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Von den Zielen weit entfernt

15.03.2007: Arbeitsmärkte und Beschäftigungspolitiken

  
 

Forum Wissenschaft 1/2007; Foto: Hermine Oberück

Dass die marktorientierte Beschäftigungsstrategie der EU im Übergang der östlichen Beitrittsländer, zumal im Zusammenhang mit Rationalisierungen und geringer Verknüpfung mit sozialpolitischen Kriterien, westliche Beschäftigungsquoten und -entwicklungen nicht gerade übertrumpfen würde, war zu erwarten. Anne Schüttpelz gibt einen Überblick über die Anlage der EU-Politik und resümiert Erfahrungen, Schwierigkeiten und Unterschiede zwischen den neuen Beitrittsländern.

Die Beschäftigungspolitik der EU wurde Ende der 1990er Jahre, nach dem Amsterdamer Vertrag, zunehmend relevant für nationale Arbeitsmarktreformen, und zwar nicht nur in den Mitgliedsländern, sondern gerade auch in den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas (MOE). Die in Zusammenhang mit der intensivierten Heranführungsstrategie ab 1998 in MOE zu implementierenden beschäftigungspolitischen Reformen betrafen vor allem die gesetzliche Ebene, u.a. das Arbeitsrecht und die Arbeitsschutzvorschriften, sowie die institutionellen Strukturen, etwa die Gewerbeaufsicht, den so genannten sozialen Dialog zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie die Arbeitsverwaltung. Die in MOE vorhandenen Arbeitsmarktinstitutionen wurden im Vergleich zur EU häufig als „defizitär“ charakterisiert. Das trifft insbesondere auf die Rolle der Sozialpartnerschaften zu, aber z.B. auch auf den Status der öffentlichen Arbeitsverwaltung u.a.. Restrukturierungen waren daher unausbleiblich.

EU-Beschäftigungsziele

Auf dem Europäischen Rat zu Beschäftigung und Innovation in Lissabon im März 2000 hatten sich die Mitgliedsstaaten außerdem auf das strategische Ziel geeinigt, die EU bis zum Jahr 2010 zum weltweit dynamischsten und wettbewerbsfähigsten, auf Innovation und Wissen gegründeten Wirtschaftsraum zu machen. Eine deutliche Erhöhung der Beschäftigungsquote wurde eines der Hauptziele der „Lissabon-Strategie“ (ergänzt durch die Beschlüsse des Europäischen Rats von Stockholm im März 2001). Bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 3% sollte die Umsetzung von Strukturreformen eine Erhöhung der Beschäftigungsquote in der EU von 61% im Jahr 2000 auf 67% bis 2005 und auf 70% bis 2010 ermöglichen. Die Beschäftigungsquote der Frauen sollte von 51% auf 57% bis 2005 und auf über 60% bis 2010 angehoben werden. Außerdem sollte die durchschnittliche Beschäftigungsquote in der EU für ältere Männer und Frauen (zwischen 55 und 64) bis 2010 auf 50% steigen. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Göteborg wurden die Beitrittsländer aufgefordert, die der „Lissabon-Strategie“ zu Grunde liegenden wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Zielsetzungen in ihre nationale Politik zu integrieren.

Zur Umsetzung des Lissabon-Ziels in der erweiterten EU wurde die 1997 eingeführte Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) 2003 überarbeitet und vereinfacht. Die EBS ist das wesentliche Instrument zur Koordinierung der Beschäftigungspolitiken der Mitgliedsstaaten auf europäischer Ebene und bestand bis 2005 aus einem jährlichen Prozess, der zunächst auf Ratsebene genehmigte Leitlinien, dann nationale Aktionspläne der Mitgliedsstaaten und schließlich einen Gemeinsamen Bericht der Kommission umfasste. Auf Grundlage dieser Bewertung hat der Rat seit 2000 zusätzlich länderspezifische Empfehlungen zur Durchführung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten veröffentlicht. Die neue EBS deckt den Zeitraum von 2005 bis 2008 ab und beinhaltet ebenfalls jährliche Berichterstattung und länderspezifische Empfehlungen.

Die EBS behandelt die Beschäftigungsproblematik in erster Linie nicht aus einer sozialpolitischen, sondern aus einer Marktperspektive. Das Konzept lehnt zwar einen neo-liberalen Ansatz ab und propagiert keine reine Deregulierung, konzentriert die Beschäftigungspolitik aber auf (vorgeblich wachstumsfördernde) Strukturreformen und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Die Strategie spiegelt damit typische Ideen des „Dritten Wegs“ wider und zielt darauf ab, Beschäftigungsbeziehungen und sozialen Schutz durch Rekommodifizierung zu reformieren. Die Regulierung der (nach wie vor hauptsächlich national konstituierten) Arbeitsmärkte wird nun innerhalb der EU unter der Wettbewerbsprämisse koordiniert.

Die Auswirkungen dieser europäischen Politik für Arbeitsbedingungen und Beschäftigung in den Mitgliedsstaaten sind bislang noch wenig untersucht. 2002 veröffentlichte die Kommission die Ergebnisse einer Selbstevaluation zu fünf Jahren Europäischer Beschäftigungsstrategie und kam dabei zu einem grundsätzlich positiven Ergebnis. Obwohl die konjunkturelle Entwicklung den deutlich stärksten Einfluss auf die Arbeitsmarktlage in der EU ausübte, hat die EBS die nationalen Beschäftigungspolitiken und die angebotsseitigen Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre (vor allem seit Lissabon 2000) erheblich mitgeprägt.

Trotz gewisser Fortschritte in der Beschäftigungsentwicklung sind die meisten alten und insbesondere die neuen EU-Mitgliedsstaaten von der Umsetzung ihrer gemeinsamen Beschäftigungsziele allerdings weit entfernt. Die zwei Zwischenziele für 2005 wurden bereits verfehlt: Nur neun der 25 EU-Länder (Dänemark, Irland, Niederlande, Schweden, Großbritannien, Zypern, Österreich, Portugal und Finnland) erreichten allgemeine Beschäftigungsquoten über 67%, und obwohl die meisten Länder die Vorgabe zur Beschäftigungsquote der Frauen erfüllten, lag sie in den anderen zehn Ländern (Belgien, Tschechien, Griechenland, Spanien, Irland, Italien, Luxemburg, Ungarn, Malta, Polen und Slowakei) so niedrig, dass der EU-25-Durchschnitt knapp unter 57% blieb. Von den neuen EU-Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa erfüllen nur Slowenien (für die Frauen) und Estland (für die Frauen und die Älteren) bereits die gemeinsamen Anforderungen für 2010.1 Das besonders schlechte Abschneiden der MOE-Länder lässt sich mit ihrer spezifischen Transformationssituation und den damit zusammenhängenden beschäftigungspolitischen Strategien begründen.

Beschäftigungs-Rückgang

Die wirtschaftliche Entwicklung der Transformationsländer unterscheidet sich von der der EU-15 wesentlich durch die transformational recession, der seit Mitte der 1990er Jahre eine begrenzte Konvergenz mit dem EU-Wachstum folgte.2 Infolgedessen hat sich in MOE die Beschäftigung seit Beginn der Transformation drastisch verringert, und der Trend hat sich auch im einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung lange nicht umgekehrt. Noch 2003 musste die Kommission in ihrer Beschäftigungsanalyse feststellen: „Obgleich sich das BIP-Wachstum der beitretenden Länder als durchaus robust erwies, war bei der durchschnittlichen Beschäftigung in diesen Ländern 2002 ein Rückgang um etwa 1,2% zu verzeichnen.“3

Das Beschäftigungsniveau, das vor Transformationsbeginn bei über 70% der erwerbsfähigen Bevölkerung gelegen hatte (d.h. das Lissabon-Ziel erreichte), sank in den 1990er Jahren erheblich. Den dramatischsten Rückgang der Beschäftigungsquote – auf knapp über 50% – erlebte Ungarn. Trotzdem lag die durchschnittliche Beschäftigungsquote der Region bis 1998 noch leicht über dem EU-Durchschnitt (1998: 61%).4 Die Abnahme der Beschäftigungsquoten setzte sich jedoch – nach einer vorübergehenden Stabilisierung Mitte der 1990er Jahre – für alle Länder der Region mit Ausnahme Ungarns in der Folgezeit fort. 2001 lag die Beschäftigungsquote schließlich in allen MOE-Ländern außer Tschechien unter dem EU-15-Durchschnitt von 64% der erwerbsfähigen Bevölkerung. Obwohl die Beschäftigung in den meisten Ländern in den letzten Jahren wieder anstieg, ist es bis 2005 keinem neuen Mitgliedsstaat außer Slowenien gelungen, die allgemeine Beschäftigungsquote über den EU-15-Durchschnitt (65,2%) anzuheben. In Slowenien hat vermutlich auch die relativ starke Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung zum Beschäftigungswachstum beigetragen. Insbesondere Polen erlebte dagegen bis 2004 einen weiteren starken Beschäftigungsrückgang und hat inzwischen die niedrigsten Beschäftigungsquoten der EU-25, auch bei den Älteren.

Übergänge und Rückzüge

Die anhaltend niedrige Beschäftigung in MOE erklärt sich daraus, dass das Wirtschaftswachstum seit Mitte der 1990er Jahre vornehmlich Folge einer Reihe von Effizienzsteigerungen, Rationalisierungen sowie Re-Allokationen zwischen den Unternehmen ist. Daraus ergibt sich die beobachtete Lücke zwischen Beschäftigungsentwicklung und Wirtschaftswachstum, die sich auch in der Entwicklung der Arbeitsproduktivität widerspiegelt: Einem kurzen Rückgang zu Beginn der Transformation folgte in allen Beitrittsländern ein mehr oder weniger ausgeprägtes Wachstum der Arbeitsproduktivität, das bis heute anhält. In vielen Transformationsökonomien stand Ende der 1990er Jahre ein Großteil der Unternehmensrestrukturierungen, vor allem in der Industrie, noch bevor, was sich auch in weiterhin sinkender Beschäftigung niedergeschlagen hat. Insofern handelt es sich bei der beobachteten „Entkopplung“ von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in der Transformation zwar „nur“ um eine zeitliche Verzögerung, allerdings um eine sehr ausgeprägte.

Die Beschäftigungsdynamik in MOE ist überdies dadurch charakterisiert, dass die Anpassung an die Produktionsentwicklung kaum über Reduzierungen der Arbeitszeit erfolgte. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ist in den neuen Mitgliedsstaaten nach wie vor niedriger als in allen „alten“ EU-Mitgliedern (außer Griechenland) und nimmt in einigen entgegen dem Gesamttrend sogar ab. Außerdem liegt die durchschnittliche Arbeitszeit, insbesondere bei Teilzeitbeschäftigten, in den MOE-Ländern deutlich über dem EU-Durchschnitt, obwohl sie sich in den letzten Jahren zumeist verkürzt hat.

Die dauerhaft niedrige Beschäftigung in MOE ist ein gravierendes politisches Problem, nicht nur wegen der zumeist daraus resultierenden hohen Arbeitslosigkeit, sondern auch wegen des damit verbundenen kompletten Rückzugs großer Bevölkerungsteile aus dem (formellen) Erwerbsleben. Die Arbeitsmarktdynamik in der Transformation war dadurch gekennzeichnet, dass die Übergänge aus Beschäftigung in Inaktivität höher waren als die in Arbeitslosigkeit, während gleichzeitig in beträchtlichem Umfang auch Arbeitslose ganz aus dem Erwerbsleben ausschieden.5 Zudem haben in bedeutendem Umfang Stellenwechsel stattgefunden, d.h. Übergänge von einer Beschäftigung (im staatlichen Sektor) in eine andere (im privaten Sektor) ohne zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit. Problematisch ist insbesondere, dass sich im Ergebnis dieser Dynamiken in den Transformationsländern ein stagnierender Pool Arbeitsloser herausbildete, weil kaum Übergänge in Beschäftigung stattfanden. Dies hat zu sehr hoher Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit in MOE geführt. Von Langzeitarbeitslosigkeit sind in MOE ganz besonders ältere Personen betroffen. Die Arbeitslosigkeit ist in MOE also weniger deshalb so hoch, weil in großem Umfang Beschäftigte aus den Staatsbetrieben entlassen wurden, sondern weil einmal arbeitslos Gewordene (insbesondere Ältere) kaum auf neue Stellen vermittelt werden konnten.

Für alle Länder der Region lässt sich also ein beträchtlicher Rückgang der Beschäftigung im Transformationsverlauf konstatieren, der mit einer sektoralen Re-Allokation der Arbeitskräfte verbunden war. Die massive Arbeitskräftefreisetzung schlug sich zum Teil im Wachstum der offenen Arbeitslosigkeit und zum Teil in einem Rückgang der Erwerbsbeteiligung nieder. Trotz länderspezifischer Differenzen dieser Entwicklung lassen sich eine hohe und andauernde Arbeitslosigkeit, verbunden mit starker Langzeitarbeitslosigkeit und großen regionalen Differenzen als wesentliche Merkmale der Arbeitsmärkte in den Transformationsländern konstatieren. In diesem Transformationsprozess der Arbeitsmärkte bildeten sich auch spezifische Problemgruppen heraus; insbesondere sind Jugendliche, Frauen, niedrig Qualifizierte und ethnische Minderheiten (vor allem Roma) von der unzureichenden Nachfrage nach Arbeitskräften betroffen.

Koordinations-Versuche

Die Beschäftigungspolitik reagierte nach 1989 mit einem großen Maßnahmebündel auf diese entstehenden, völlig neuen Problemlagen auf den Arbeitsmärkten. Die grundlegenden beschäftigungspolitischen Zielsetzungen der Transformationsländer ähnelten sich angesichts der genannten allgemeinen Arbeitsmarktentwicklungen: Erhöhung der Arbeitskräftenachfrage, Vermeidung von Personalabbau, Reduzierung des Arbeitskräfteangebots, Einkommenssicherung und Reintegration Erwerbsloser in Beschäftigung. Ein gemeinsames Kennzeichen der MOE-Beschäftigungspolitiken war auch ihre unzureichende Verknüpfung mit anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformschritten. Z.B. war die zukünftige Beschäftigungsentwicklung in der Regel kein Auswahlkriterium für Privatisierungsprojekte. Insbesondere zu Beginn der Transformation konzentrierte sich Beschäftigungspolitik zumeist auf klassische Arbeitsmarktpolitiken, die – zusammen mit der Deregulierung der planwirtschaftlichen Beschäftigungssysteme – als ausreichendes und angemessenes Mittel zur Unterstützung der Restrukturierung der Beschäftigung und Reduzierung der Arbeitslosigkeit betrachtet wurden. Auch in Orientierung an westeuropäischen Ländern setzten die Transformationsländer in erster Linie auf die Wiedergewinnung des Wirtschaftswachstums, um ihre Arbeitsmarktprobleme zu lösen. Mit dessen Eintreten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zeigte sich jedoch, dass diese Hoffnungen unberechtigt waren und das Beschäftigungswachstum weitaus geringer ausfiel als erwartet und erforderlich. Seit Ende der 1990er Jahre haben daher einige Länder neue Beschäftigungsprogramme formuliert, die breiter angelegt sind und die Bedeutung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Arbeitskräftenachfrage stärker berücksichtigen, was durch aktive und passive Arbeitsmarktpolitiken ergänzt wurde. Bildungspolitik wurde dagegen oft nicht mit Beschäftigungspolitik koordiniert. Viele junge Leute eigneten sich daher Qualifikationen an, die auf dem Arbeitsmarkt gar nicht nachgefragt wurden, während für andere Berufe Ausbildungsmöglichkeiten fehlen. Dieser „Mismatch“ (Nicht-Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage nach Qualifikationen) ist eines der größten Probleme der MOE-Arbeitsmärkte.

In Zusammenhang mit der schlechten Beschäftigungssituation in MOE und dem bevorstehenden EU-Beitritt wurden häufig auch institutionelle Begrenzungen der Arbeitsmarktflexibilität als Ursache diskutiert. Argumentiert wurde, dass insbesondere umfassende Maßnahmen des Beschäftigungsschutzes, ineffektive Arbeitsmarktpolitiken, Lohnregulierung und starke Gewerkschaften sowie hohe steuerliche Belastungen der Arbeitskräfte kontraproduktiv für die Entwicklung der Arbeitsmärkte seien. Es ließ sich jedoch zeigen, dass die MOE-Beschäftigungsregime z.T. flexibler sind als die Arbeitsmärkte der alten EU und insofern die größeren Arbeitsmarktprobleme kaum erklären können. Das einzige „Flexibilitätshindernis“ stellten in MOE die entwickelten sozialen Sicherungssysteme dar, die jedoch erst die hohe „Anpassungsflexibilität“ ermöglichten, die Transformation ohne gravierende Systemkrisen zu bewältigen.

Auffang-Elemente

Mit Ausnahme der Einführung von Arbeitslosengeld als Reaktion auf die bis dahin in MOE unbekannte offene Arbeitslosigkeit wurden die bestehenden sozialen Sicherungssysteme in den ersten Jahren der Transformation nicht grundsätzlich verändert.6 Die wirtschaftlichen und politischen Reformen hatten in dieser ersten Phase Priorität. Erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat sich die post-sozialistische Sozialpolitik von der Sicherstellung grundlegender sozialer Leistungen in der Transformation fortbewegt und den langfristig entscheidenden Fragen des institutionellen Umbaus der Renten-, Gesundheits- und Bildungssysteme gewidmet.

Die verbreitete Anwendung von Frühverrentungsmaßnahmen sowie die Ausweitung von Erziehungszeiten haben in den 1990er Jahren wesentlich zu den hohen Übergängen in Inaktivität beigetragen. Auch fungierten passive und aktive Arbeitsmarktpolitiken, Sozialhilfe, Behindertenrenten, Krankengeld u.ä. abgabenfinanzierte Sozialleistungen in den Transformationsländern als de facto-Mindestlöhne und begrenzten die Lohnspreizung nach unten. Insbesondere boten einige MOE-Sozialsysteme Personen mit niedrigen Einkommen, wie etwa ungelernten Arbeitskräften, einen relativ hohen Lohnersatz. Im Gegensatz vor allem zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in denen eine hohe Lohnflexibilität nach unten die Beschäftigungsverluste dämpfte und die Arbeitskräfte ihre Reproduktion durch die Partizipation an fortbestehenden Sozialleistungen der Betriebe und zunehmende Beschäftigung im informellen Sektor sicherten, wurden in MOE in der Transformation stärker Arbeitskräfte freigesetzt und von den sozialen Sicherungssystemen „aufgefangen“. Im Ergebnis haben diese institutionellen Arrangements in der besonderen Transformationssituation gerade die notwendige Reallokation der Arbeitskräfte in MOE sozial ermöglicht, während die Niedriglohnpolitik in der ehemaligen Sowjetunion – Russlands Arbeitsmarkt etwa wurde häufig als „neoclassical dream“ bzw. „the example of a flexible labor market“ bezeichnet7 – die Restrukturierungen behinderte und zu einem kombinierten Rückgang von Produktion, Beschäftigung und Arbeitsproduktivität geführt hat.

Auch die Lohnsummensteuern (Steuern und Sozialabgaben) spielen für die Erklärung der Beschäftigungsdynamiken in MOE eine wichtige Rolle. Die implizite Besteuerung der Arbeitskräfte liegt in MOE um etwa zwei Prozentpunkte über dem EU-15-Durchschnitt von 36%. Außer Polen, das die Lohnabgaben Ende der 1990er Jahre deutlich reduzierte, liegen alle neuen Mitgliedsstaaten über diesem Wert. Insbesondere haben die MOE-Länder relativ hohe Sozialabgaben; bei einigen (Polen, Slowakei, Tschechien) machen sie sogar mehr als 80% der gesamten Lohnsummensteuern aus. Diese Steuern- und Abgabenlast hat sich in den Transformationsländern in den letzten Jahren kaum verringert, in einigen Ländern – besonders in Tschechien – sogar erhöht. Obwohl alle neuen Mitgliedsstaaten ihre Steuer- und Sozialsysteme verschiedentlich reformiert haben, zumeist (auch) mit dem Ziel, die Abgabenlast zu senken, ist in Tschechien und den baltischen Ländern die Steuerlast etwa für einen Beispielarbeiter (alleinstehend, mit zwei Drittel des Durchschnittsverdienstes)8 zwischen 1996 und 2004 leicht gestiegen. Der EU-15-Durchschnitt verringerte sich dagegen im selben Zeitraum um über drei Prozentpunkte (auf 35,6% der Brutto-Lohnkosten). Die hohe Steuerlast für Geringverdiener, die mit 38,8% (Slowakei) bis 41,9% (Tschechien, Polen) in allen MOE-Ländern über dem EU-15-Durchschnitt liegt, beruht zum einen auf relativ hohen Sozialabgaben, zum anderen auch darauf, dass bei diesem Beispielarbeiter familienbezogene Steuererleichterungen nicht berücksichtigt sind.

Strategie-Unterschiede

Die Arbeitsmarktsituation der MOE-Staaten unterscheidet sich von der der alten EU-Mitgliedsstaaten, welche der Lissabon- und Beschäftigungsstrategie zugrunde liegt. Ausgangspunkt der Lissabon-Strategie war die Diagnose eines zu geringen Wachstums- und Innovationstempos in der EU-15 als Ursache für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit (verglichen mit den anderen zentralen Regionen der Weltwirtschaft in Nordamerika und Asien). Die neuen Mitgliedsstaaten weisen jedoch trotz höherer Wachstumsdynamiken schlechtere beschäftigungspolitische Ergebnisse auf als die „alten“ EU-Ökonomien. Die Lissabon-Strategie strebt eine Erhöhung der Beschäftigungsquoten vorrangig durch eine Verringerung der Arbeitskosten und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte an. Neben der Ankurbelung des Wirtschaftswachstums gelten insbesondere die Reform der Steuer- und Sozialsysteme mit dem Ziel, mehr „Anreize“ zur Arbeitsaufnahme zu setzen, verbesserte aktive Arbeitsmarktpolitiken, Reduzierungen der Steuerlast (insbesondere für die Niedrigqualifizierten) und generelle Lohnzurückhaltung unter dem Stichwort „Aktivierung“ als entscheidende Faktoren für Beschäftigungswachstum. Für die MOE-Länder hat jedoch ein anderes Reformziel größere Bedeutung, nämlich die Erhöhung der Investitionen in Innovation, Technologie und Bildung, um die anhaltende Re-Allokation der Arbeitskräfte zu unterstützen. Ein beschäftigungsintensives Wachstum müsste insbesondere auf der Ausweitung des Dienstleistungssektors und Reduzierung der Arbeitszeiten, etwa über die Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung, beruhen. Dass die aufholende Entwicklung in den MOE-Ökonomien nicht notwendigerweise durch ihre entwickelten Sozialsysteme behindert werden muss, zeigt auch die hohe Wirtschaftsdynamik und nachhaltig gute Beschäftigungssituation in den umverteilungsintensiven skandinavischen Ländern. Allerdings beruhen die MOE-Sozialsysteme – im Gegensatz zu den skandinavischen – stark auf Bismarck’schen Prinzipien und produzieren damit vergleichsweise hohe Arbeitskosten.

Anmerkungen

1) Der länderspezifische Vergleich der Beschäftigungsquoten mit den Lissabon-Zielen dient lediglich zur Veranschaulichung der nationalen Unterschiede. Eurostat berechnet die Beschäftigungsquoten der Mitgliedsstaaten als Strukturindikatoren für Fortschritte in bezug auf die Lissabon-Ziele, obwohl diese gemeinsame Ziele auf EU-Ebene darstellen (für die neuesten Beschäftigungsquoten vgl. European Commission 2006: Employment in Europe 2006, Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities, p. 29).

2) Der Begriff „transformational recession“ stammt von Kornai (Kornai, Janos 1994: Transformational Recession: The Main Causes, Journal of Comparative Economics, vol. 19(1), pp. 39-63), der die Umstrukturierungen der post-sozialistischen Ökonomien und Finanzsysteme als Ursachen der tiefen Krise in allen Transformationsländern analysierte. Obwohl die Wachstumsraten der MOE-Länder seit Mitte der 1990er Jahre gleich oder höher als die der EU-15 ausfallen, unterscheiden sich die Dynamiken dieser Entwicklung deutlich. Insgesamt bestehen daher nach wie vor starke Differenzen zur wirtschaftlichen Leistungskraft der „alten“ EU. So lag nach den neuesten Schätzungen 2003 das BIP je Einwohner (in Kaufkraftstandards) auf der regionalen Ebene lediglich in der tschechischen und slowakischen Hauptstadtregion über dem EU-25-Durchschnitt (Krüger, Andreas 2006: Regionales BIP in der EU, den Beitrittsländern und Kroatien 2003, Statistik kurz gefasst, Wirtschaft und Finanzen, 17/2006, Luxembourg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften).

3) Europäische Kommission 2003: Beschäftigung in Europa 2003: 16 (verfügbar unter ec.europa.eu/employment_social/employment_analysis/employ_2003_de.htm , Zugriff: 12.01.2007).

4) Angaben zu den Beschäftigungsquoten finden sich in den jährlichen Berichten der Europäischen Kommission „Beschäftigung in Europa“ (verfügbar unter ec.europa.eu/employment_social/employment_analysis/employ_de.htm , Zugriff: 12.01.2007).

5) Vgl. Boeri, T./Terrell, K. 2002: Institutional Determinants of Labor Reallocation in Transition, in: The Journal of Economic Perspectives 1, pp. 51–76.

6) Vgl. Götting, U. 1998: Transformation der Wohlfahrtsstaaten in Mittel- und Osteuropa. Eine Zwischenbilanz, Opladen.

7) Zitiert nach Boeri, T./Terrell, K. 2002: Institutional Determinants of Labor Reallocation in Transition, in: The Journal of Economic Perspectives 1, p. 71.

8) Hierbei handelt es sich um einen Strukturindikator im Rahmen der Lissabon-Strategie, der zur Abschätzung der Steuerbelastung für Niedrigverdienende benutzt wird (für die Angaben zu Steuern und Sozialabgaben vgl. European Commission 2006: Structures of the taxation systems in the European Union, Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities, pp. 57-69).


Dipl.-Politologin Anne Schüttpelz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Centrum für Globalisierung und Governance der Universität Hamburg. Sie arbeitet dort im EU-Projekt „Strengthening the Role of Women Scientists in Nano-Science“ sowie an ihrer Dissertation zu beschäftigungspolitischen Auswirkungen des EU-Beitritts in den MOE-Ländern.

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