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Klaus Holzkamp

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Bedürfnisorientierung oder Markt?

15.03.2006: Globaler Kampf um Medikamente

  
 

Forum Wissenschaft 1/2006; Titelbild: Hermine Oberück

Aus den reformorientierten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stammen Strategien zur Durchsetzung des Zugangsrechts auf Gesundheitsversorgung auch in den armen Ländern. Wie sie durch das Eindringen internationaler Konzerne in die Breschen der Entstaatlichung konterkariert wurden und die Schwächung der öffentlichen Gesundheitssysteme und -versorgung zur Folge hatten, aber auch neuere Gegenstrategien und -bewegungen beschreibt Katja Maurer.

In einem Dorf in China warf sich Zheng Qingming vor einen Zug und brachte sich um, weil er die nötigen 80 $ für eine College-Aufnahmeprüfung nicht aufbringen konnte. Die 80 $ entsprachen dem Jahreseinkommen seiner Familie; sie hatte alle Rücklagen für eine Lungenkrankheits-Behandlung des Großvaters aufgebraucht.

Zheng Quingming starb zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seine Geschichte beschreibt eine sich heute globalisierende Notlage. Die Ökonomisierung und Privatisierung von Bildung und Gesundheit und die damit einhergehende Verschlechterung des Zugangs zu ihnen für Menschen, die nicht die erforderlichen ökonomischen Ressourcen besitzen, ist zu einem globalen Phänomen geworden. Der alternative Weltgesundheitsbericht,1 der vergangenes Jahr zum ersten Mal erschien, setzt die Geschichte von Zheng Qingming an den Anfang seiner Zustandsbeschreibung der Weltgesundheit. Der Report, erarbeitet u.a. von Basisgesundheitsorganisationen aus aller Welt, die vereint sind im globalen Netzwerk Peopleˇs Health Movement, stellt diesem Beispiel das von Chileshe aus Zambia an die Seite, die von ihrem Ehemann mit dem HIV-Virus infiziert wurde. Er hatte gemeinsam mit vielen Tausenden anderer sein Auskommen in einer Textilfabrik gefunden, bis er seinen Arbeitsplatz auf Grund der Kleiderspenden- und Gebrauchtkleidungsmärkte verlor. Er ging in die Stadt, um als fliegender Händler zu arbeiten und starb dort an AIDS. Der Ruin seiner Gesundheit war letztlich Folge seines Arbeitsplatzverlustes. Geschichten, die so oder ähnlich überall stattfinden, verdeutlichen, dass die schnellen Veränderungen in der globalen Ökonomie die Gesundheit von Millionen Menschen beeinflussen und beeinträchtigen.

Zwischen Indien und Deutschland liegen Welten, was Gesundheit und Gesundheitsversorgung betrifft. Von einigen Hunderttausend Menschen ohne Krankenversicherung und damit ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung geht man in Deutschland aus. Mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung – ca. 500 Millionen Menschen – hat dagegen keinerlei Zugang zu Gesundheitsversorgung. In Indien führte das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre zudem zur Verschlechterung der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Denn die Bundesregierung in Neu Delhi hat die Verantwortung und Finanzierung des Gesundheitswesens den Bundesstaaten überantwortet, obwohl die indische Verfassung ein Recht auf Gesundheit vorsieht.2 Das enorme Wirtschaftswachstum hat dem privaten Gesundheitssektor einen sagenhaften Aufschwung inklusive ausländischer Kundschaft für jedwede Form von Ayurveda-Medizin beschert. Wer in Indien die nötigen finanziellen Mittel besitzt, kann gesundheitliche Versorgung auf Weltniveau erhalten.

Bei allen gravierenden Unterschieden zwischen Indien und Deutschland – und sie sind gravierend, denn noch existiert in Deutschland eine Gesundheitsversorgung für fast alle – führt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hier wie dort zu Auswirkungen auf die jeweiligen Gesundheitslagen. Eingeschränkter Zugang zu Gesundheit wird durch die Privatisierungstendenzen auch bei uns zunehmen. Im Bereich der Zahngesundheit ist es bereits der Fall. Bislang aber heißt das hier wie dort: Arme sterben früher. So stellte der 11. Kongress Armut und Gesundheit im November letzten Jahres in Berlin fest: „Zunehmende Armut in Deutschland beeinflusst die Gesundheit von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Arme Menschen habe eine circa sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als der Bevölkerungsdurchschnitt.“3

Menschenrechte – Gesundheit

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir so eine Annäherung der Gesundheitslagen weltweit. Für die Gewinner der neoliberalen Globalisierung ist die Schöne Neue Welt nun überall zu haben. Die „Überflüssigen“, die „aus dem Klassensystem, aus jeder gesellschaftlichen Kommunikation heraus fallen und nicht wieder hinein finden“, so der Soziologe Zygmunt Bauman4, erleben diese Angleichungstendenz nach unten ebenfalls weltweit.

Was aber wird aus dem Artikel 25(1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die jedem Menschen das Recht auf einen Lebensstandard zugesteht, „der ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen“5? Der gegenwärtig herrschende Menschenrechtsdiskurs „privatisiert“ jedoch die sozialen Menschenrechte und nimmt sie aus der Verantwortung der Staaten und der globalen Institutionen heraus, während die universellen politischen Menschenrechte ideologisch so vereinnahmt werden, dass eine Aneignung durch die Zivilgesellschaften der jeweiligen Länder erheblich erschwert wird. Wie das aussieht, kann man im Irak derzeit gut verfolgen. Den zweifelhaften Demokratieübungen unter Besatzungsdiktat und Kriegsrecht steht die zielstrebig durchgeführte Privatisierung des einst vorbildlichen öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist zur Frage des individuellen Portemonnaies geworden.

Das war nicht immer so. Die Weltgemeinschaft hat durchaus Anstrengungen unternommen, den schönen Erklärungen Taten folgen zu lassen. 1978 trafen sich 134 Regierungsvertreter im kasachischen Alma Ata, um eine Strategie zur Realisierung des Menschenrechts auf Zugang zu Gesundheit zu entwickeln. Die gemeinsam verabschiedete Erklärung von Alma Ata entwickelte gesundheitspolitische Leitlinien für die Weltgesundheitsorganisation WHO und formulierte darin das Ziel „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000.

„Diese Utopie zehrte nicht vom Traum eines allmächtigen Medizinsystems, das alle Krankheiten ausrotten würde – wie es die heutigen Träume von BiopolitikerInnen und GentechnologInnen versprechen –, sondern von den beeindruckenden Erfahrungen in den Ländern der 60er und 70er Jahre, in denen radikale politische Änderungen auch zu fundamentalen Verbesserungen der Gesundheitssituation der armen Bevölkerung geführt hatten“, so Dr. Andreas Wulf.6 Vorbild waren beispielsweise die Barfußärzte in der Volksrepublik China; Innovationen wie diese ermöglichten Ressourcenumverteilungen im chinesischen Gesundheitswesen, das zuvor allein den städtischen Eliten und Mittelschichten zugänglich gewesen war. Entscheidender noch war jedoch, dass die WHO und damit Vertreter von 134 Regierungen in Alma Ata Bedingungen für eine zureichende Gesundheitsversorgung benannten: Sie berücksichtigten explizit politische und sozioökonomische Faktoren als Ursachen für Krankheit.

Das radikale sozialreformerische Konzept von Alma Ata war für die Gesundheitsbewegungen der 80er Jahre von großer Bedeutung. In Ländern wie Brasilien war es Vorbild für die Schaffung eines öffentlichen Gesundheitswesens. Als globale Strategie der Weltgesundheitsorganisation verkam dieses Konzept jedoch zu fast militärisch durchgeführten Impfkampagnen mit fragwürdiger Nachhaltigkeit, aber guten Ergebnissen in der Gesundheitsstatistik. Die Anfang der 80er Jahre einsetzende Schuldenkrise brachte das Konzept endgültig zu Fall. Mit Hilfe der berüchtigten Strukturanpassungsmaßnahmen setzten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank einen Rückzug der Staatsapparate u.a. aus der Verantwortung für die Gesundheit seiner Bevölkerung durch. WissenschaftlerInnen, die sich mit den Ursachen fortgesetzter Bürgerkriege und dem Staatenverfall in Afrika in den 90er Jahren beschäftigen, sehen darin eine der Hauptursachen für die desaströsen Entwicklungen in vielen afrikanischen Ländern.7

Als die verheerenden Folgen dieser Entstaatlichungsstrategie für das Gesundheitswesen in den armen Ländern deutlich wurden und sich insbesondere im dramatischen Absinken der Lebenserwartung im subsaharischen Afrika auf das Niveau des europäischen Mittelalters zeigten, traten neuartige Stiftungen und Initiativen der multinationalen Konzerne auf den Plan, die Gesundheitsmaßnahmen zur Demonstration ihrer „Corporate Social Responsibility“ offensiv förderten. In welchem Umfang private Mittel die internationale Entwicklungshilfe im Gesundheitsbereich ein- und überholte, machen die folgenden Zahlen deutlich: Allein die Gates Foundation investierte in den letzten Jahren jährlich 1 Mrd. Dollar in globale Gesundheitsinitiativen – doppelt so viel wie die Weltbank bzw. fünf Mal so viel, wie England oder die USA investierten. Besonders die 1998 gewählte WHO-Chefin Gro Harlem Brundtland förderte massiv die Kooperation mit privatwirtschaftlichen Akteuren – in der festen Überzeugung, ein kollektives Management von Regierungen und Industrie, KonsumentInnen und ProduzentInnen sei die Strategie der „neuen Zeit“ in der globalen Interdependenz. Solche „Globalen Allianzen“ wurden dann mit großem medialen Aufwand geschmiedet: Roll back Malaria, die Global Alliance for Vaccines and Immunisation (GAVI) und die Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN).

Technische „Lösungen“

Diese neuen Initiativen weisen erneut ein rein technisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit auf. Es orientiert sich an schlichten Ursache-Wirkungs-Modellen (Mücke – Malaria; Mangelernährung – fehlende Mikronährstoffe); die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit, Armut und ungerechten Ressourcenzugängen, gesellschaftlicher Ausgrenzung und unzureichenden Versorgungssystemen bleiben systematisch ausgeblendet.

Einst planten die Regierungen der Welt, den Beginn des 21. Jahrhunderts als den Moment zu feiern, in dem „Gesundheit für Alle“ erreicht sein sollte. Statt dessen stellte die CIA Ende der 90er Jahre eine ganz andere Prognose: Der Zustand des Gesundheitswesens werde sich bis Mitte des 21. Jahrhunderts weltweit verschlechtern. Ausschlaggebend für die pessimistische Einschätzung des US-Geheimdienstes, so die Pulitzer-Preisträgerin und Medizinjournalistin Laurie Garrett, waren „anhaltende Armut in vielen Entwicklungsländern, zunehmende Arzneimittel-Resistenzen und Mangel an neuen Medikamenten, unzureichende Möglichkeiten zur Beobachtung und Kontrolle von Krankheiten wie HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria“.8

Umdenken tut not. Die oben aufgeführten Public Private Partnerships, die jahrelang als Alternative zu staatlicher und suprastaatlicher Verantwortung gefeiert wurden, leisten zumeist nicht mehr als punktuelle Abhilfe, belobigen diese aber mit großem PR-Aufwand. Langfristige Lösungsperspektiven für die Gesundheitsprobleme der Welt sind aus ihnen heraus nicht entwickelt worden. Zumindest die Diskussion um globale öffentliche Gesundheit hat deutlich gemacht, dass es keine rasche technologische Lösung für komplexe Gesundheitsprobleme gibt. Genau dies aber verkünden die PPPs.

Ein eindrückliches Beispiel lieferte der südafrikanische Gesundheitswissenschaftler David Sanders auf einer Pressekonferenz von medico international zum 25. Jahrestag der Erklärung von Alma Ata. Man könne, so Sanders, die Übertragung des HIV-Virus von der Mutter auf das Kind durch die Verabreichung einer Einmal-Medikation vor der Geburt verhindern. Allerdings dürfe das Kind danach nicht gestillt werden. Kinder, die die mit viel Geld geförderten Programme zur Verhinderung der HIV-Übertragung bei der Geburt zunächst schützten, stürben dann nicht an AIDS, sondern möglicherweise noch früher an Unterernährung oder verseuchtem Trinkwasser. In der AIDS-Statistik tauchen sie dann allerdings nicht mehr auf. Ohne ein funktionierendes Gesundheitssystem, ohne Verbesserung der Lebensbedingungen oder wenigstens ein konsistentes Programm zur Sicherung der Ernährung von Kleinkindern ist dem Problem der HIV-Übertragung auf Kinder nicht beizukommen. Das aber wird in den globalen AIDS-Töpfen wenig berücksichtigt. Die PPPs stellen keine adäquate Balance zwischen Privatem und Öffentlichem her. Im Gegenteil: In den meisten Fällen läuft die öffentliche Hand den Vorgaben der Privatwirtschaft hinterher. Von Partnerschaft kann keine Rede sein.

Im Gesundheitsbereich führt die Akkumulation von Geldern in den einzelnen Problembereichen, denen sich die PPPs widmen, zu einer Verzerrung des ohnehin schlecht ausgestatteten öffentlichen Gesundheitswesens in vielen armen Ländern. Gibt es viel Geld für AIDS-Programme, wandert qualifiziertes Gesundheitspersonal in diese Bereiche ab. Lokale und staatliche Instanzen haben auf den im Sinne des Allgemeinwohls sinnvollen Einsatz des Gesundheitspersonals keinerlei Einfluss mehr.

Nirgendwo hat das Dogma vom alles regelnden freien Markt so sichtbar versagt wie in der Entwicklung neuer Medikamente für lebensbedrohliche Krankheiten. Zwischen einer gerechten und langfristigen Arzneimittelversorgung und einer gewinnorientierten industriellen Produktpolitik besteht ein für alle einsichtiger und klarer Interessenkonflikt. Aber wer weiß schon, dass in den letzten 25 Jahren 179 Mittel gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 111 Krebsmedikamente, darunter viele Scheininnovationen, auf den Markt gebracht wurden, während sich der Wissensstand zur Tuberkulose noch auf dem Niveau von Robert Koch am Ende des 19. Jahrhunderts bewegt? Klassische Tropenkrankheiten machen 10% der globalen Krankheitslasten aus; demgegenüber dienen weniger als 1% der knapp 1.400 im letzten Vierteljahrhundert entwickelten Medikamente der Behandlung von Tropenkrankheiten: „Gerade im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war die Vernachlässigung der Krankheiten der Armut erschütternd. Es ließ sich kaum noch erkennen, dass die Medizin als Wissenschaft dem Hippokratischen Eid verpflichtet war. Stattdessen gab und gibt es Anzeichen dafür, dass es im Gesundheitswesen und in der Krankenversorgung zu einer globalen Apartheid kommt: Medikamente für die Krankheiten der Armut, sogenannte ethische Präparate, wurden nicht entwickelt. Schlimmer noch, ethische Medikamente, die bereits etabliert sind, wurden nicht mehr produziert. Auch deshalb, weil die kranken Armen insgesamt keinen Markt darstellen.“9

Forschung – zu was?

„Forschung ist die beste Medizin“, so lautet der Slogan der gerade laufenden Anzeigenkampagne der forschenden Arzneimittelhersteller. Big Pharma fürchtet offenbar bereits, dass die Kluft zwischen dem ethischen Anspruch einer medizinischen Forschung und Medikamentenentwicklung im Sinne der Menschen und der nur an Rendite orientierten Praxis der Pharma-Konzerne der Öffentlichkeit auffallen könnte. Zu diesen Widersprüchen gehört, dass drei Viertel der jährlich auf den Markt gebrachten und mit 20-jährigem Patentschutz ausgestatteten Medikamente keinen nennenswerten zusätzlichen therapeutischen Nutzen bringen und auch zu unentbehrlichen Arzneimitteln für die reicheren Zonen der Welt nicht genügend geforscht wird, zum Beispiel im Bereich der Antibiotika-Resistenzen. Gern geforscht wird jedoch zu so lukrativen Krankheiten wie Kahlköpfigkeit, Potenzstörungen und Übergewicht. Und damit wir diese Medikamente auch für nötig halten, wird in die Forschung nur halb so viel Geld gesteckt wie in die Werbung, die uns diese Produkte schmackhaft machen soll.

Das Versagen der Pharmaindustrie wird nirgendwo so deutlich wie im Bereich der Tropenkrankheiten und der Entwicklung von AIDS-Therapien, die Millionen Menschen helfen würden, die nicht in den reichen Ländern mit noch existierender öffentlicher Gesundheitsversorgung leben. Die bislang entwickelten Therapien für HIV/AIDS sind fast ausschließlich in der ersten Welt zugänglich. Mehr als 90% der HIV-Kranken der Welt, 1999 auf 40 Mio. geschätzt, haben entgegen anderen Verlautbarungen kaum Zugang zu ihnen. Forschung zu einem AIDS-Impfstoff und dessen Entwicklung liegen vollständig in öffentlicher Hand; der Pharmaindustrie sind die Forschungskosten zu hoch. Ein neues Medikament muss in den ersten fünf Jahren nach der Markteinführung astronomisch hohe Renditen abwerfen. Bei einem AIDS-Impfstoff wäre das nicht zu erwarten, da der öffentliche Druck, ihn allen zugänglich zu machen, die ihn benötigen, dazu führen würde, dass solche Renditeversprechen nicht eingelöst würden.

Die Medizinjournalistin Laurie Garrett stellt sogar die These auf, dass sich Beschränkung auf die Dreifach-Therapie bei HIV/AIDS für die Pharmaindustrie enorm auszahlt. Ein akute Infektion werde damit wie eine chronische Krankheit behandelt und verursache so entsprechende Kosten und Gewinne für Big Pharma. Außerdem erhöhe sich das „gesellschaftlich annehmbare Niveau der Ungleichheiten in der weltweiten medizinischen Versorgung. Denn die Regierungen und Unternehmen der reichen Länder müssen bemerkenswert wenig Kritik dafür einstecken, dass sie Europäer und Nordamerikaner am Leben erhalten, während sie anderswo der Vernichtung ganzer Bevölkerungsteile zusehen.“10

Auch Germán Velásquez, Koordinator des WHO-Aktionsprogramms für Medikamente, stellte fest: „Obwohl es so aussah, als könnte die Katastrophe der massenhaften Aidserkrankungen die Dinge beschleunigen, tut sich in Sachen Arzneimittelzugang nach wie vor sehr wenig.“11 Dass nun aufgrund öffentlichen Drucks und des Einsatzes vom UN-AIDS-Fonds mehrere Hunderttausend AIDS-Patienten in den armen Ländern mit Medikamenten versorgt werden, ist auch der Tatsache zu verdanken, dass in Ländern wie Indien bislang die Patentschutz-Auflagen des WTO-Handelsabkommens nicht galten. So wurden in Indien antiretrovirale Nachahmer-Präparate entwickelt, die drei Wirkstoffe in einer Pille vereinen und so die „HIV/AIDS-Behandlung in ärmeren Ländern revolutionierten“.12

Seit dem 1. Januar gilt für Indien das WTO-Abkommen und damit der Produktpatentschutz für Pharmazeutika. Im März 2005 hat das indische Parlament entsprechend den WTO-Auflagen ein Patentschutz-Gesetz verabschiedet, das zwar weiterhin die Produktion der bisherigen Präparate erlaubt, aber die Generika-Produktion für die zweite Generation der AIDS-Medikamente erheblich einschränkt. Die großen Pharmakonzerne, allen voran das US-amerikanische Unternehmen Pfizer, haben jede Menge Patentanträge für den indischen Markt in der Pipeline. Die Versorgung mit preiswerten Generika-Präparaten aus Indien ist somit auf Dauer bedroht. Ein neuer Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Kranken beginnt.

Neue Bewegung

Angesichts dieser erschreckenden Bilanz ist zur Forschung und Entwicklung essenzieller Arzneimittel eine Bewegung entstanden, die fordert, diese als öffentliches Gut zu behandeln. Dabei stellen sowohl WHO-Vertreter als auch Nichtregierungsorganisationen diese Debatte in den Kontext der Menschenrechte. Noch einmal Germán Velásquez: „Das Recht auf Gesundheit impliziert die Teilhabe an den Ergebnissen des technologischen Fortschritts und die Anerkennung der menschlichen Würde als höchstes Gut.“ Die BUKO-Pharmakampagne definiert Arzneimittel als öffentliches Gut so: „Sie werden komplett mit öffentlichen Geldern entwickelt, sind nicht patentiert, gehören der Allgemeinheit und können von Anfang an kostengünstig von mehreren Herstellern als Generika produziert werden.“13

Für die Realisierbarkeit eines solchen Herangehens gibt es erste Beispiele. Die Initiative Medikamente für vernachlässigte Krankheiten (Drugs for Neglected Diseases Initiative, DNDi) gehört dazu. DNDi ist ein weltweiter Verbund von unter anderem sechs Forschungseinrichtungen, die mit einem neuen Forschungskonzept Medikamente bis zur Marktreife bringen wollen. Noch in diesem Jahr soll es ein neues Malaria-Medikament geben: patentfrei und für weniger als einen Dollar pro Person. Es kann sofort weltweit als Generikum produziert werden. Das ist ein Bruch mit den heiligen Kühen des Patentrechts und ein Vorbild für die globale Bewegung für einen offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen.14

Das bestehende System sichert keine bedürfnisorientierte Forschung und Entwicklung von überlebenswichtigen Arzneimitteln. Eine wachsende Zahl von internationalen NGOs aus den Bereichen des KonsumentInnenschutzes, der Entwicklungspolitik und der Menschenrechte sowie kritische Intellektuelle und WissenschaftlerInnen aus aller Welt fordern deshalb einen Richtungswechsel in der Forschung und Entwicklung von überlebenswichtigen Arzneimitteln. Mit diesem zivilgesellschaftlichen Netzwerk im Rücken forderten Kenia und Brasilien auf der Tagung des Exekutivrates der WHO im Januar in Genf die Schaffung eines Arbeitsgremiums, das schnellstmöglich global verbindliche Richtlinien zur essenziellen Gesundheitsforschung und Entwicklung erarbeiten soll. Ein solches Regelwerk müsste auch die Fragen des Patentschutzes in ein neues Verhältnis zum Bedarf an Medikamenten und zu deren Bezahlbarkeit setzen. Eine gemeinsame Erklärung des Verbraucherschutznetzwerkes Consumers International, der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen, Health Action International, medico international, Third World Network und CP Tech (Consumer Project on Technology) hebt die Bedeutung der kenianisch-brasilianischen Initiative hervor. Zur Zeit, heißt es dort, sehe sich die Welt einem Berg aus globalen und bilateralen Handelsabkommen gegenüber, die geistige Eigentumsrechte regelten und dabei auch Medikamentenpreise erheblich beeinflussten. Fragen des öffentlichen Gesundheitsinteresses würden darin allerdings nicht geregelt. „Was wir brauchen, ist ein Mechanismus, der Forschung und Entwicklung auf den Gebieten fördert, die von prioritärem öffentlichem Interesse sind und der den Regierungen die Möglichkeit gibt, die Verbraucher vor hohen Preisen und Zugangsbehinderung zu schützen.“ Die WHO habe die Aufgabe, sicherzustellen, dass „Medikamente, die Diagnostik, Impfungen und andere essenzielle Gesundheitstechnologien entwickelt und allen zugänglich gemacht werden“.

Erwartungen

Im Mai 2006 tagt in Genf die Weltgesundheitsversammlung. Bei allen bürokratischen Wirrnissen, die auf solchen Tagungen den Blick verstellen, wird es aufschlussreich sein zu erfahren, wie sie mit der überzeugenden kenianisch-brasilianischen Initiative für das Konzept zur Entwicklung von Arzneimitteln als öffentliches Gut verfahren wird. Tatsächlich liegt hier eine Sollbruchstelle in der Diskussion um den Fortgang der Globalisierung im Bereich der Gesundheit. Vielleicht sind die Ideen von Alma Ata, die die WHO einst prägten, doch noch nicht ganz vergessen.

Anmerkungen

1) Global Health Watch, 2005-2006, London/New York. Download unter www.ghwatch.org

2) Laurie Garrett, Das Ende der Gesundheit. Bericht über die medizinische Lage der Welt, München 2001

3) Informationen über die Konferenz unter www.gesundheitberlin.de

4) Die Zeit, 17. November 2005

5) Allgemeine Charta der Menschenrechte; zit. n. www.bmz.de

6) Andreas Wulf, Die Zukunft der Vergangenheit, unter: www.medico-international.de/hintergrund/almaata/hintergrund.asp

7) Die Ökonomie der Bürgerkriege, report 24, medico international

8) Laurie Garrett, a.a.O.

9) Rolf Heiner Schirmer, Hochschullehrer an der Universität Heidelberg: Die große Schande, Frankfurter Rundschau, 20.11.2005

10) Laurie Garrett, a.a.O., S. 447

11) Forschung, Medikament, Patent. In: Le Monde Diplomatique, 11.7.2003

12) Tobias Luppe: Patentschutz und die Zukunft des Medikamentenzugangs in ärmeren Ländern. Ärzte ohne Grenzen, Berlin 2004

13) Arznei-Mittelforschung – Wissenschaft im öffentlichen Interesse?, Pharma-Brief Spezial, BUKO-Pharmakampagne, Bielefeld, Nr. 2/2005

14) DNDi, www.dndi.org


Katja Maurer arbeitet bei der Hilfsorganisation medico international und leitet dort die Öffentlichkeitsabteilung.

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