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Klaus Holzkamp

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Quasimodo und der Verband behinderter Glöckner

22.05.2011: Zwischen Wohltätigkeit und Selbstvertretung (I)

  
 

Forum Wissenschaft 1/2011; Foto: Thomas Bethge – fotolia.com

Gut 150 bundesweit arbeitende Verbände und Organisationen werden im Bereich "Kriegsopfer, Behinderte und Rehabilitation" des Oeckl-Taschenbuch des Öffentlichen Lebens in Deutschland aufgeführt. Dort findet sich eine bunte Mischung von Selbsthilfeverbänden, Behindertenstiftungen und Wohlfahrts- oder Reha-Einrichtungen: etwa der Sozialverband VdK, die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, das Deutsche Kuratorium Therapeutisches Reiten oder die Stiftung Aktion Sonnenschein. Das Spektrum ist, positiv gesagt, breit gefächert oder, negativ ausgedrückt, äußerst unübersichtlich. Dieser Beitrag will zur Orientierung beitragen. Er wird in Forum Wissenschaft 2/2011 fortgesetzt.

Für eine erste Orientierung lassen sich grob drei Bereiche unterscheiden: Die Behindertenhilfe- und Wohltätigkeitsorganisationen, die Reha- und Fachverbände und die Verbände, in denen sich behinderte Menschen und/oder ihre Angehörigen selbst organisieren. Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die historischen Wurzeln dieser Verbände.

Paris, 6. Januar 1482 - während auf den Straßen von Montmartre das traditionelle Narrenfest abläuft und die Zigeunerin Esmeralda mit ihrem Tanz den Männern den Kopf verdreht, hocken in einem kalten Verlies der Kathedrale Notre Dame etwa ein Dutzend Gestalten im Kreis. Eine in Lumpen gekleidete Frau erhebt sich und gestikuliert nachdrücklich mit ihren Händen. "Fleur schlägt Quasimodo als Präsidenten vor", übersetzt Pierre, der vorher ihr Sitznachbar war. "Er ist vom ständigen Glockengeläute genauso taub wie sie, hat einen Buckel und kann durch die Warze auf dem einen Auge schlecht sehen. Außerdem finden die Bürger von Paris, dass er am besten das Glockenspiel bedient. Er kann unsere Interessen bei den Pfaffen also am besten durchsetzen. Ich bin für Quasimodo - wer ist noch dafür?" Nach einem kurzen Gemurmel heben sich langsam viele Hände. "He Pierre, mein Stock zählt auch!" ruft der am Boden liegende Gaston. "Also gut", sagt Pierre, nachdem er durch die Runde gezählt hat, "hiermit ist Quasimodo einstimmig zum Präsidenten des Verbandes behinderter Glöckner Frankreichs gewählt worden. Nimmst du an, Quasimodo?"

Selbstorganisation durch Bruderschaften

Wer den Roman von Victor Hugo gelesen hat, weiß natürlich, dass sich die Geschichte so nicht abgespielt hat. Quasimodo ist zwar auf einem Volksfest am 6. Januar gewählt worden, aber zum Narrenpapst, weil er angeblich der Hässlichste war. Doch so oder so ähnlich könnte sich eine Verbandsgründung 45 Jahre vorher in Trier abgespielt haben. Dort wurde Anno Domini 1437 eine Bruderschaft aus blinden und gehörlosen Bettlern gegründet, deren Mitgliedschaft sich später um "Krüppel, Sieche und Aussätzige", aber auch um Nichtbehinderte erweiterte. Zum Vorsitzenden laut Mitgliederverzeichnis wurde der Trierer Weihbischof gewählt, der wohl die Funktion eines geistlichen Schirmherrn übernahm, um die Betteleinnahmen besser fließen zu lassen.

Auch in anderen Gegenden Deutschlands gründeten sich solche Bruderschaften oder Gilden mit Gründungsurkunden und Satzungen. So hatte die Trierer Bruderschaft einen festen Schlüssel zur Vorstandswahl: zwei Krüppel, zwei Blinde, einen Aussätzigen und einen Nichtbehinderten - diese Zusammensetzung über klassische ›Behinderungsarten‹ hinweg ist moderner als es heutzutage bei manch einer Behindertenorganisation die Regel ist. In diesem Sinne können die Bruderschaften als erster Vorläufer einer selbstbestimmten Behindertenbewegung gelten - sie haben jedoch nicht überdauert, wie wir gleich sehen werden.

Wohltätigkeit durch Almosenvergabe

Hintergrund der sozialen Zusammenschlüsse der behinderten Bettler sind die gesellschaftlichen Umbrüche im Spätmittelalter, in der Zeit von Gutenberg und Christoph Kolumbus: In dieser Zeit entwickelte sich der Frühkapitalismus und damit kam auch die Geldwirtschaft zu neuer Blüte: Die Naturalwirtschaft mit der Abgabe des Zehnten an die Feudalherren und die Zeit des Austausches von Naturalien wie Weizen, Bohnen, Schweinen und Geflügel wurde durch die Zeit der Ware-Geld-Beziehungen abgelöst. Dies hatte auch ganz praktische Auswirkungen auf die damals bereits üblichen Almosengaben an Arme und Behinderte: Aus der Gabe von Milch, Brot oder Kleidung wurde die Gabe von Silbermünzen.

Aufgrund der dadurch attraktiver gewordenen Bettelei wurden in den Städten sogenannte "Bettlerordnungen" aufgestellt, die die Almosenvergabe regeln sollten - so wurden etwa behinderte Bettler, die vom Land kamen, aus der Almosenvergabe der Städte ausgeschlossen. Kein Wunder also, dass sich die Bedürftigen zusammenschlossen, um gegen die ausgrenzenden Regeln vorzugehen.

Doch das System der geregelten Almosenvergabe durch die Obrigkeit war stärker als die Bruderschaften: "Denn je mehr die Armenunterstützung von oben organisiert wird, desto weniger passt eine aktive und unabhängige Vereinigung von Bettlern ins Konzept", schreibt Walter Fandrey in seiner Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland1. Dies führte schließlich dazu, dass die "Trierer Bruderschaft" im 16. Jahrhundert in die städtische Almosenvergabe eingebunden und aufgelöst wurde.

In dieser Zeit hat sich die Tradition von obrigkeitlicher, aber auch kirchlich geprägter Wohlfahrt, deren Anfänge in Stiften und Klöstern bereits einige Jahrhunderte vorher datieren, verfestigt. Diese Tradition hat auch bis in die heutige Zeit das Bild vom ›armen Behinderten‹ geprägt, der als Objekt der Fürsorge galt und in den für ihn bestimmten Einrichtungen untergebracht war - und zum Dank dafür nicht aufbegehren sollte.

Rehabilitation der Arbeitskraft

Machen wir einen Zeitsprung in die Industrielle Revolution, die Zeit der Fabriken, der Manufakturen, die Zeit der Entstehung der Arbeiterbewegung. Die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft in vollem Umfang verkaufen zu können, war für das Überleben bestimmend. Und wer dies aufgrund einer Behinderung nicht konnte, war auf die mittlerweile breit ausgebaute Fürsorge angewiesen, wer dies nur teilweise konnte, oblag dem neuen Konzept der Rehabilitation, also der Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft. Zur Qualifikation der späteren Industriearbeiterschaft wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt und ein Sonderschulsystem für behinderte Kinder, etwa die Hilfsschulen für ›schwachbefähigte Kinder‹. Mit besonderem Ehrgeiz stürzte man sich auf die taubstummen und blinden Kinder, die in den Taubstummen- und Blindenanstalten unterrichtet wurden. Da es aber kaum Arbeitsmöglichkeiten für blinde Menschen in der Fabrik gab, wurden Werkstätten und Wohnheime für blinde Menschen errichtet.

Doch vergleichbar den Bruderschaften entwickelten die Bewohner derlei Anstalten ihren eigenen Kopf (von der Anstaltsleitung als ›Freiheits-Schwindel‹ denunziert) und wehrten sich gegen die entmündigenden Strukturen. Im Jahr 1872 wurde so in Hamburg die erste Blindengenossenschaft gegründet, die ausschließlich aus erwachsenen blinden Personen bestand, und bis zum Ersten Weltkrieg folgten weitere Blindenvereine. Als wohl ersten Verband behinderter Frauen stellten die blinden Frauen im Jahr 1912 den "Verein der blinden Frauen Deutschlands" auf die Beine. So wurden die Organisationen der blinden Frauen und Männer die Vorreiter der Selbstorganisation behinderter Menschen in der deutschen Neuzeit. Dabei wurden sie stets argwöhnisch von der Obrigkeit beobachtet - kein Wunder, da die erste Zeitschrift in Brailleschrift, Die neue Zeit, von der SPD finanziert wurde und damals (1909) sozialistisch orientiert war.

In der Zeit der aufblühenden Rehabilitation kristallisierten sich auch die Professionellen-Verbände heraus: Um blinde, taubstumme oder verkrüppelte Kinder zu erziehen, sie in Werkstätten zu unterweisen oder verunfallte Industriearbeiter (oder verletzte Soldaten; dazu später) wieder herzustellen, bedurfte es einer qualifizierten Lehrerschaft und medizinisch-orthopädischer Kunst. Beispielsweise wurde im Jahr 1898 der Verband der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) in Hannover gegründet, der sich unter anderem auf die Fahnen geschrieben hatte, dass Hilfsschullehrer die gleiche Besoldung erhalten sollten wie die Taubstummenlehrer. Im Jahr 1909 entstand die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge (heute Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter, DVfR). In dieser Periode haben also sowohl die Reha-Einrichtungen und die Heilpädagogik als auch die Gegenbewegung der ›Betreuten‹ ihre Ursprünge.

Krieg als Vater aller Dinge?

Folgt man einer sehr zynischen Sichtweise, so sind die Beeinträchtigungen von Soldaten (!) durch Kriegsfolgen wie Erblindungen, Amputationen und dergleichen mehr ein wesentlicher Motor des Fortschritts sowohl auf rechtlicher als auch auf verbandlicher Ebene gewesen. Denn Menschen, die für das Vaterland im wahrsten Sinne ›die Knochen hingehalten‹ hatten, konnten nachher nicht einfach abgespeist werden. Dazu gab es zu viele ›Invaliden‹, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Also mussten Rentenzahlungen, Arbeitsplatzgarantien und andere nachteilsausgleichende Maßnahmen geschaffen werden.

Da diese Maßnahmen aber nicht in dem versprochenen Umfang realisiert wurden, kam es auch hier wieder zu - von Selbstbewusstsein geprägten - Verbandsgründungen und wieder waren die erblindeten Soldaten mit ihrem "Bund erblindeter Krieger", der bereits im Jahr 1916 gegründet wurde, die Ersten. Weitere Kriegsopferverbände mit vielen Tausenden an Mitgliedern organisierten sich nach politischer Ausrichtung: Der "Reichsbund der Kriegshinterbliebenen" (1918) mit damals 750.000 Mitgliedern war eher SPD-orientiert, der zweitgrößte Verband (mit 400.000 Mitgliedern) war der "Zentralverband deutscher Kriegsbeschädigter" (1921) und Gegenspieler zum SPD-Verband.

Doch auch die Zivilbehinderten, die ›Friedensbeschädigten‹, meldeten sich selbstbewusst zu Wort: Schon 1913 waren es 44 Blindenverbände, die sich zum "Reichsdeutschen Blindenverband" zusammenschlossen. 1919 gründeten die zivilen Körperhinderten den "Selbsthilfebund der Körperbehinderten - Otto-Perl-Bund", benannt nach einem ihrer Gründer. In seiner Schrift Krüppelthum und Gesellschaft im Wandel der Zeit von 1926 schuf Perl die theoretischen Grundlagen der ›Krüppelselbsthilfe‹ und sprach strukturelle Diskriminierungen an, die sich teilweise wie ein Bericht aus der Gegenwart lesen, wenn er über mangelnde technische Ausstattungen für Körperbehinderte im Verkehr oder von der Reise im Gepäckwagen schreibt. Leider hatte Perl nur den ›geistig normalen Gehbehinderten‹ im Blick und grenzte sich scharf von den ›geistig unnormalen‹ ab, von Solidarität unter den Betroffenen konnte also keine Rede sein.

Im Jahr 1933 wurde der Selbsthilfebund der NS-Volkswohlfahrt zugeordnet und ›gleichgeschaltet‹. Die Kriegsopferverbände wurden durch die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) ersetzt. Darin blieb der "Bund erblindeter Krieger" relativ eigenständig erhalten, er firmiert heute unter dem Namen "Bund der Kriegsblinden Deutschlands" (BKD).

Zieht man nun ein historisches Fazit, so ist zu erkennen, dass es vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche neue Entwicklungen im Verbändespektrum gab. Zwar waren diese Entwicklungen zuallererst von Mildtätigkeit und Almosengabe geprägt, aber in jeder Phase bildete sich auch eine kritische Gegenbewegung in Form von Selbstvertretungen behinderter Menschen auf zunehmend höherem Niveau heraus. Quasimodos Nachfahren jedoch wurden in vollem Umfang erst wieder nach dem zweiten Weltkrieg aktiv.

Vom ›Sorgenkind‹ zum ›Menschen‹ ...

Wer Beratung oder Unterstützung bei Behindertenverbänden sucht, sollte sich am besten an die "Aktion Mensch" oder den "Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland - ABiD" wenden. - "Wie bitte?", wird es da empört aus der Vielzahl der Kehlen der bundesdeutschen Behindertenorganisationen klingen, "wer meint denn so was? Die haben ja keine Ahnung!" Nun, in der (mittlerweile geänderten) Entwurfsfassung der Broschüre eines Berliner Kulturanbieters wurden im Adressenverzeichnis des Serviceteiles diese beiden "Behinderten-Organisationen" genannt, die bei allgemeinen Fragen zu kontaktieren seien. Es ist ja ein löbliches Vorhaben, die Behindertenverbände einzubeziehen und so ganz unrecht hatten die AutorInnen des Werkes wirklich nicht: Die "Aktion Mensch" wird von vielen Menschen in der Republik als ›die‹ Instanz angesehen, die sich um ›Behinderte kümmert‹ und bei einem Namen, in dem ›allgemein‹, ›Behindertenverband‹ und ›Deutschland‹ vorkommt, kann es sich ja wohl nur um eine Dachorganisation handeln, oder?

Leider alles falsch: Weder ist die "Aktion Mensch" ein Behindertenverband, noch ist der "Allgemeine Behindertenverband" ein Dachverband aller deutschen Behindertenverbände. Diese beiden Organisationen sind in den zwei großen, aber deutlich zu unterscheidenden Bereichen der deutschen Behindertenarbeit angesiedelt: Die Aktion Mensch ist dem Bereich der Behindertenhilfe zuzuordnen, der von den Wohlfahrtsverbänden geprägt ist, und der ABiD ist im Bereich der Behindertenselbsthilfe verankert, dem die Organisationen der Betroffenen zuzurechnen sind.

Schauen wir uns die Verbände der sogenannten ›Behindertenhilfe‹ einmal etwas genauer an und gehen dazu zurück in das Schlüsseljahr 1964: Ein Sorgenkind kommt auf die Welt! Im Jahr 1964 wird Nelson Mandela in Südafrika zu lebenslanger Haft verurteilt, Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis und im Anschluss an die neue ZDF-Lotterie "Vergißmeinnicht" wird zum ersten Mal die Sendung "Aktion Sorgenkind" ausgestrahlt. Ihr Redaktionsleiter Hans Mohl ruft zu Spenden auf, die zusammen mit den Erlösen der Lotterie in die Behindertenhilfe gehen sollen. Zum "Zweck der ordnungsgemäßen Mittelvergabe" wird vom ZDF und den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege der Verein "Aktion Sorgenkind" gegründet, der seit dem Jahr 1985 "Deutsche Behindertenhilfe - Aktion Sorgenkind e.V." heißt. 40 Jahre später kann die (im Jahr 2000 erneut umbenannte) "Aktion Mensch" von sich sagen, dass sie die "größte deutsche Soziallotterie" mit etwa sieben Millionen TeilnehmerInnen und einem aktuellen Jahresumsatz von 400 Mio.Euro darstellt. Aus den Erträgen werden monatlich rund 300 Projekte der Behindertenarbeit, aber auch der Kinder- und Jugendhilfe gefördert.

Doch eine Fernsehlotterie kann auch die ARD veranstalten - was also macht den spezifischen Charakter der "Aktion Mensch" aus und warum wird sie oft fälschlicherweise für einen Behindertenverband gehalten? Es sind dies ihre umfangreichen Aufklärungskampagnen und Aktionen, die seit Ende der 90er Jahre ihr Bild prägen: Etwa die Gründung der Verbändeplattform "Aktion Grundgesetz" im Jahr 1997 mit dem durchschlagenden Slogan "Behindert ist man nicht, behindert wird man", die Kampagne für ein barrierefreies Internet www.einfach-fuer-alle.de oder die aktuelle "Gesellschafter-Kampagne". De facto waren diese Kampagnen nachhaltiger für den Wandel im öffentlichen Bild von Behinderung als manch jahrelange Öffentlichkeitsarbeit der eigentlichen Behindertenverbände.

Behindertenhilfe im Sixpack

Die Existenz einer ›freien‹ Wohlfahrtspflege neben der staatlichen ist außerhalb Deutschlands kaum vorhanden und so lohnt sich ein Blick auf die bereits erwähnten sechs Spitzenverbände, die durch unterschiedliche weltanschauliche oder religiöse Motive geprägt sind - man könnte auch von Wohlfahrt nach Glaubensrichtungen sprechen: Da haben wir - als Sixpack in streng alphabetischer Reihenfolge - die Arbeiterwohlfahrt (AWO), das Deutsche Rote Kreuz (DRK), den (katholischen) Deutschen Caritasverband (DCV), das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (DW), den Paritätischen Gesamtverband und - den meisten nicht bekannt - die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Zusammengeschlossen haben sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). In dieser ist jedoch der Sozial- und Wohlfahrtsverband "Volkssolidarität", 1945 im Osten Deutschlands gegründet und in der DDR primär in der Betreuung älterer Menschen tätig, nur indirekt vertreten: durch seine Mitgliedschaft im Paritätischen Gesamtverband. Seit 1985 gibt es in Deutschland auch einen Islamischen Wohlfahrtsverband, der nach einer Einschätzung der Ruhr-Univeristät Bochum derzeit aber seinen Anspruch, Träger sozialer Einrichtungen zu sein, noch nicht eingelöst hat.

Ein Sonderfall unter den Wohlfahrtsverbänden ist der Paritätische, da er ein "Dachverband von nahezu 10.000 eigenständigen Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich" ist. Unter den Mitgliedsorganisationen finden wir sowohl den "Bundesverband spanischer sozialer und kultureller Vereine e.V." als auch das "Bundeswehr-Sozialwerk" oder das "Netzwerk der Gehörlosen-Stadtverbände" - eine wahrlich bunte und deshalb spannende Mischung. In unserem Zusammenhang erwähnenswert ist das "Forum chronisch kranker und behinderter Menschen", das im Jahre 1986 als ein übergreifender organisatorischer Zusammenschluss von Mitgliedsverbänden des Paritätischen gegründet wurde. Das Forum ist jedoch keine eigenständige juristische Person, sondern eine lose Vereinigung von knapp 40 Verbänden wie der Aids-Hilfe, der Tinnitus-Liga, der Rheuma-Liga, etc. Zweimal im Jahr trifft man sich zu einer Vollversammlung, die unter anderem der Entwicklung von Positionen zu gemeinsamen Themen dienen soll. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist neben dem bekannteren Zentralrat die zweite öffentliche Institution der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Doch als Wohlfahrtsverband wird sie kaum wahrgenommen. Im Feld der Behindertenhilfe führt sie aktuell ein Projekt zur "Integration jüdischer Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung in die jüdischen Gemeinden" durch.

Mindestlohn im ›sozialen Mischkonzern‹?

Doch ist die Behindertenhilfe nur ein Teilgebiet der Tätigkeit der jeweiligen Wohlfahrtsverbände: Es geht auch immer um Kinder- und Jugendhilfe, um Pflege in ambulanter und stationärer Form, um Altenarbeit, um Migrationssozialarbeit, um Schwangerschaftsberatung oder um Katastrophenhilfe. Teilweise ist die Behindertenhilfe in eigenen Verbänden organisiert, wie etwa beim "Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe e.V." (BeB), der dem Diakonischen Werk angehört. Mit seinen rund 600 Einrichtungen deckt der BeB nach eigenen Angaben bundesweit annähernd 50% der Angebote der Behindertenhilfe ab - eine Monopolstellung?

Da in den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände rund 1,4 Millionen Menschen hauptamtlich beschäftigt sind, könnte man auch etwas flapsig von großen ›sozialen Mischkonzernen‹ sprechen. Dass diese Kennzeichnung nicht so ganz aus der Luft gegriffen ist, zeigt die Diskussion um die Mindestlöhne aus dem April 2010, die auch vor den Arbeitgeberverbänden der Diakonie und Caritas nicht Halt machte. Mindestlohn für ihre Beschäftigten in der kirchlichen Pflegebranche? Nicht mit uns, hieß es von der Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (AcU) und dem Verband der Diakonischen Dienstgeber (VdDD). Nachdem dies breite Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen hatte, ruderte Caritas-Präsident Peter Neher dann aber schnell zurück, indem er betonte, dass dies nicht die Gesamtmeinung der Caritas darstelle, sondern nur einen "Beitrag innerhalb des Meinungsbildungsprozesses".

Die gute und sinnvolle Arbeit der Wohlfahrtsverbände soll an dieser Stelle nicht bestritten werden, doch wenn man sich daran zurückerinnert, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in einer früheren Fassung auch am Widerspruch der Kirchen gescheitert ist, so bleibt ein etwas schaler Geschmack zurück, wenn sich die konfessionell geprägten Wohlfahrtsverbände als uneigennützige Begleiter und Helfer von Menschen mit Behinderung präsentieren.

Anmerkungen

1) Fandrey, Walter, 1990: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart



Dieter Stein engagiert sich in der Behindertenbewegung.

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