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Klaus Holzkamp

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Stiller Ausverkauf

18.11.2011: Zur wechselhaften Geschichte des BAföG

  
 

Forum Wissenschaft 3/2011; Foto: Sven Hoffmann – Fotolia.com

Mit der Einführung des BAföG 1971 bestand erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung. Doch schon kurze Zeit später setzte ein systematischer Ausverkauf der staatlichen Förderung ein, wie Andreas Keller in seiner Rückschau nachweist. Damit der Bedarf an Fachkräften in der wissensbasierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts befriedigt werden kann, müssen künftig die Begabungsreserven aller sozialen Schichten mobilisiert werden - auf der Agenda steht ein Gegenentwurf zum bisherigen BAföG.1

Vierzig Jahre BAföG - eine Erfolgsgeschichte? Auf der einen Seite verkörpert das 1971 in Kraft getretene Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) nach wie vor einen wichtigen Paradigmenwechsel in der Studienfinanzierung: weg von der Begabtenförderung als Gnadenakt hin zur Ausbildungsförderung als Rechtsanspruch. Auf der anderen Seite hielt das BAföG nur bedingt den Angriffen jener stand, die genau diesen Paradigmenwechsel rückgängig machen möchten: Von einer wirklichen Chancengleichheit beim Hochschulzugang und im Studium sind wir daher auch 40 Jahre nach dem In-Kraft-Treten des BAföG weit entfernt.

Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung

"Auf individuelle Ausbildungsförderung besteht für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung ein Rechtsanspruch [...], wenn dem Auszubildenden die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen", heißt es bis heute in §1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), das 1971 in Kraft getreten ist.2 Anders als der Vorläufer des BAföG, das 1957 geschaffene "Honnefer Modell", das nach Maßgabe von Richtlinien "begabten" Studierenden eine Ausbildungsförderung gewährte, gab es von nun an einen einklagbaren, gesetzlichen Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung.

Die sozial-liberale Regierungskoalition wollte mit dem BAföG erklärtermaßen die soziale Ungleichheit der Bildungschancen überwinden und die berufliche Chancengleichheit junger Menschen verbessern. So heißt es im BAföG-Gesetzentwurf der Bundesregierung vom März 1971: "Der soziale Rechtsstaat, der soziale Unterschiede durch eine differenzierte Sozialordnung auszugleichen hat, ist verpflichtet, durch Gewährung individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken."3

Grundprinzipien der Ausbildungsförderung nach dem BAföG waren von Anfang an die Einkommensabhängigkeit und die Elternelternabhängigkeit der Ausbildungsförderung: Nur wer selbst nicht über ein ausreichendes Einkommen (oder Vermögen) verfügt, kann einen Anspruch auf Förderung geltend machen. Darüber hinaus geht das BAföG von der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren auch erwachsenen Kindern aus, die auch die Pflicht zur Finanzierung einer Erstausbildung umfasst: Ein Anspruch auf Ausbildungsförderung besteht nur soweit, als das Einkommen der Eltern nicht die im Einzelnen festgelegten Freibeträge übersteigt. Analog besteht bei der Gewährung des BAföG eine Abhängigkeit vom Einkommen des Ehepartners bzw. der Ehepartnerin sowie - seit 2010 - der Partnerin oder des Partners einer eingetragenen Partnerschaft. Insofern liegt auch dem BAföG die in Deutschland vorherrschende paternalistische Sozialstaatstradition zu Grunde4 - anders, als etwa in den nordischen Ländern, wo Studierende als eigenverantwortliche BürgerInnen verstanden werden und sich früh eine elternunabhängige Förderung durchgesetzt hat.5

Schleichender Funktionsverlust

In den ersten Jahren entfaltete das BAföG eine enorme Wirkung. 1972 wurde mit 44,6% annähernd jede zweite Studentin bzw. jeder zweite Student gefördert (270.000 BAföG-EmpfängerInnen auf 606.000 eingeschriebene Studierende), hinzu kamen über 500.000 Schülerinnen und Schüler.6 Die studentische Gefördertenquote fiel danach jedoch innerhalb von nur zehn Jahren von 44,6% (1972) auf 30,3% (1982) ab.7 Nach einem vereinigungsbedingten Zwischenhoch (1991: 26,2%) ging die Gefördertenquote erneut zurück, um 1998 bei einem Allzeit-Tief von nur noch 12,6% anzukommen. Nach einem Zwischenhoch (2005: 17,9%) liegt die Gefördertenquote inzwischen bei 17,4% (2008).8

Diese doch recht bescheidenen Zahlen versucht die Bundesregierung in ihren gemäß § 35 BAföG vorzulegenden Berichten "zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge" seit 1982 dadurch zu verdecken, dass sie nicht mit der realen, sondern der so genannten normativen Gefördertenquote arbeitet. Die normative Gefördertenquote setzt die Zahl der BAföG-EmpfängerInnen nicht zur Zahl aller eingeschriebenen Studierenden in Beziehung, sondern nur zur Zahl der "dem Grunde nach BaföG-Berechtigten". Da auf diese Weise eine Reihe von Studierenden aus der Statistik fallen - etwa, weil sie das BAföG-Höchstalter oder die Förderhöchstdauer überschritten oder weil sie einen Fachrichtungswechsel ohne wichtigen Grund vorgenommen haben -, kann für 2008 eine "Gefördertenquote" von immerhin 24,4% präsentiert werden.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass von dieser Minderheit der BAföG-EmpfängerInnen rund die Hälfte (49,5%) Förderbeträge von bis zu 350Euro monatlich bezieht, rund ein Viertel (24,2%) erhält sogar nur bis zu 200Euro. Nur 16,7% erhalten Beträge in Höhe von mehr als 500Euro.9 Studierende, die BAföG-Leistungen beziehen, erhalten im Durchschnitt 321Euro, das sind gerade mal 19Euro mehr als vor knapp zehn Jahren (2002: 302Euro).10 Die durchschnittlichen Lebenshaltungs- und Studienkosten liegen aber nach den Ergebnissen der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks bei 762Euro monatlich.11 Im Durchschnitt decken Studierende nur noch 15% ihrer Lebenshaltungskosten mit dem BAföG, zu 48% stammen die Mittel von den Eltern, weitere 26% werden durch eigene Verdienste aufgebracht.12

Diese Entwicklung ist Folge eines systematischen Ausverkaufs der staatlichen Ausbildungsförderung, der schon kurze Zeit nach dem In-Kraft-Treten des BAföG vor 40 Jahren einsetzte. Der erste Eingriff erfolgte bereits 1974, als das bis dahin geltende und in Sozialleistungsgesetzen übliche Prinzip einer Förderung durch nicht-rückzahlungspflichtigen Zuschuss durch Einführung eines festen Darlehensbetrages von zunächst 70 D-Mark preisgegeben wurde, der später schrittweise auf 150 D-Mark pro Monat aufgestockt wurde. Einer der gravierendsten Einschnitte erfolgte 1983 durch die ›Wende‹-Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Zum einen wurde die Ausbildungsförderung für SchülerInnen an allgemeinbildenden Schulen praktisch abgeschafft: Sie werden seitdem nur noch dann gefördert, wenn sie ausbildungsbedingt, also aufgrund einer unzumutbar großen Entfernung zur Schule, nicht bei ihren Eltern wohnen können. SchülerInnen, die bei ihren Eltern wohnen oder nicht ausbildungsbedingt allein wohnen, und das sind rund 95%, sind seitdem nicht mehr BAföG-berechtigt. Zum anderen wurde die studentische Ausbildungsförderung auf ein (zinsloses) Volldarlehen umgestellt, das nach dem Studium zu 100% zurückgezahlt werden musste.

Dieser harte Einschnitt wurde 1990 teilweise korrigiert: Die Förderung wird seither zu 50% als Zuschuss und zu 50% als Darlehen gewährt. Die Korrektur erfolgte im Zusammenhang mit der Ausdehnung des Geltungsbereichs des BAföG auf die neuen Bundesländer. Den ostdeutschen Studierenden, die das seit 1981 in der DDR bestehende einheitliche Grundstipendium für alle Studierenden - unabhängig von Elterneinkommen und sozialer Herkunft und ohne Rückzahlungspflicht - kannten,13 wollte man wohl eine zu abrupte Konfrontation mit der Bildungspolitik des real existierenden Kapitalismus ersparen. Die Studierenden der Jahre 1983 bis 1990 blieben gleichwohl auf ihren Schuldenbergen sitzen, die auf bis zu 60.000 D-Mark pro Kopf angewachsen waren.

Permanent ausgehöhlt wurde das BAföG darüber hinaus durch die äußerst schleppende, nicht mit der Preissteigerung und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten Schritt haltende Anpassung der Freibeträge und Bedarfssätze. Aus haushalts- und finanzpolitischen Erwägungen wurde eine angemessene Anpassung insbesondere in der Ära Kohl (1982-1998) regelmäßig unterlassen. Unter Verweis auf die ungünstige finanzwirtschaftliche Entwicklung wich der Gesetzgeber bei der Neufestsetzung der BAföG-Parameter wiederholt von den Empfehlungen der von der Bundesregierung vorgelegten BAföG-Berichte ab. Von 2002 bis 2008 gab es erneut keinerlei Anpassung der Freibeträge und Bedarfssätze.

In Folge dessen dümpelt nicht nur die reale BAföG-Gefördertenquote bei Werten von deutlich unter 20% vor sich hin, sondern auch die Bildungschancen sind nach wie vor extrem unterschiedlich verteilt. Während von 100 Akademikerkindern 71 ein Hochschulstudium aufnehmen, sind es bei Familien ohne akademischen Hintergrund nur 24 von 100 Kindern.14 Kinder aus Selbstständigen- und Beamtenfamilien mit akademischem Hintergrund haben eine fünf Mal so große Chance auf ein Hochschulstudium wie Kinder aus Arbeiterfamilien.15 Die Hürden beim Hochschulzugang verstärken die sozial ungleich verteilten Chancen, die bereits beim Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule sowie an der Schwelle zur Sekundarstufe II bestehen: Nur 45 Kinder von Nichtakademikerfamilien überschreiten die Schwelle zur Sekundarstufe II an allgemeinbildenden Schulen, während es 81 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien sind.16

Alternativen in der Debatte

Das stille Ausbluten des BAföG ließ in den 1990er Jahren die Stimmen nach einer Strukturreform der Ausbildungsförderung lauter werden. Das "Drei-Stufen-Modell" des Deutschen Studentenwerks, später als "Drei-Körbe-Modell" bekannt, war zeitweise nahezu Konsens unter den progressiven bildungspolitischen AkteurInnen der Bundesrepublik Deutschland.17 Herzstück einer derartigen Strukturreform hätte die Zusammenführung der ausbildungsbedingten Transferleistungen des Familienleistungsausgleichs (Kindergeld und kindbezogene steuerliche Freibeträge) zu einer einheitlichen Sockelförderung sein sollen, die elternunabhängig allen Studierenden zusteht und direkt an diese auszuzahlen ist. Auf dieser Sockelförderung hätten dann weitere einkommens- und elternabhängige Förderinstrumente aufbauen sollen. Die pfiffige Idee der Strukturreform: Es käme eine Menge zusätzliches Geld ins System, das bisher den Eltern von Studierenden zur Verfügung stünde - und zwar unabhängig davon, ob ihre Kinder BAföG-berechtigt sind oder nicht. Tatsächlich profitieren gerade Eltern mit hohen Einkommen in besonderem Maße von den steuerlichen Freibeträgen. Hinzu kommt, dass diese Vorteile von den Eltern nicht immer an die studierenden Kinder weitergegeben werden.

An diesem Umstand scheiterte dann auch die Strukturreform der Ausbildungsreform, die sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen 1998 in ihrer Koalitionsvereinbarung vorgenommen hatten. Ein Machtwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder zwang im Januar 2000 Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, das Projekt BAföG-Strukturreform ad acta zu legen.18 Als Begründung dafür musste herhalten, viele Eltern hätten die ausbildungsbedingten steuerlichen Vorteile, die Rot-Grün ins BAföG integrieren wollten, bereits für die Abzahlung ihrer Kredite fürs Eigenheim eingeplant. Lediglich die PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag hielt den Gedanken einer Strukturreform der Ausbildungsreform im Parlament wach.19

Rot-Grün beschränkte sich auf systemimmanente, aber gleichwohl überfällige Verbesserungen des BAföG, die durch weitere BAföG-Novellen der großen Koalition und der schwarz-gelben Koalition fortgesetzt wurden: Hervorzuheben ist etwa die Möglichkeit, schon ab dem ersten Semester ein Auslandsstudium in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union sowie in der Schweiz fördern zu lassen oder die bessere Förderung von Masterstudiengängen: Diese werden auch gefördert, wenn sie nicht konsekutiv (fachidentisch) sind, außerdem gilt für sie eine Altersgrenze von 35 statt regulär 30 Jahren. Ein wichtiger Fortschritt ist außerdem die Deckelung der rückzahlungspflichtigen Darlehensschulden auf maximal 10.000Euro (allerdings sind darauf weder nach dem BAföG gewährte verzinsliche Bankdarlehen noch Bildungskredite anzurechnen).

Während Rot-Grün die Chance zur Strukturreform der staatlichen Ausbildungsförderung verstreichen ließ, arbeiteten andere an einer ganz anderen Variante einer Strukturreform: im Sinne einer Privatisierung der Studienfinanzierung. Der erste Schritt erfolgte unter der Federführung des damaligen Bundesbildungsministers Jürgen Rüttgers über die Einführung der Förderart eines verzinslichen Bankdarlehens im Zuge der 15. BAföG-Novelle (1996). Auch wenn die Anwendungstatbestände dieser neuen Förderart durch Rot-Grün (1999) und Schwarz-Gelb (2010) wieder eingeschränkt wurden, steht die 15. BAföG-Novelle für einen weitreichenden Paradigmenwechsel: Hatte der Staat die Ausbildungsförderung ursprünglich wie andere Sozialleistungen selbst erbracht und finanziert, besteht die Gefahr, dass sich seine Rolle in Zukunft darauf reduziert, Kredite privater Finanzdienstleister zu vermitteln und Ausfallbürgschaften zu übernehmen.

Der zweite Schritt im Zuge dieses Paradigmenwechsels war der Start des Bildungskreditprogramms unter Federführung von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn 2001. Studierende können seitdem für bis zu zwei Jahre bis zu 300Euro monatlich als Kredit bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beziehen.20 Konzipiert wurden die Bildungskredite für alle, die durch die Maschen der Ausbildungsförderung nach dem BAföG fallen, z.B. weil sie die Förderungshöchstdauer überschritten haben oder die Förderbeträge schlicht nicht ausreichen. Die Kredite werden einkommens- und elternunabhängig gewährt. Auch wenn die Bildungskredite im Einzelfall Studierenden helfen können: Diese haben keinerlei Rechtsanspruch auf die Bildungskredite und diese werden als verzinsliches Darlehen gewährt. Wenn also einerseits die Gefördertenquoten auf niedrigem Niveau stagnieren und die Fördersätze des BAföG deutlich hinter dem Bedarf zurückbleiben, andererseits diese Lücken der BAföG-Förderung durch Bildungskredite aufgefangen werden, haben wir es mit einer Verlagerung der Studienfinanzierung von der staatlichen Ausbildungsförderung hin zur privaten Kreditfinanzierung zu tun.

Verstärkung von Ungleichheit

Den dritten Schritt eines Paradigmenwechsels in der Studienfinanzierung ist die Einführung des "Deutschlandstipendiums"21 im Rahmen des "nationalen Stipendienprogramms" 2010.22 Mit dem Stipendienprogramm erhält die schrittweise Privatisierung der Studienfinanzierung eine neue Qualität. Private, insbesondere Wirtschaftsunternehmen, sollen die Stipendien zur Hälfte finanzieren, für die zweite Hälfte kommt der Bund auf. Tatsächlich ist der Kostenanteil der Privaten wesentlich geringer, da das großzügige deutsche Stiftungsrecht es insbesondere großen Unternehmen ermöglicht, die Aufwendungen für Stipendien steuerlich abzusetzen, d.h. sich vom Finanzamt teilweise zurückerstatten zu lassen. Aus der vergleichweise geringen Kofinanzierung der Stipendien können die Unternehmen jedoch den Anspruch ableiten, auch die Verteilung der staatlichen Aufwendungen für das Deutschlandstipendium zu steuern. Sie entscheiden, welche Hochschulen und Fachrichtungen überhaupt in den Genuss der Stipendien kommen. Darüber hinaus sollen sie an den Auswahlentscheidungen beteiligt werden.

Eine Vertiefung der ohnehin schon bestehenden regionalen und fachlichen Ungleichgewichte in der deutschen Hochschullandschaft in Folge des Stipendienprogramms ist abzusehen: Wer Ingenieurwissenschaften studiert, dürfte sich größere Chancen auf ein Stipendium ausrechnen können als Studierende der Philosophie. Wer sich an der Technischen Universität München einschreibt, wird mehr Stipendienangebote vorfinden, als an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Studierende, die in ihrer Bewerbung in Aussicht stellen, das Thema ihrer Bachelor- oder Masterarbeit an Forschungsinteressen der mit der Hochschule kooperierenden Industrie auszurichten und dort womöglich ein Praktikum zu absolvieren, dürften bessere Karten haben als ihre KommilitonInnen, die sich auf Grundlagenforschung versteifen. Wie bei den Bildungskrediten gibt es auch bei den Deutschlandstipendien keinen Rechtsanspruch auf Förderung. Die Vergabe eines Stipendiums kommt einem willkürlichen Gnadenakt gleich. Hinzu kommt, dass das Deutschlandstipendium zwar elternunabhängig gewährt wird, sich aber auf 300Euro monatlich beschränkt. Stipendien in dieser geringen Höhe sind nicht bedarfsdeckend - für Studierende ohne andere Einkommen reicht dieser Betrag schlicht nicht aus. Für Studierende, die bereits auf eine auskömmliche Grundfinanzierung zurückgreifen können, sind die 300Euro dagegen ein willkommenes Zubrot.

Begleitet wurden diese Schritte zur Privatisierung der staatlichen Ausbildungsförderung von Bestrebungen, die Studierenden bzw. ihre Eltern nicht nur für die Finanzierung des studentischen Lebensunterhalts zu verpflichten, sondern auch an den institutionellen Kosten der Hochschulen zu beteiligen: durch die Erhebung von Studiengebühren. Zeitweise erhoben sieben von 16 Bundesländern allgemeine Studiengebühren ab dem ersten Semester. Diese Zahl hat sich erfreulicherweise wieder auf zwei reduziert - ein Erfolg der kontinuierlichen Proteste gegen das Bezahlstudium. Auch wenn eine Trendwende erreicht wurde: Insgesamt bleibt die bildungspolitische Auseinandersetzung um Studiengebühren offen. Hinzu kommt, dass auch in vielen Ländern, die keine allgemeinen Studiengebühren erheben, Verwaltungsgebühren oder Studiengebühren für Sondertatbestände wie z.B. Langzeitstudiengebühren erhoben werden.

Strukturelle Erneuerung der staatlichen Ausbildungsförderung oder die Privatisierung der Studienfinanzierung - welche Konzepte die Oberhand gewinnen werden, steht noch nicht fest. In dieser Situation kommt es darauf an, nicht in Abwehrkämpfen zu verharren, sondern offensiv für Reformen einzutreten. In ihrem 2009 vom Gewerkschaftstag beschlossenen wissenschaftspolitischen Programm "Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualität von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern" fordert die Bildungsgewerkschaft GEW die Weiterentwicklung zu einem elternunabhängigen Studienhonar.23 Allerdings nicht, indem heute das BAföG abgeschafft und morgen das Studienhonorar eingeführt wird - mit dieser Strategie würde man in der Tat jenen in die Hände spielen, die das BAföG zerschlagen wollen, um die Studienfinanzierung zu privatisieren. Das BAföG soll vielmehr als "staatlich garantierte und über individuelle Rechtsansprüche geregelte Ausbildungsförderung" erhalten und weiterentwickelt werden: durch die Rückführung des Darlehensanteils im BAföG zu Gunsten eines nicht rückzahlungspflichtigen Zuschusses. Perspektivisch ist das BAföG so zu einem elternunabhängigen Studienhonorar für alle Studierenden weiterzuentwickeln.24

Das Studienhonorar ist der radikale Gegenentwurf zu Studiengebühren, man könnte gleichsam von ›negativen Studiengebühren‹ sprechen, die nicht von den Studierenden erhoben, sondern an sie ausgezahlt werden. Dieser Gegenentwurf ist keine fantastische Utopie, sondern anschlussfähig an den politischen Diskurs. Zunächst weil die Einsicht weiter wachsen wird, dass die Begabungsreserven aller sozialen Schichten mobilisiert werden müssen, um den Bedarf an Fachkräften in der wissensbasierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu befriedigen. Darüber hinaus, weil im Steinbruch der Reformdiskussion der neunziger Jahre bereits die Keimzelle eines Studienhonorars zu Tage gefördert worden war: der erste Sockel einer Strukturreform der Ausbildungsförderung.

Anmerkungen

1) Bei diesem Beitrag handelt es sich in Teilen um eine Überarbeitung und Aktualisierung von Andreas Keller, 2002: "Nachhaltiger Funktionsverlust, Zur widersprüchlichen Geschichte des BAföG", in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (Hg.): Bildungsfinanzierung. BdWi-Studienheft, Marburg, 22ff

2) Gesetz in der Fassung vom 07.12.2010 (BGBl. I, 1952), siehe www.bafoeg.bmbf.de

3) Bundestagsdrucksache 7/1975

4) Siehe hierzu auch den Beitrag von Jana Schultheiss in diesem Heft

5) Vgl. Jochen Dahm, 2009: "Studienfinanzierung im internationalen Vergleich", in: Klemens Himpele / Torsten Bultmann (Hg.): Studiengebühren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. 10 Jahre Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS), Marburg, 193ff. Siehe auch den Beitrag von Jochen Dahm in diesem Heft.

6) Nach Bundestagsdrucksache 7/1440

7) Daten nach Bundestagsdrucksachen 7/1440, 10/835, 12/1920, 14/1927, 14/7972

8) Eigene Berechnungen nach Bundestagsdrucksache 17/485, 9

9) Bundestagsdrucksache 17/485, 27

10) ebd. 26

11) Wolfgang Isserstedt u.a, 2010.: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn, 252ff, siehe www.sozialerhebung.de .

12) ebd. 181ff

13) Zur Studienfinanzierung in der DDR vgl. Ruth Heidi Stein, 1997: "Lebensbedingungen im Studium", in: Gertraude Buck-Bechler u.a. (Hg.): Hochschulen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch zur Hochschulerneuerung, Weinheim, 450ff

14) Wolfgang Isserstedt u.a. 2010: 103ff

15) ebd. 100ff

16) ebd. 103ff

17) Deutsches Studentenwerk (Hg.), 1995: Das Drei-Stufen-Modell des Deutschen Studentenwerks. Für eine Ausbildungsförderung im Rahmen eines einheitlichen Familienlastenausgleichs, Bonn. Siehe auch den Beitrag von Sabine Kiel in diesem Heft.

18) Vgl. Andreas Keller / Rolf Weitkamp, 2000: "Den Studierenden einen Korb geben, SPD und Grüne geben BAföG-Reform auf", in: Forum Wissenschaft 2/2000, 41ff

19) Bundestagsdrucksachen 14/2253 und 14/2789

20) Siehe im Internet unter www.bildungskredit.de

21) Siehe auch den Beitrag von Moska Timar in diesem Heft

22) Siehe www.deutschland-stipendium.de

23) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hauptvorstand (Hg.), 2009: Wir können auch anders! Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualität von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern, Das wissenschaftspolitische Programm der GEW, Frankfurt a. M., 13f

24) Vgl. Andreas Keller; 2008: "Studienhonorar statt Studiengebühren", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2008, 14ff


Dr. Andreas Keller ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

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