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Klaus Holzkamp

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Das Sarrazin-Virus

22.05.2011: Die Wut nach unten als Projektion gesellschaftlicher Missstände

  
 

Forum Wissenschaft 1/2011; Foto: Thomas Bethge – fotolia.com

Esra Ayse Onus nimmt ihre Bildungsbiografie zum Ausgangspunkt der Analyse von Rassismus und Klassendiskriminierung und bewertet in dem Zusammenhang die ›Sarrazin-Debatte‹.

Ich bin eine türkischstämmige Migrantin, die in Soest in Westfalen geboren ist. Ich bin 28 Jahre alt und Kind der ArbeiterInnenklasse, des Prekariats und der Unterschicht. Die Grundschule habe ich in einem kleinen Dörfchen namens Oestinghausen besucht, in Soest bin ich mit dem über-ehrgeizigen Einsatz meiner damaligen 16jährigen Schwester auf das Gymnasium gegangen und habe anschließend mit einem glatten Zweier-Abitur an der Universität Münster angefangen, zu studieren. Besonderes Glück hatte ich im Gegensatz zu den meisten gleichaltrigen türkischstämmigen Jugendlichen, weil ich eine engagierte und besorgte Schwester hatte, die sich mit ihren damals 16 Jahren energisch für mich gegen die mächtige Schulempfehlung, "Hauptschule geeignet, Realschule vielleicht geeignet, Gymnasium nicht geeignet", durchsetzte und dafür mit semi-juristischen und emotionalen Anstrengungen sorgte, dass ich trotz aller schulrechtlichen Blockaden auf das Gymnasium kam. Sie wurde selbst aus dem ungerechten deutschen Bildungssystem selektiert und musste selbst unter geistig-seelischen Torturen auf die Hauptschule gehen. Außer einer Heirat hatte sie wegen ihrer miserablen Schullaufbahn keine rosigen Zukunftsaussichten. Was meine Eltern nicht kannten, erkannte sie und wollte mir ein solches jämmerliches und diskriminierendes Bildungsschicksal und Trauma, das sie leibhaftig erlebte, ersparen. Nur ihr habe ich meinen zufällig glimpflich ausgehenden Bildungsweg zu verdanken, niemandem sonst. Weder einem besonderen Genpool rassistischer Selektionsergüsse, noch einer politisch und gesellschaftlich propagierten Chancengleichheit, die in sich schon reinste und größte Schikane ist.

Soziopolitische Schreckensszenarien

Zugegeben, auch wenn ich es egozentrisch finde, meine Lebensgeschichte und -erfahrungen an dieser Stelle zitieren und damit in den Vordergrund stellen zu müssen, möchte ich dennoch signifikante Erfahrungen aus meinem noch relativ jungen Leben kurz skizzieren, um meine momentane Gedankenwelt im gesellschaftlich angespannten und schrecklichen Klima zu beschreiben. Denn ich bin seit einigen Tagen sehr verwirrt und unruhig und halte mich gedanklich mit soziopolitischen Schreckensszenarien auf. Ich wollte mich dieser Debatte und den ganzen beabsichtigten, medialen Wirkungen und Suggestionen entziehen, doch das ist, ob man will oder nicht, längst nicht mehr möglich. Man kann sich dieser gemeingefährlichen Diskussion nicht mehr entziehen. Wo solche laut ausgesprochenen Meinungen und als wahr angenommenen ›Erkenntnisse‹ hinführen, zeigen uns Geschichtsbücher hinlänglich und ausgiebig. Anscheinend ist es zu viel verlangt, zu erwarten, dass Menschen fähig sein könnten, aus zerstörerischen, barbarischen und dunklen Zeiten der Menschheitsgeschichte zu lernen.

Wovon die ganze Zeit die Rede ist, ist wahrscheinlich klar: Sarrazins menschenfeindliche Äußerungen, die erschreckende, gesellschaftlich breite Zustimmung bekommen, und - unverständlicherweise auch mit dem Vorwand des Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung - Amnestie gegen verdiente Verurteilungen genießen. Und das mit solch einer Vehemenz, die sogar auf hinweisende Gefahren solcher verlautbarten Gedankengänge überzogen verächtlich reagiert, dass Grund zur Besorgnis besteht. Das Land der DichterInnen und DenkerInnen ist traurigerweise zum wiederholten Male dabei, in eine Falle gelockt zu werden, aus der es nur schwer zurückfinden würde. Will sagen, dieser gefährliche Weg verwirft den kompletten Gedanken der humanistischen und universell gedachten Errungenschaften, die geistig und körperlich schwer erkämpft wurden. Eben solche Grundsatzprämissen wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Pluralismus, Toleranz, Freiheit sind gerade dabei, über Bord geworfen und durch unnütze, nationalistische und sozialdarwinistische Gedanken substituiert zu werden, die Menschen in Wir/Sie, nach Religionen, Nationen, Eigenkapitalquoten und sonstigen konfliktträchtigen Kategorien selektieren. Die barbarischen Auswirkungen solcher willkürlichen Selektionen sollten wie gesagt hinlänglich bekannt sein ...

Gesellschaftliche Stigmata

Vor drei Jahren trug ich ein Kopftuch. Mittlerweile bin ich froh, das nicht mehr zu tragen. Nicht weil ich mich jetzt besonders frei und gesellschaftlich integriert fühle. Sondern weil ich mich nicht mehr getraut hätte, mich mit einem gesellschaftlich verächtlichen Stigma- und Wiedererkennungszeichen in der hiesigen Gesellschaft zu zeigen. Sarrazins Gedanken sind furchtbar erniedrigend, rassistisch und menschenverachtend. Zu wissen, dass mehr als 50, ja sogar 60-70 Prozent der deutschen Bevölkerung seine Aussagen für richtig, berechtigt oder diskussionswürdig erachten, finde ich emotional wie rational unerklärlich und unerträglich. Ich fühle mich in der Öffentlichkeit nicht mehr wohl. Ich fühle mich wieder fremd. Und nicht mehr nur so bekanntlich fremd, dass ich im Wissen leben könnte, in einer pluralen, offenen und toleranten Gesellschaft zu sein, sondern dass schwache Fremde und wehrlose Minderheiten in einer Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krise wieder dafür herhalten müssen, wirkungsvolle Objekte der verantwortlichen Schuld- und Sündenbock-Zuschreibungen von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miseren zu sein. Der gesellschaftliche Spaltungsprozess scheint aufzugehen. Und das beinahe perfekt. War er nun gewollt, geplant oder zufällig? Meine ganz persönliche Meinung ist, dass er von bestimmten Interessengruppen gewollt, zumindest kalkuliert gewesen war. Und das ist angesichts dieser Lage unverantwortlich und fahrlässig.

Das Medien-Unternehmen Bertelsmann zeigte sich bekanntlich auch während des Faschismus in Nazi-Deutschland in der Verbreitung von Kriegspropaganda sehr erfolgreich. Fest steht, dass der Mediengigant diese Stärke nicht verlernt hat und den Vertrieb von gesellschaftlicher Hetz- und Aufstachelungspropaganda nach wie vor sehr gut beherrscht.

Gegen eine Aufteilung der Menschen in Nationalitäten, Religionen oder sonstige selektierende Gruppierungen war ich zeitlebens allergisch und rebellisch. In meiner Kindheit und Jugend fühlte ich mich in so genannten geschlossenen und frauenfeindlichen Kreisen unwohl, unterdrückt, eingeengt und aussortiert. Ich merkte nach meinem persönlichen Ausbruch vor drei Jahren aus meinem scheinbar geschlossenen muslimischen Kreis aber sehr schnell, dass die freie hiesige Gegen- und Mehrheitsgesellschaft genauso merkwürdig strukturiert gewesen ist, dass auch dort keine wie angenommenen und erwarteten humanistischen und universellen Maßstäbe basierend auf Respekt, Freiheit, Toleranz und Menschenrechte herrschten, sondern das zwischenmenschliche Mit- bzw. Gegeneinander von mehr oder weniger rigoros egoistischen, wirtschaftlichen und kühlen Erwartungshaltungen geprägt waren. Deutsche Leitkultur? Fehlanzeige. Mehr eine kapitalistische bzw. neoliberale Leitkultur, in der jede/r nur solange gut und wichtig war, in der er/sie im das ganze Leben bestimmenden Verwertungsprozess eine unhinterfragte funktionierende und rentable Rolle einnahm.

In meiner Freiheitsodyssee bzw. Emanzipation einer bilderbuchähnlichen, muslimischen Frau erlebte ich die größte Farce und Enttäuschung, die mich nicht in die Selbstverwirklichung und Freiheit führte, sondern direkt auf die Straße setzte und von dort aus ins allgegenwärtige gesellschaftliche Elend der mittellosen, erniedrigten und verachteten Randgruppen stürzte. Ich musste eine sehr lange Weile den Preis für meinen freiheitlichen Willen in einer erniedrigenden Situation der unterschiedlichsten Abhängigkeiten und seelischen und körperlichen Ausbeutungen bezahlen, die in den meisten Situationen schlimmer und entwürdigender wogen, als die mir bekannten Unterdrückungsmechanismen in meinem ehemaligen familiären und sozialen Milieu.

Wenn nun in Feuilletons, öffentlichen Debatten und sonstigen gesellschaftlichen Bereichen über den Islam und die Muslime gestritten wird und dabei Argumente wie Frauenrechte vorgeschoben werden, um einseitig den Islam für frauenrechtliche Problematiken zur Rechenschaft zu ziehen, dann weiß ich mittlerweile, dass nicht die Frauen das wahre Anliegen sind, sondern die rechtspopulistische oder neokonservative Zuspitzung des bizarren gesellschaftlichen Spannungsfeldes, indem fragwürdige und existierende Probleme nicht ernsthaft der Beschreibung, Analyse und/oder Behebung willen, sondern alleine des Populismus willen in einer unhaltbaren ebenso uninteressierten Problemlage missbraucht und instrumentalisiert werden. Und in solchen wie in allen sinnlos faschistoiden Debattiervorhaben sollen sich alle noch so verantwortungs-, gewissenlosen, karriere- und geldgeilen Medien-Egomanen profilieren, die dem meinungshungrigen Publikum die stereotypesten, schauderhaftesten und geschmacklosesten Polemiken aufheizen und servieren können.

Dank der schwierigen Erfahrungen, die ich persönlich machen musste, habe ich ein gemäßigtes und relativiertes Bild bekommen. Ich habe relativ schnell erkannt, dass es sinnlos und falsch ist, meinen ganz persönlichen Leidensweg zum Dogma zu erheben, wie etwa vermeintliche VerteidigerInnen der Aufklärung, gleich Necla Kelek, dieses notorisch zu tun pflegen. Genauso sinnlos und falsch ist es, diese Problemlage alleine mit kulturalistischen Unterschieden zu erklären versuchen, um eine Kultur über die andere siegen zu lassen, um im Ergebnis des kulturellen Rankings alle sozioökonomischen Gesichtspunkte unter den Tisch fallen zu lassen.

Und obwohl es in dieser Schieflage hauptsächlich um sozioökonomische Aspekte geht, die eklatanten gesellschaftlichen Probleme zu erklären, wird dieser Gedanke rigoros missachtet und ignoriert. Alle müssten und sollten eigentlich wissen, dass die gesellschaftlichen Konflikte nicht in kulturellen Unterschieden begründet liegen, nicht die Probleme zwischen Deutschen und Muslimen, Europäern und Orientalen sind, sondern nur die zwischen Reichen und Armen, Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Oben und Unten, zwischen Herrschenden und Unterdrückten, zwischen Gewinnern und Verlierern. Diese Konfliktlinie ist leider längst nicht tradiert und überholt, sondern gerade wieder en vogue, so en vogue, dass dieses nicht so reflektiert werden soll und als links-reaktionär ins geistige Abseits gedrängt wurde, damit gleichzeitig über alle wichtigen wirtschaftlichen Probleme in der Gesellschaft hinweggesehen werden kann.

Was also derzeit der wütende Mainstream in alarmierender Manier und kaschierten Faschismen zum Ausdruck bringt, ist das Spiegelbild zu dem, was auch in unteren Minderheiten-Milieus in vielleicht genau demselben Anteil gedacht und gelebt wird. Ein solches problematisches und komplexes Thema durchdringt man aber nicht, indem man in anachronistischen Denkschablonen verharrt, die nicht an der EURheit sondern an gefährlicher Austragung irgendwelcher fragwürdiger emotionaler Aggressions- und destruktiver Konfliktpotenziale interessiert sind.

Universeller Humanismus

Alle Menschen sind in meinem Denken und gesellschaftlichen Handeln gleich, genauso wie ich es bewundernd in der Erklärung der Menschenrechte gelesen habe und von philosophischen und von etlichen ethischen Idealen und Wertemaßstäben beseelt bin, die von solchen Größen und Weltbürgern wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Hegel, Feuerbach, Immanuel Kant usw. begründet wurden - um nur einige ganz spontan zu nennen. Solche Vordenker und Vorfahren waren für mich stets die geistigen Größen und Wegweiser dieser westlichen Welt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Meine literarische und ästhetische Bewunderung gilt weiterhin Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die meisten ihrer Werke sind eine nicht mehr wegzudenkende Bereicherung in meinem Leben und ich bin froh, sie im Original verstehend lesen und genießen zu können. Dieses wahre Glück hat und erkennt nicht jeder Mensch. Und ich will mehr: Mehr Sprachen sprechen, damit die Welt verstehen, die Ungerechtigkeiten und weltlichen Ungereimtheiten sehen, die Ursachen erforschen, mehr DenkerInnen und DichterInnen aus anderen Räumen und Gedankenwelten kennen lernen und den geistigen Horizont erweitern. Wenn es mir entgegen meiner Bescheidenheit und Mittellosigkeit möglich ist, auch da direkt aktiv und helfend eingreifen, wo in meiner unmittelbaren Nähe Not und Elend stillschweigend herrschen und regieren.

Lange Rede kurzer Sinn: Fatale und menschenfeindliche Kategorisierungen und Schlussfolgerungen von gesellschaftlichen Problemen haben noch nie für erstrebenswerte und vorbildliche Vorgehen in der Geschichte gesorgt. Man tut gut daran, die Geschichte vor allem in solchen hitzigen und eindimensionalen Diskursen immer im Hinterkopf zu behalten. Denn: Geäußerte Menschenfeindlichkeit ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

Und dieses von Sarrazin in Gang gesetzte Verbrechen ist salonfähig geworden. Was gegen die Ausbreitung dieses Verbrechens hilft, weiß ich derweil leider nicht, aber eine ehrliche Öffnung des eigenen Lebens für andere Menschen, ohne sie in Schablonen und Erwartungshaltungen zu pressen, die richtigen AufklärerInnen der Menschheit nochmals und immer wieder richtig und verstehend zu lesen, sich kritisch mit allen Glaubensinhalten und Prophetengeschichten auseinander zu setzen, ihre verblüffend ähnlichen Dogmen und Entwicklungsgeschichten zu rezipieren, die Lebenswirklichkeiten der Menschen mit all ihren Facetten zu erfassen, aufeinander zuzugehen und das eigene private und soziale Leben mit universellen positiven Werten, Traditionen und Unterschieden zu pluralisieren und die positive Vielfalt zu pflegen und auszuleben, sind spontane Ideen, die mir dazu einfallen. Das Schwierige ist stets wie in allen Belangen und Problemen, friedliche und fortschrittliche Lösungen zu finden, das Leichte ist, Polemiken zu verbreiten und Schuldzuschreibungen zu äußern, natürlich am einfachsten und unproblematischsten diejenigen für schuldig zu sprechen, die sich nicht wehren und öffentlich wirksam äußern können. Die subalternen Gruppen dieser Gesellschaft, eben MigrantInnen, Hartz IV-EmpfängerInnen, BildungsverliererInnen usw., die wehr- und machtlos in Not und Elend ausharren müssen, und weder eine gescheite und vernünftige Lobby haben, noch es sich irgendwie in ihrer Rolle der Geächteten leisten können, sich zu äußern, weil ihre Worte, Gedanken und Gefühle nicht interessieren. Sie werden von herrschenden Interessen überschattet und in noch schwächeren Einzelgruppen partialisiert, um im Zweifelsfall gegeneinander ausgespielt werden zu können. Das altbekannte kapital- und herrschaftsgesteuerte Spielchen eben, das soeben in vollen Zügen ausgelebt wird.

Wehret den Anfängen - mit Vernunft, Verstand, Humanismus und Aufklärung!

Anmerkung

Der Beitrag erschien erstmalig in: Dishwasher - das Magazin für studierende Arbeiterkinder, Sonderausgabe, September 2010, dishwasher.blogsport.de/2010/09/06/das-gemeingefaehrliche-sarrazin-virus/ . Mit freundlichem Dank an Autorin und Redaktion



Esra Ayse Onus studiert an der Universität Münster

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