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Klaus Holzkamp

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Selbstverlust und Ich-AG

15.12.2003: Massenarbeitslosigkeit als gesellschaftlicher Gewaltakt

  
 

Forum Wissenschaft 4/2003; Titelbild: E. Schmidt

Obwohl inzwischen allen klar sein müsste, dass Massenarbeitslosigkeit ein strukturelles Problem ist, wird weiterhin mobil gemacht gegen vermeintlich faule Arbeitslose, die in der "sozialen Hängematte" und den rechtschaffenden BürgerInnen auf der Tasche liegen. Christine Morgenroth belegt, dass in einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft das Leben ohne Erwerbsarbeit alles andere als gemütlich ist. Dennoch zielen die neuen "aktivierenden" Maßnahmen fatalerweise auf eine vollständige Anpassung des (erwerbslosen) Individuums an die Marktstrukturen, auf eine Auflösung der Person in einer "Ich-AG".

Arbeit, vorrangig Erwerbsarbeit, hat für Lebensgestaltung und Identitätsentwicklung von Menschen einen zentralen Stellenwert. Der in den 1980er Jahren prognostizierte Wandel von der Produktions- und Leistungsgesellschaft hin zur Erlebnis- und Spassgesellschaft hat nicht stattgefunden. Die freiwillige oder unfreiwillige Reduktion von Lebensarbeitszeit durch immer höhere Produktivität werde, so damals die Vermutung, nahezu zwangsläufig zu gravierenden Veränderungen im sozio-kulturellen Gefüge westlicher Gesellschaften führen, die Erwerbsarbeit folglich ihre zentrale Bedeutung für das Selbstwertgefühl und die Identitätsentwicklung verlieren. Im Gegensatz dazu zeigen Untersuchungen, wie etwa die Shell-Studie von 2002, dass junge Menschen die Orientierung an Werten der Arbeitsgesellschaft unverändert aufrechterhalten: Leistung und Ehrgeiz werden von 76% als höchste Werte genannt, die Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt von 67% als vordringlichstes politisches Ziel, die schlechte Wirtschaftslage bzw. die drohende Armut als dominierende Angst (72%), gefolgt von der damit eng zusammenhängenden Angst vor Arbeitslosigkeit (56%). Die Orientierung auf Erwerbsarbeit behält demnach ihre herausragende Bedeutung für die Identitätsentwicklung junger Erwachsener. Die Teilhabe am Erwerbsarbeitsprozess ist für viele Menschen die wichtigste, nicht selten die einzige Möglichkeit, die Erfahrung von Zugehörigkeit zu machen, soziale Beziehungen zu erleben, Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Die Bedeutung der Arbeit für Lebensgestaltung und Wohlbefinden wird durch ihre Verknappung sogar noch erhöht. Dies gilt besonders für Menschen, die nicht mehr am Anfang ihres Berufslebens stehen.

Martha (49 Jahre, Altenpflegerin) schildert in einer Gruppendiskussion die Erfahrungen längerfristiger Arbeitslosigkeit: "Was einem doch sehr weh tut oder vielleicht persönlich nur mir: Wenn Sie ausscheiden aus der Firma, sind jahrelang drin gewesen, haben einen netten Kollegenkreis um sich gehabt, und es heißt dann: Also schön, du bist ausgeschieden, aber wir vergessen dich so leicht nicht, wir besuchen dich noch. Das sind Worte, nach meiner Erfahrung, zum Trost. Es hat nicht einer, nachdem ich arbeitslos war, den Weg zu mir gefunden. Ich bin nicht in Feindschaft ausgeschieden und habe sehr, sehr nette Kollegen gehabt. Aber in dem Moment, wo das Tor sich schließt, muß man wissen, man ist ausgeschaltet. Und damit muß man auch erst fertig werden. (…). Acht Stunden arbeitet der Mensch, das ist ja schon ein ganzes Leben, und vier Stunden war man zuhause. Das ist auch, was ein schweres Problem ist. Sie sind plötzlich abgeschnitten, Sie hören von dem, wo Sie dringestanden haben, gar nichts mehr, obgleich Sie dieses Leben, das Arbeitsleben, intensiver gemacht haben wie Ihr Privatleben.”1

Soziale Kontakte und die Integration in gesellschaftliche Zusammenhänge sind über den Arbeitsplatz bestimmt. Tatsächlich wird die Arbeitslosigkeit zum Ausschluss aus diesen Zusammenhängen, nicht umsonst erscheint die Firma, in der das Arbeitsleben stattgefunden hat, wie eine Festung, die vom Arbeitslosen nicht mehr eingenommen werden kann. Ausgeschaltet, abgeschnitten zu sein, wird wie eine körperliche Verletzung geschildert, der Vorgang gewinnt eine existentielle Bedeutung und es entsteht tatsächlich das Bild einer durch Ausgrenzung und Isolation erfolgten Gewalttat. Massenarbeitslosigkeit stellt sich so als ein gesellschaftlicher Gewaltakt dar, der sich gegen das Arbeitsvermögen von Menschen richtet und in der Folge ihre Würde sowie ihre Selbstachtung zerstört.

Psychosoziale Folgen

Der Verlust des Arbeitsplatzes geht - unabhängig von der Qualität der sozialstaatlichen Absicherungen - mit erheblichen materiellen Einbußen und gesundheitlichen Gefahren einher. Die psychosozialen Folgen des Verlustes des Arbeitsplatzes sind von der sozialwissenschaftlichen Arbeitslosenforschung seit langem untersucht, und es ist z.B. seit Jahrzehnten bestätigt, dass die Erwerbslosigkeit phasenspezifisch verarbeitet wird. Nach dem betäubenden ersten Schock gibt es ein Aufatmen, ein Befreiungserlebnis. Die Freisetzung wird auch als Entlastung erlebt (die aber auch der Verarbeitung des Schocks gewidmet ist und nicht als "Urlaub" missverstanden werden darf). Nach einigen Wochen beginnt eine Phase der verstärkten Aktivität, Qualifizierungsmaßnahmen, Bewerbungsanstrengungen, soziale Netze werden mobilisiert. Bleibt diese Anstrengung erfolglos, wird sie nach einigen Wochen und Monaten abgelöst von einer wachsenden Interesselosigkeit, Mattheit, Hoffnungslosigkeit. Die Anstrengungen lassen nach, weil die immer neuen Ablehnungen so frustrierend sind, der Rückzug in immer enger werdende soziale Verhältnisse, letztlich die eigenen vier Wände als Bollwerk gegen die bedrohliche Welt, beschleunigt sich. Auch aus materiellen Gründen werden die Lebensmöglichkeiten enger und farbloser. Die Angst vor Ablehnung und Abwertung verstärkt den Rückzug ins isolierte Privatleben. Am Ende stehen apathische Resignation und Fatalismus, d.h. ein völliges Aufgeben der Hoffnung auf positive Veränderung und ein Verschwinden der vitalen Lebenskräfte.

Ebenso gesichert sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei längerer Erwerbslosigkeit, die eine hohe Ähnlichkeit mit Erkrankungen unter Stress aufweisen. Erwerbslosigkeit als kritisches Lebensereignis bringt eine Vielzahl von Stressoren mit sich, die ihren somatischen Ausdruck finden. Ein Viertel aller Erwerbslosen leidet unter nachweisbaren chronischen Beschwerden, der Anteil erhöht sich signifikant mit Dauer der Erwerbslosigkeit. Schlafstörungen, Herzrhythmusstörungen, Blutdruckveränderungen und eine Schwächung des Immunssystems, die den Körper für eine Vielzahl von Erkrankungen anfällig macht, sind typische Folgeerscheinungen. Möglicherweise kann der Verlust des Arbeitsplatzes mit seinen schweren Kränkungen über den Status der Krankheit eher akzeptiert werden. Schwäche, Antriebslosigkeit, Abhängigkeit, Unterstützungs- und Hilfsbedürftigkeit als Eigenschaften der Krankenrolle sind eher zu ertragen und sozial akzeptierter als dieselben Eigenschaften im Kontext der sozial stigmatisierten Rolle der Erwerbslosen. Als subjektive Abwehr des Erwerbslosenstatus liegt eine psychosomatische Stressverarbeitung als Konstruktion zur Entlastung geradezu gefährlich nahe: Erwerbslose werden durch die soziale Konstruktion der Arbeitsgesellschaft und den kulturellen Deutungsmustern, die jede Form des Nichtstuns diffamieren, geradezu in die Krankheit getrieben.

Diese sozial-kulturellen Deutungsmustern prägen auch die Erklärungen, die für den Verlust des Arbeitsplatzes zur Verfügung stehen. Dabei gibt es einen bedeutsamen Unterschied zwischen den offiziellen gesellschaftlichen Erklärungen für die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die in den letzten 20 Jahren je nach politischer und ökonomischer Konjunkturlage schwankten, den Verarbeitungsmodi der Noch-Beschäftigten (Angst und Verleugnung) sowie den subjektiven Deutungsmustern der Betroffenen. Entgegen aller Vernunft halten sich vorurteilshafte Einstellungen ("Wer arbeiten will, findet auch Arbeit"), die den Betroffenen eigenes Verschulden nahelegen oder wenigstens eine Mitschuld suggerieren. Dies unterstützt die Haltung vieler Erwerbsloser, die ausgegrenzt aus den tragenden beruflichen Zusammenhängen, voller Scham im Rückzug sich selbst die Schuld für die Misere anlasten und damit ihr Selbstvertrauen noch weiter untergraben. Sich selbst zu beschuldigen, sich klein und wertlos machen, kennzeichnet den fatalen Mechanismus der individuellen Schuldzuweisung.

Depressive Dynamik

Eine weitere gesicherte Auswirkung längerfristiger Erwerbslosigkeit liegt im Bereich von Zeitstruktur und subjektivem Zeiterleben. Die durch die täglichen, wöchentlichen, jährlichen Arbeitszeiten vorgegebenen Lebensrhythmen führen zu einer Gewöhnung an fremdbestimmte Zeitorganisation. Diese Anpassungsprozesse werden seit der frühesten Kindheit trainiert - der Verlust des Arbeitsplatzes setzt sie plötzlich und ungeregelt außer Kraft. Die Folge ist wenigstens eine beträchtliche Irritation. Den fremdbestimmten Zeitabläufen eine autonome Zeitorganisation entgegenzusetzen, ist keine kleine Herausforderung. Sie wird unter den genannten Stressbedingungen der Erwerbslosigkeit noch schwerer zu bewältigen und misslingt häufig. Folgeerscheinungen sind Verlangsamung aller Abläufe, das Erleben einer ausgedehnten, zerdehnten Zeit ohne Anfang und Ende, die vermeintliche Endlosigkeit eines Tages. Diese Entwicklung mündet in quälende Zustände, die individuell kaum aufzuheben sind, weil sie die Außenanforderung benötigen, um ein Ende zu finden. Was die soziale Umgebung als Verwahrlosung und Antriebsschwäche wahrnimmt und häufig diskriminiert, ist oft ein Ausdruck des Zerfalls der erlebten Zeit, der Erosion von lebenswichtigen Strukturelementen im Lebenszusammenhang.

Frauen werden unter dieser Veränderung in anderer Weise leiden als Männer. Die Anforderungen der Hausarbeit, die sonst neben der Erwerbsarbeit zu bewältigen waren, erweisen sich nun als geeignet, um Problemen der Zeiterosion und Sinnlosigkeit zu begegnen: Wenn Hausarbeit als bedeutsame Tätigkeit begriffen wird (wofür entschieden zu plädieren ist) und solche Tätigkeiten wie die Erwerbstätigkeit als identitätsstiftend verstanden werden, dann muss dieser Tätigkeit im Haus eine entsprechende Funktion zugesprochen werden. In diesem Sinne verfügen Frauen, die ja auch als Erwerbstätige beide Bereiche zu vereinbaren hatten, über eine zusätzliche Möglichkeit, ihren Tagesablauf sinnvoll zu strukturieren.

Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, welche Bedeutung sie diesem Tun subjektiv beimessen: welches der beiden Tätigkeitsfelder für das subjektve Identitätsempfinden als wichtiger, zentraler begriffen wird. Erst mit diesen Selbstdeutungen findet sich ein Zugang zum Verständnis, ob erwerbslose Frauen den Verlust des Arbeitsplatzes besser als Männer verkraften. Wenn also davon auszugehen ist, dass Erwerbstätigkeit im subjektiven Verständnis für den Lebensplan vieler Frauen eine zentrale Bedeutung hat (für Zufriedenheit, materielle Unabhängigkeit vom Partner, Entscheidungsmöglichkeiten über eigene Lebensgestaltung etc.) und der identitätsstabilisierende, sinnstiftende Zusammenhang der Erwerbsarbeit eher größer ist als der auf Hausarbeit bezogene, dann ist der Verlust des Arbeitsplatz im Lebensentwurf von Frauen ein zentrales, belastendes und damit kritisches Lebensereignis, dessen Integration in die persönlichen Lebensverhältnisse eine psychosoziale Belastungskrise darstellt, deren Intensität sich von der männlichen nicht unterscheidet, auch wenn einzelne Faktoren einen anderen Stellenwert haben.

Erosion von Zeitstruktur und Selbstwertgefühl, Rückzug aus sozialen Bindungen und Beeinträchtigung aufgrund vielfältiger Stigmatisierungen lassen sich als depressive Dynamik verstehen, die Beeinträchtigungen der Ich-Stärke mit sich bringt. Diejenige vitale Energie, die täglich in die Erwerbsarbeit eingeflossen ist, die als kreatives Potential die Gestaltung der Arbeitsvollzüge bewirkt und Ideen produziert hat, die damit in sachbezogenes, sozial erwünschtes und individuell befriedigendes Tun kanalisiert wurde, liegt im Fall der Arbeitslosigkeit brach und sucht sich neue Gestaltungsfelder. Die Zunahme autoaggressiver Phänomene (Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Suizidversuche) im Kontext langanhaltender Erwerbslosigkeit ist für Frauen und Männer gut dokumentiert.

Das freigesetzte Energiepotential ist beträchtlich, denn eine Gesellschaft, in der Leistungsfähigkeit und Produktivität fetischisiert werden, bringt entsprechend eingestellte Arbeitskräfte hervor. Alternative Tätigkeitsfelder gibt es kaum. Die hochindividualisierte Risikogesellschaft tendiert zur Auflösung informeller, traditioneller Zusammenhänge; damit wächst ohnehin der emotionale Druck auf die verbleibende Kleinstfamilie. Wenn nun die Belastung durch den Verlust des Arbeitsplatzes und die materiellen Beeinträchtigungen hinzukommen und die oben angedeuteten Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit auftreten, wächst notwendig die Gefahr eruptiver Entladungen. Diese können sich dabei gleichermaßen gegen die eigene Person oder gegen andere Menschen richten. Die gleichsam frei flottierende aggressive Energie, die ihr Sublimierungsfeld verloren hat, überschwemmt das geschwächte Ich des Arbeitslosen, stellt höchste Anforderung an Realitätsprüfung und Kontrolle, mit der Menschen vielfach überfordert sind.

Man muss nur wollen …

Diese Auswirkungen langfristiger Arbeitslosigkeit stehen in einem direkten Wechselverhältnis zu den Vorschlägen, die derzeit unter dem Stichwort "Hartz"-Reformen diskutiert werden.

Zu den verschiedenen Instrumenten, mit deren Hilfe die Arbeitslosigkeit bekämpft werden soll, gehören u.a. eine veränderte Zumutbarkeitsregelung und die Erleichterung der Existenzgründung, insbesondere über die so genannte Ich-AG.

Welche Arbeit für einen Arbeitslosen als zumutbar gilt, unterliegt künftig veränderten Kriterien, die als anpassungsfähiger und flexibler gelten und somit der Lebenssituation der Menschen gerechter werden können - so der Anspruch. Faktisch heißt das, dass das Instrument der Sperrzeiten (d.h. die Sanktionsmöglichkeiten durch die Streichung der materiellen Unterstützung) weitaus differenzierter eingesetzt werden wird. Was als "zumutbar" gilt, wird in Abhängigkeit von der familiären Situation, dem Lebensalter und der Dauer der Arbeitslosigkeit definiert. Wenn jemand jung, ungebunden und länger als drei Monate arbeitslos ist, kann ihm/ihr daher durchaus zugemutet werden, sich wegen einer Arbeitsstelle an das andere Ende der Republik zu bewegen. Mit diesen "Differenzierungen" soll die "Ernsthaftigkeit der eigenständigen Integrationsanstrengung verstärkt werden.”2 Diese Definition unterstellt, dass Arbeitslose bislang keine wirklichen Anstrengungen unternommen haben, aus eigener Kraft oder mit Unterstützung der Ämter wieder eine feste Beschäftigung zu finden. Sie setzt irrigerweise voraus, dass es genügend Arbeitsplätze im Angebot auf dem alles regulierenden Arbeitsmarkt gibt. Der zentrale Mangel liegt jdoch nicht bei den AnbieterInnen ihrer Arbeitskraft, sondern im Fehlen von Arbeitsplätzen. Daher können die Vorschläge, die auf Verbesserung der Vermittlungsleistung auf seiten der Ämter und auf Erhöhung der Flexibilität auf seiten der arbeitslosen Menschen zielen, den Betroffenen nur als purer Zynismus erscheinen. Das Defizit liegt auf der Seite der Unternehmen, die nicht genügend Arbeitsplätze anbieten, nicht an mangelnder Motivation der Arbeitssuchenden.

Auf Seiten der Institutionen werden jedoch erhebliche Anstrengungen unternommen, diese Fiktion für die Betroffenen zur Realität werden zu lassen, indem die entsprechenden Instrumente tatsächlich geschaffen werden: Die veränderten Zumutbarkeitsreglungen werden unmittelbar wirksam, die Profiler gibt es tatsächlich, diese Veränderungen sind durchaus real. Es sind Transformationsprozesse, die für den Arbeitslosen schon deshalb von enormer Plausibilität sind, weil sie ihn tagtäglich und unmittelbar berühren. Diese konkrete Erfahrung trägt zu einer Verinnerlichung eines gesellschaftlich erwünschten, fremdentworfenen Selbstbildes weitaus effektiver bei als moralische Appelle.

Ähnliches gilt für die "Ich-AG", eine weitere Spezialität aus dem Katalog der Kommission. Nach Auffassung der Experten handelt es sich um eine Vorstufe zur vollwertigen Selbstständigkeit: Arbeitslose erhalten für drei Jahre Zuschüsse vom Arbeitsamt, die sich an der Höhe des Arbeitslosengeldes zuzüglich der zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge orientieren und von Jahr zu Jahr abnehmend gestaffelt sind (von 50% im ersten bis 20% im dritten Jahr). Die Einnahmen der "Ich-AG" unterliegen einer Pauschalbesteuerung von 10%, die Verdienstgrenze liegt bei 25.000 Euro pro Jahr. Da auch Privathaushalte und Unternehmer, die die Leistungen der "Ich-AG" in Anspruch nehmen, diese steuerlich absetzen können, soll sich künftig Schwarzarbeit nicht mehr lohnen.

Das Mensch-Institutionen-Wesen

Schon der Begriff "Ich-AG" bestürzt. Die gesellschaftlichen Risiken, die durch veränderte Unternehmensstrategien, Globalisierung der Märkte und frei flottierende Kapitalflüsse entstehen, sollen von jedem/r Einzelnen übernommen und abgefedert werden. Das Ich, d.h. die individuelle Einzelperson, steht dem Kapital und seinen Modernisierungsschüben gleichsam ungeschützt und allein gegenüber. Der Abbau staatlicher Schutzfunktionen und der Verzicht auf kollektive Solidarisierung, etwa über gewerkschaftliche Organisation, bringt das risikobewusste und verantwortungsvolle Individuum hervor, das eine unbegrenzte Bereitschaft mitbringt, sich wie ein Chamäleon den immer schneller sich ändernden Bedingungen der Arbeitsmärkte anzupassen. Diese schmiegsame und veränderungsorientierte Persönlichkeit soll aber gleichzeitig über hohe moralisch-ethische Kompetenzen verfügen. So soll sie sich zwar von der Schwarzarbeit abwenden, um dem Gemeinwesen nicht zu schaden, darf aber z.B. nicht danach fragen, warum die Unternehmen so stolz darauf sind, durch Ausnützen sämtlicher Lücken in der Steuergesetzgebung keinerlei Beiträge in die Steuerkassen zu leisten.

Begriffe wie "Ich-AG" tragen zu einer Verwandlung der Selbstdefinition von Menschen bei. Der öffentliche Gebrauch solcher Begriffe erzeugt eine Suggestion, das auch zu werden, was implizit gefordert wird. Durch beträchtliche mediale Anstrengung wird ein neues Menschenbild erschaffen und im öffentlichen Bewusstsein platziert. Damit ist ein wichtiger Schritt in die Veränderung des Referenzrahmens getan, innerhalb dessen sich Menschen selbst begreifen können. Es findet eine sukzessive Verwandlung in der Selbstdefinition statt: aus einem eigenständigen und verantwortungsvollen Subjekt, das "Ich" sagt und sich als individuelle menschliche Lebensorganisation meint, die in soziale Bezüge und wesentliche Sinnzusammenhänge eingebunden ist, wird in der öffentlichen Sprache ein Wesen von unternehmerischer Grundstruktur - ein Cyborg ganz besonderer Art, ein Mensch-Institutionen-Wesen. Mensch und Selbstbild bestehen in Angleichung an das System und seine Institutionen. Diese unternehmerische Analogiebildung gemahnt an das "Wörterbuch des Unmenschen", und zu Recht wurde der Begriff zum "Unwort des Jahres" 2002 erklärt. Die Herabsetzung menschlicher Schicksale auf ein instrumentelles Börsenniveau trägt Züge von Menschenverachtung, denn ein "Ich" kann keine Aktiengesellschaft sein, befand die Jury. Die Wortschöpfung erweist sich als sprachliche Brücke für ein neues Menschenbild und veränderte normative Orientierungen. Die Umdefinition von ArbeitnehmerInnen in UnternehmerInnen ändert nichts an den harten Fakten: Arbeitslosigkeit stellt in der modernen Gesellschaft ein anhaltendes Risiko dar, das von vielen Menschen zu Recht gefürchtet wird und immer größere Gruppen von Beschäftigten betrifft. Die semantische Geburt des Individuums als Aktiengesellschaft und seine nachdrückliche Erschaffung in der virtuellen Realität der Medien können daran nichts ändern.

Die Realität spricht im Übrigen eine ganz andere Sprache, die den sprachlichen Bemühungen einen Zerrspiegel vorhält: die Zahl der Insolvenzen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 24,8% und bei den Selbstständigen um 9,1%.3 In welchem Umfang die Gründung von "Ich-AGs" die Arbeitslosenzahlen senken kann, zeigt sich daran, dass sich nur 50.000 Arbeitslose im Laufe eines Jahres selbständig gemacht haben - 200.000 sollten es laut Prognose der "Hartz-Kommission" pro Jahr sein. Die große Welle der Existenzgründungen blieb also aus. Aber die Arbeitsämter suchen trotz der Firmenpleiten weiterhin " mutige Führungskräfte”, die nicht mehr als 25.000Euro verdienen (wollen). Floppt die "Ich-AG", trägt der Investor die volle Verantwortung. Und nach drei Jahren ist Schluss mit dem dann ohnehin geringen Zuschuss.

In der veröffentlichten Sprache liegt eine beträchtliche Suggestion. Lehrkräfte, Geistliche, JournalistInnen sind aufgefordert, sich dieser neuen Sprache zu bedienen, um in gemeinsamer Anstrengung "in allen Teilen der Bevölkerung ein neues Verständnis von Lebensarbeitszeit und lebenslangem Lernen zu verankern.”4 Unverblümt wird dazu aufgefordert, dieses neue Menschenbild zu erzeugen und es solange facettenreich und nachdrücklich zu wiederholen, bis im Innern der Menschen, in ihrer mentalen Struktur, ein neues Schema erzeugt ist, eine neue Selbstdefinition entsteht. Zu dieser Selbstdefinition gehört dann eine zunehmende Bereitschaft, sich den ohnehin geforderten Aufgaben zu stellen. Und nicht nur das: in den daraus erwachsenden Selbstzuschreibungen liegt ja gerade das enthalten, was psychologisch als individuelle Schuldzuweisung solche depressiven Verheerungen anrichtet. Man könnte es bei der Feststellung belassen, dass es sich hier um eine Ideologie handelt, die gezielt falsches Wissen erzeugt und damit notwendig falsches Bewusstsein zur Folge hat. Aber so einfach ist es durchaus nicht; es ist nicht einfach eine Erzeugung von Scheinwirklichkeit, denn die tatsächlichen Maßnahmen einer relevanten Institution wie der Arbeitsverwaltung, die in Gestalt von Vorschriften, Sanktionen und Angeboten dem Arbeitslosen entgegentreten, sind ja wesentlich realer als es bloße Produkte der Medien je sein können. Je mehr Strategien in diese Richtung weisen, je intensiver diese Schritte akzeptiert und in der Öffentlichkeit, von den als "Profis" bezeichneten MultiplikatorInnen auch vertreten werden, desto schwieriger wird es für den einzelnen Menschen, kritische Distanz zu halten und aus eigener Kraft eine Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse vorzunehmen - zumal durch Arbeitslosigkeit diese Fähigkeit zur realitätsgerechten Selbststeuerung ohnehin einer deutlich erhöhten psychosozialen Verwundbarkeit gewichen ist.

Verinnerlichung von Herrschaftstechniken

In diesem Vorgang zeigt sich in exemplarischer Schärfe ein Bild der Verschränkung von Selbstverhältnissen und Gesellschaftsentwürfen, das in der sozialwissenschaftlichen Diskussion der angelsächsischen Länder als governmentaly bezeichnet wird. Die Feldstudien und Diskursanalysen der governmentaly studies führen einen Ansatz von Foucault weiter, der auf eine späte Vorlesung zurückgeht, in der er das Konzept der "Gouvernementalität" eingeführt hatte, um Ausweitung der Machttechniken des souveränen Gesetzesstaates auf die Bereiche der politischen Ökonomie und der Bevölkerungspolitik zu beschreiben. Systematisch verbinden sich in diesem Konzept die Begriffe des Regierens (gouverneur) und der Denkweise (mentalité), es betont damit die enge Verflechtung von Selbst- und Herrschaftstechniken. "In der zweiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen, und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert und modifiziert wird.”5 Die neoliberale Gouvernementalität passt die individuelle Selbstbestimmung bestimmten Handlungsoptionen an, denen sich das Subjekt nicht entziehen kann. Denn es würde sich gegenüber einer Rationalität verschulden, deren hegemoniale Alternativlosigkeit es durch seine eigene Handlungsentscheidung permanent realisieren soll. Es geht also um die Neubestimmung des Verhältnisses von Prozessen der Subjektivierung zu Herrschaftsformen. Grundlage der Analysen ist die kritische Auseinandersetzung mit der neoliberalen Gouvernementalität. "Neoliberalismus wird dabei nicht allein als ideologische Rhetorik oder als politökonomische Realität aufgefasst, sondern vor allem als ein politisches Projekt, das darauf abzielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt.”6

Der Skandal der Vorschläge der "Hartz-Kommission" liegt demnach nicht nur in den veränderten Bedingungen für die Lebenswirklichkeit Arbeitsloser. Er ist vielmehr in den subtilen und atmosphärischen Veränderungen zu sehen, die mit dem Entwurf eines neuen Menschenbildes einhergehen. Dieser Transformationsprozess im Sinne der Verinnerlichung von Herrschaftstechniken hat wesentlich weitreichendere Folgen und ist bedeutend schwerer zu durchschauen. Eine depressive Reaktion von arbeitslosen Betroffenen kann, bei aller Tragik im Einzelfall, aus dieser Perspektive geradezu als Widerstand gegen solche Zumutungen verstanden werden.

Anmerkungen

1) Morgenroth, Christine: Sprachloser Widerstand. Zur Sozialpathologie der Lebenswelt von Arbeitslosen, Frankfurt 1990, S.124

2) Hartz, Peter, u.a.: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, (Broschüre A306 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung), Berlin 2002, S. 100

3) vgl. Daten des statistischen Bundesamtes vom 18.09.03

4) Hartz, Peter u.a., a.a.O. S.39

5) Foucault, Michel: Die Gouvernementalität (Ms 1978), in: Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann, Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S.29

6) Bröckling u.a., S.9


Prof. Dr. Christine Morgenroth lehrt Sozialpsychologie am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover

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