, als republikfeindliche Bücher unter der Zensur ohnehin nicht zugelassen waren und dieser Text weniger konformistisch gewesen ist als andere.

Ein Grund für Naumanns Reaktion könnte ein anderes Ereignis des Jahres 1977 gewesen sein: Rudolf Bahros Buch Die Alternative war in die Bundesrepublik geschmuggelt worden, der Autor wurde verhaftet. Denkbar ist, dass Naumann die nun wirklich radikale Kritik Bahros in Kuczynskis Text projizierte.

Auf einer solchen Verwechselung - jetzt als Wunschdenken - könnte der große Erfolg des Dialogs mit meinem Urenkel in der DDR beruht haben. Die Leserinnen und Leser sahen darin zu Unrecht ihre eigene Abrechnung.

Intellektuelle DKP-Mitglieder in der Bundesrepublik - darunter der Verfasser dieser Zeilen - empfanden das Buch als Befreiung. Jahrelang hatten sie die DDR gegen Antikommunismus verteidigt und eigene Bedenken verdrängt oder verschwiegen. Jetzt meinten sie, die von ihnen lange gesuchte Synthese aus Kritik und Solidarität gefunden zu haben.

Eine neue Lektüre 2012 führt zu Erstaunen: die damalige Kritik und das Lob der DDR erscheinen gleichermaßen oberflächlich.

Die Fortsetzung

Jürgen Kuczynski erging es offenbar ebenso.

1996 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater.

Hier kommt er zu Ergebnissen, die seinen früheren Aussagen völlig widersprechen. Die DDR sei kein Sozialismus, sondern eine Art feudaler Absolutismus gewesen, einmal spricht er sogar von einer "verkommenen Gesellschaft". Er gesteht ihr einige wenige sozialistische Elemente zu, u.a. Arbeitsplatzsicherheit.

Seinen Meinungswechsel erklärt er so:

  1. Er bezichtigt sich der "Dummheit".
  2. Einige Informationen habe er 1977-1984 noch nicht gehabt.
  3. Immerhin habe er bis 1989 so viel kritisiert, wie unter den Bedingungen der Zensur möglich gewesen sei.
  4. Für den heutigen Leser bleibt die Differenz:

    1977/1983/1994 nannte Jürgen Kuczynski die DDR eine sozialistische Gesellschaft mit bürokratischen Mängeln.

    1996 sei sie, wie gezeigt, eine im Kern feudalabsolutistische Gesellschaft mit einigen sozialistischen Einsprengseln gewesen.

    Welche Interpretation ist zutreffend? Jürgen Kuczynski war gewiss der Meinung: die Version von 1996.

    Denkbar ist, dass weder die ältere noch die letzte Darstellung zutrifft. Wir, die vorläufig Überlebenden, müssen uns unser eigenes DDR-Bild noch selber erarbeiten.

    Auch 1996 nennt sich Jürgen Kuczynski einen Kommunisten und kritisiert Uwe-Jens Heuer, der gesagt habe, er sei nicht mehr Kommunist, sondern Sozialist. Auch legt der Verfasser des Fortgesetzten Dialogs mit meinem Urenkel Wert darauf, dass er nie Anlass hatte, an sich selber zu zweifeln

    Kaiserreich, Weimarer Republik, Faschismus, DDR, Bundesrepublik: Jürgen Kuczynski hat fünf Staaten an sich vorüberziehen lassen und vermittelt den Eindruck, dass er ihnen gegenüber seine Souveränität bewahrte.

    Souveränität - dieser Begriff entstand im Absolutismus. Nicht legibus absolutus, aber rebus publicis et temporibus absolutus - zuletzt unabhängig von den Zeitläuften und den Staaten, die kommen und gehen, so schien Jürgen Kuczynski zuletzt über ihnen allen zu stehen.

    Literatur

    Jürgen Kuczynski 1996: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Briefe und ein Tagebuch, Berlin.

    Jürgen Kuczynski 1996: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater, Berlin.

    Anmerkungen

    1) Jürgen Kuczynski 1973: Memoiren. Die Erziehung des J.K. zum Kommunisten und Wissenschaftler, Berlin und Weimar.

    2) 1980 sagte er mir bei einem Besuch in Marburg: Der Eurokommunismus habe gute und nicht so gute Seiten. Gut: der Kommunismus. Nicht so gut: der Eurokommunismus.


    Georg Fülberth lehrte Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Publiziert regelmäßig in Forum Wissenschaft, im Freitag, der jungen Welt und anderen Zeitungen und Zeitschriften. Einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stellen Arbeiten zur Geschichte des Kapitalismus und des Sozialismus dar.

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