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Klaus Holzkamp

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Der Raum und die Räume

15.02.2008: oder das nicht Relative des Relativen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2008; Foto: Reinhard Keller

Über „Raum“ und „Räume“ raunen mancher Wissenschaften VertreterInnen vielerlei. Dabei geraten ab und zu unterschiedliche Raum-Konzepte in Verwirrung. Was gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen aus gesicherten theoretischen Konzepten der Physik und Mathematik lernen können, entwickelt Rainer Fischbach.

Vor kurzem noch totgesagt, ist der Raum wieder ein Thema, der spatial turn im Arsenal der angesagten Phrasen angekommen. Die Raumvergessenheit, die man hinter sich zu lassen meint, stellte in Deutschland zwar auch die tabuisierende Reaktion dar auf die Verflechtung der Geographie mit der Geopolitik, in der sich desaströs gescheiterte Großmachtambitionen geäußert hatten. Sie stand jedoch hier wie dort, wo man solche Tabus nicht kannte, auch im Zeichen der an den Verkehr und die Telekommunikation geknüpften Erwartung, der Raum wäre zur Irrelevanz, zum Verschwinden gar verurteilt, wobei die neoklassische Ökonomie dieses Verschwinden in ihren Modellannahmen schon immer vorweggenommen hatte.1

Doch wieder vom Raum reden zu dürfen, ohne der Antiquiertheit geziehen zu werden, heißt noch nicht, auch einen Begriff von ihm zu haben – wobei der schlimmste Zustand der Begrifflosigkeit darin besteht, grundlos zu glauben, man habe einen Begriff. Ohne die Masse verfehlter Raumbegriffe erschöpfen zu wollen, sei hier ein Beispiel angeführt.

Ein Fall für Alan Sokal

Durch seine Parodie des postmodernen Stils in einem aus purem Nonsens bestehenden Aufsatz, den Social Text 1996 ahnungslos veröffentlicht hatte, erregte Alan Sokal einiges Aufsehen. In einem nachfolgenden Buch2 präzisierten er und Jean Bricmont, wogegen sie sich wenden: den Missbrauch naturwissenschaftlicher und mathematischer Begriffe zur Dekoration sinnleerer Sätze, die Prahlerei mit gestohlenen Begriffen, die vor allem einschüchtern will. Die Liste der Autoren, aus deren Werk sie Nonsens zitieren, enthält Namen wie die von Virilio, Baudrillard, Kristeva, Deleuze und Guattari. KandidatInnen für ihre Erweiterung gibt es genug. David Harvey qualifiziert sich dafür, indem er versucht, einen dreifachen Raumbegriff zu entfalten,3 dessen Komponenten unterschiedlichen Klassen von Erkenntnisgegenständen entsprächen. Dabei bringt er die Grenzen, die Grundstücke bzw. Territorien definieren, und die Artefakte, die Raumgebiete umschließen, in Zusammenhang mit Isaac Newtons Konzept des absoluten Raumes. Doch der Raum, den wir mit der Erde verbinden und in dem Grenzen und Mauern innerhalb gewisser Toleranzen und Zeiträume fest bleiben, ist nach Newton ein relativer.4 Phänomene, die auf Trägheitskräfte zurückgehen wie die Abplattung der Erde oder die Drehung des Foucaultschen Pendels, verraten die Rotation der Erde im absoluten Raum unabhängig von jeder relativen Bewegung gegenüber äußeren Objekten.

Kaum mehr Glück als mit Newton hat Harvey mit Einstein. Mit dessen Relativitätstheorie hat das, was er als Konzept des relativen Raums bzw. der Raumzeit darlegt, nicht mehr zu tun als das, was er für den absoluten Raum hält, mit Newtons Theorie. So steht erstere in keinem Zusammenhang mit der Unmöglichkeit einer durchgängig maßstabsgetreuen Abbildung der Erdoberfläche in die Ebene, und Einstein lehrte auch keinesfalls, die Idee der Gleichzeitigkeit wäre aufzugeben. Dies würde nämlich bedeuten, dass man den Zeitpunkt keines Ereignisses mehr messen könnte. Gleichzeitigkeit gehört zu dem, was relativ ist in der Relativitätstheorie. Sie hängt vom Bewegungszustand des Beobachters ab. Jedoch ist die Aussage falsch, alle Arten von Messungen hingen vom Bezugssystem des Beobachters ab. Die Relativitätstheorie geht davon aus, dass z.B. die Messung der Lichtgeschwindigkeit in jedem gleichförmig bewegten Bezugssystem das gleiche Ergebnis liefert – im Gegensatz zu Newtons Theorie, in der die Lichtgeschwindigkeit wie alle Geschwindigkeiten relativ ist.

Physikalische Theorien kennen auch invariante Größen, d.h. solche, die sich unter einer Klasse von Transformationen (hier: den Übergängen zwischen ausgezeichneten Bezugssystemen) nicht verändern. Anders als Harvey glaubt, ist die Zeit in der Relativitätstheorie keine feste Größe. An die Stelle der Weg- und Zeitintervalle treten in ihr die raumzeitlichen Distanzen im so genannten Minkowski-Raum als Invarianten. Eine Welt, in der alles relativ wäre, ließe nicht einmal mehr den Vergleich der relativen Größen zu. Dazu braucht es nämlich einen invarianten Maßstab. Der Unterschied zwischen Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie scheint Harvey ebenso entgangen zu sein wie der Sachverhalt, dass Relativität in letzterer nichts damit zu tun hat, dass man die freie Wahl zwischen verschiedenen Geometrien hätte. Sofern die Frage der Geometrie des Weltalls nicht entschieden ist, liegt das daran, dass die verfügbaren Daten dafür nicht ausreichen.

Harveys Versuch krankt an dem großzügigen Gestus, der glaubt, naturwissenschaftliche Begriffe in Dienst nehmen zu können, ohne sich in sie versenkt zu haben. Hätte er das getan, wüsste er auch, dass relativistische Effekte in den raumzeitlichen Maßstäben, mit denen es die Sozialwissenschaften zu tun haben, bedeutungslos sind – eine Ignoranz, mit der er sich in der Gesellschaft von Größen wie Virilio und Baudrillard befindet. Auch um zu verstehen, dass es eine Vielheit von Orten gibt, die gleich weit von einem zentralen Ort entfernt sind, ist weder die Relativitätstheorie noch eine nichteuklidische Geometrie erforderlich. Dieser Sachverhalt steht auch weder im Widerspruch zur Eindeutigkeit des Ortes noch zur Abgrenzbarkeit räumlicher Gebiete oder zur Theorie des absoluten Raumes.

Neben dem, was er das Absolute und das Relative nennt, redet Harvey noch von einem relationalen als drittem Raumkonzept, dem zufolge es außerhalb der Prozesse, die sie definierten, weder Raum noch Zeit gäbe. Was er damit meint, wird nicht ganz klar. Sein Hinweis, dass man ein Ereignis oder ein Ding an einem Punkt im Raum nicht allein durch das verstehen könne, was nur an diesem Punkt existiere, steht in Widerspruch zur Relativitätstheorie, die er so hochhält, denn deren Feldbegriff erlaubt nur Nahwirkungen. Einstein, der im Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon genau auf diesen Punkt abhob, pflegte solche Ansichten als Spuk-Theorien abzulehnen. Unerklärlich sind auch Aussagen wie die, dass Finanzflüsse in einem anderen raumzeitlichen Rahmen stattfänden als Energieflüsse. Es ist doch die raumzeitliche und materielle Einheit der Welt, die den daran geknüpften Fragen ihre Dringlichkeit verleiht. Worin schließlich der Erkenntniswert einer Zuordnung des Gebrauchswerts zum absoluten, des Tauschs zum relativen und des Wertes (im marxistischen Sinne) zum relationalen Raum bestehen soll, bleibt erst recht dunkel.

Physikalischer Raumbegriff

Raum ist ein Begriff, dessen sich zu versichern einen Blick in die Physik nahelegt, da auch das gesellschaftliche Handeln sich innerhalb der Natur und unter den von ihr gesetzten Bedingungen vollzieht. Doch dieser Blick sollte nüchtern bleiben und Pseudoableitungen widerstehen. Aus verkürzten Geschichten des Raumbegriffs, die einem absoluten einen relativen Raumbegriff gegenüberstellen und über ersteren siegen lassen, ohne den damit verbundenen Theorien auch nur ansatzweise gerecht zu werden, wie sie Markus Schroer und Martina Löw vorlegen,5 folgt für einen sozialwissenschaftlichen Raumbegriff nichts. Und erst recht folgt aus der modernen Physik nichts, was die aktuelle gesellschaftliche Erfahrung zu erleuchten vermag: Wenn das Leben heute mit dem Eindruck von raumzeitlicher Kompression und Zersplitterung einhergeht, sollte Einstein aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen bleiben. An die Stelle wilder Spekulationen6 und vager Assoziationen7 hätte sozialwissenschaftliche Forschung zu treten. Außerdem müsste die in solchen Assoziationen sich verbergende sozialkonstruktivistische Anmaßung, der spekulative Raumbegriff wäre bereits hinterrücks in die Relativitätstheorie eingeflossen, sich eine Zurückweisung gefallen lassen, die auszuführen den hier gegebenen Rahmen sprengen würde.

Sicher sind die Konzepte der Naturwissenschaften Konstruktionen, doch keine völlig willkürlichen, sondern erfahrungsgeleitete. Der Sozialkonstruktivismus verfehlt die Naturwissenschaft nicht weniger als die positivistische Fiktion einer unmittelbaren Entsprechung von Sinnesdaten und Naturgesetzen. Die Naturwissenschaft lässt sich nicht in Sätze auflösen, die isoliert den Daten gegenüberstünden. Insbesondere haben nicht alle ihrer Sätze das gleiche Gewicht und sind ebenso wenig in gleicher Weise der Revision zugänglich. Doch in ihrer Gesamtheit haben sie sich in einem Maße bewährt, das mit dem Status einer rein willkürlichen Konstruktion nicht vereinbar ist.

Die Vorstellung des einen homogenen und isotropen Raums, in dem alle Dinge und Ereignisse ihren Ort haben, lässt sich nicht auf Sinneseindrücke zurückführen. Sie ist vielmehr eine mentale Konstruktion, die nicht allein von visuellen Eindrücken, sondern auch von der kinästhetischen Erfahrung ausgeht und ontogenetisch mit der Herausbildung der Objektkonstanz verbunden ist.8 Der inhomogene und anisotrope Raum der ursprünglichen wie auch der kulturell geprägten Erfahrung, der ein Innen und ein Außen, ein Oben und ein Unten, ein Links und ein Rechts kennt, geht in dieser Konstruktion unter.

Die sozialwissenschaftliche Diskussion ist voll missglückter Bezüge auf den physikalischen Raumbegriff. Mangelndes Verständnis führt dann zur Übernahme vermeintlicher Erkenntnisse. Dazu gehört der Irrtum, die Relativitätstheorie legitimiere einen naiven, rein visuellen Begriff von Raum und Bewegung, der dann zum Ausgangspunkt wirrer Spekulationen wird. Es ist Mode, Newton als verbohrten Metaphysiker mit einer obskuren Obsession für die Idee des absoluten Raumes abzutun, während man jeden, der ihm widersprach, als Vorläufer Einsteins feiert.9 Doch Newtons Theorie hat einen Erfahrungsgehalt. Bewegungen gegenüber dem absoluten Raum wie die Erddrehung rufen Trägheitskräfte und damit andere Wirkungen hervor als nur relative.10 Weil Leibniz und Berkeley Vorurteilen unterlagen, die einer rationalen Naturerklärung feindlich waren, wie dem, nur Gott könne absolut und unendlich sein, ignorierten sie die Fakten, denen Newton Rechnung trug. Ernst Mach, der ihre Kritik wieder aufnahm, musste dann auch postulieren, dass die Masse der Fixsterne die Trägheitskräfte induziere.11 Dieses von Einstein so genannte Machsche Prinzip erscheint meist als der Punkt, von dem aus ein gerader Weg zur Allgemeinen Relativitätstheorie führte, und Einstein glaubte ursprünglich auch, es untermauern zu können, musste diese Ansicht jedoch revidieren. Das Machsche Prinzip und die Allgemeine Relativitätstheorie erwiesen sich als voneinander unabhängig. Wie Willem de Sitter zeigte, lassen die Gleichungen der letzteren auch ein Vakuum mit Trägheit zu,12 und selbst eine mit dem Machschen Prinzip konforme Interpretation bliebe weit entfernt davon, die naive Vorstellung von Relativität zu bestätigen, der Harvey, Schroer, Löw u.a. anhängen. An Newton zu revidieren ist, dass der Inhalt des Raums passiv bleibe. Vielmehr wirkt er auf diesen, genauer: das metrische Feld zurück, doch dass der Raum ausschließlich als Relation seines Inhalts zu denken wäre, trifft nicht zu. Der absolute Raum ist verschwunden, um als metrisches Feld wiederzukehren.13

Raumverirrungen

Eines der Hindernisse, die einer rationalen Diskussion des Raumbegriffs im Wege stehen, stellt die Verwechslung des Raumes mit dem Koordinatensystem dar. Es ist beliebt, sich über die Gewalt zu ereifern, die das rechtwinklig kartesische Koordinatensystem der Welt antue. Ein solches System ist zwar praktisch, doch Physik kann man auch in schiefen und sogar krummen Koordinaten betreiben. Und dass das Koordinatensystem einen Ursprung hat, ist nicht mit der Aussage gleichzusetzen, dass dort die Mitte der Welt liege. Auch sagt die Theorie des absoluten Raumes nicht, dass es ein ausgezeichnetes Koordinatensystem gäbe und ausschließlich dieses es erlaubte, innerhalb seiner alles definitiv zu vermessen14 (dabei kommt die Vermessung der Erde gut ohne absoluten Raum aus). Die Assoziation des absoluten Raumes mit Vermessung und Grenzziehung stellt einen kulturhistorischen Kurzschluss dar. Alles, was den Raum charakterisiert, muss unabhängig vom Koordinatensystem gelten. Es geht dabei also darum, die Invarianten bezüglich eines Wechsels des Koordinatensystems zu finden.

Auch in Newtons Raum hat die Zeit eine Bedeutung. Was unabhängig vom Koordinatensystem immer gleich bleibt, sind nicht die Koordinatenwerte, sondern neben den Abständen zwischen Punkten die Zeitdifferenzen zwischen Ereignissen. Newton zeichnet eine Klasse von Bezugssystemen aus: die gegenüber dem absoluten Raum gleichförmig bewegten. Die Zugehörigkeit zu dieser Klasse der so genannten Inertialsysteme ist allein anhand relativer Bewegungen nicht entscheidbar, sondern nur anhand der Abwesenheit von Trägheitseffekten wie z.B. von Zentrifugalkräften. In allen diesen Bezugssystemen nehmen die Gesetze der Mechanik die gleiche Form an, und neben den räumlichen und zeitlichen Abständen bleibt auch die Beschleunigung dort invariant. Die Spezielle Relativitätstheorie behält die Vorzugsstellung der Inertialsysteme bei, formuliert jedoch die Transformationsgleichungen für den Übergang zwischen ihnen um und führt damit andere Invarianten ein. Erst die Allgemeine Relativitätstheorie erklärt alle Bezugssysteme für gleichberechtigt.

Raum, sozialwissenschaftlich

Der Raumbegriff der heutigen Physik ist ohne eine Reihe von Ergebnissen der Mathematik aus dem 19. und 20. Jahrhundert nicht denkbar. Indem sie die unterschiedlichen Merkmale des Raumbegriffs abstrahierte, ermöglichte die Mathematik es erst, von den Räumen im Plural zu sprechen jenseits der trivialen Bedeutung von durch Naturobjekte oder Artefakte markierten Gebieten. Wesentlichen Anteil daran hatte die Charakterisierung von Räumen mittels ihrer Symmetrien, d.h. der Gruppen von Transformationen,15 die bestimmte Sachverhalte bzw. Größen invariant lassen, durch Felix Klein und Sophus Lie.16 Dieser Ansatz erwies sich auch für die Physik als unerhört fruchtbar und führte anfangs des 20. Jahrhunderts u.a. zu Emmy Noethers Entdeckung, dass jedem Erhaltungssatz eine Gruppe von Transformationen entspricht, unter denen die Gesetze der Physik invariant sind.

Wie Henri Poincaré bemerkte, stellen die Figuren der euklidischen Geometrie Idealisierungen starrer Körper dar.17 Man kann sie verschieben, spiegeln und drehen, ohne ihre wesentlichen Eigenschaften zu verändern, die sich aus der durch Distanzen gegebenen Konfiguration ihrer Punkte ergeben. Das ist der Inhalt des Kongruenzbegriffs und die Voraussetzung dafür, dass Längen- und Winkelmessungen überall die gleiche Bedeutung haben. Indem man die Invarianzforderungen schrittweise abschwächt, z.B. auf die Abstandstreue verzichtet oder nur noch die Erhaltung der Parallelität oder von Geraden und Inzidenzen fordert, erhält man eine Folge immer abstrakterer Raumbegriffe.

Im Begriff des Homöomorphismus, der die topologische Äquivalenz von Räumen definiert, geht es nur noch darum, dass benachbarte Punkte beim Übergang benachbart bleiben, ohne zusammenzufallen. Vom Begriff des topologischen Raumes ausgehend, zeigt sich, dass der Begriff des metrischen Raumes, d.h. eines Raumes, in dem der Abstand zwischen Punkten definiert ist, nicht mit dem des euklidischen zusammenfällt: es sind auch andere Metriken denkbar als die durch den Satz des Pythagoras definierte. Bernhard Riemann untersuchte sogenannte Mannigfaltigkeiten, Räume, die gewisse Homogenitäts- und Kontinuitätsbedingungen erfüllen sowie lokal, d.h. innerhalb hinreichend kleiner Umgebungen, doch nicht unbedingt global dem euklidischen Raum gleichen, und legte damit eine der Grundlagen für die allgemeine Relativitätstheorie.

Der Versuch, aus der Relativitätstheorie einen sozialwissenschaftlichen Raumbegriff abzuleiten, ist zum Scheitern verurteilt, weil nach ihr der Raum innerhalb der dafür relevanten Bereiche keine signifikanten Abweichungen von dem der klassischen Mechanik aufweist. Nicht zu vergessen ist, dass gesellschaftliches Handeln an eine physische Basis und mit ihr an den physikalischen Raum gebunden bleibt. Allein die Emanzipation, die der Raumbegriff durch die mathematische Abstraktion erfuhr, ermöglicht es, von den Räumen im Plural und in diesem Zusammenhang von sozialen Räumen zu sprechen. Eine Beeinflussung eines solchen Raums durch seinen Inhalt – die menschliche Tätigkeit und die Artefakte, in denen sie sich kristallisiert – und damit eine Abweichung von der euklidischen Metrik mag sich höchstens analog zur Relativitätstheorie ergeben.18 Dazu sind die Konstituentien einer solchen Metrik zu identifizieren: Was macht Nähe bzw. Distanz aus jenseits der in Kilometern zu messenden? Entscheidend ist, ob solche Raumkonzepte es erlauben, gesellschaftliche Sachverhalte prägnanter zu formulieren als dies in der euklidischen Geometrie möglich wäre.

... und nichteuklidisch

Ein Beispiel, das zeigt, wie Artefakte den sozialen Raum verändern, ist die Manhattan-Metrik: Die Distanz zwischen zwei Punkten ergibt sich hier nicht aus dem Satz des Pythagoras, sondern aus dem Straßenraster. Etwas komplizierter ist die englische Eisenbahn-Metrik: Die Distanz von A nach B ist hier gleich der Länge der Bahnstrecke von A nach B, wenn beide auf derselben liegen; ansonsten ist sie gleich der Distanz von A nach London plus der Distanz von London nach B. An diesem Modell ist ablesbar, wie eine zentralistische Struktur die Distanzen zwischen den Orten der Peripherie relativ vergrößert. Gleichfalls durch eine Infrastruktur induziert ist die Metro-Metrik: Für den großstädtischen Fußgänger ist die Distanz von A nach B so groß wie die Länge des Fußwegs von A zur nächsten Metrostation plus die des Weges von der B nächstliegenden Station nach B oder – falls das kürzer ist als der Weg zur nächsten Station – so groß wie die Länge des direkten Fußwegs. Da eine Metrik die Distanz Null bei verschiedenen Punkten verbietet, müssen hier alle Stationen in einem einzigen Punkt zusammenfallen. Der so entstehende Raum ist auch topologisch mit dem euklidischen nicht mehr äquivalent.

Etwas Ähnliches findet sich in globalem Maßstab wieder: Durch ihren Zugang zur Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur sind bestimmte Metropolenquartiere auch bei großer Entfernung sich untereinander in mancher Hinsicht näher, als es ihnen die peripheren Orte ihrer Umgebung sind. Anders, als z.B. Harvey19 annimmt, komprimiert jene Infrastruktur den Raum nicht gleichmäßig, sondern schafft abkürzende Tunnels, die ausgewählte Punkte einander näher bringen. Daraus resultiert eine Kraft, die zerreißt, was einmal zusammenlag, um auch ursprünglich weit entfernte Bruchstücke neu zusammenzukleben. Das Tunnel-Modell wirft auch Licht darauf, dass Hochgeschwindigkeitsverkehr und Breitkommunikation das Wachstum der Metropolen nicht stoppen, sondern beschleunigen. Neben Faktoren wie der Dichte spezifischer Dienstleistungsangebote und der Nähe, die bestimmte Geschäfte immer noch erfordern, ist es der bevorzugte Zugang zur Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur, der eine starke Attraktion auf bestimmte Funktionen ausübt.20

Doch über die kleinen Modelle hinaus, die einzelne Zusammenhänge erhellen, stellt sich die Frage nach einer Metrik des sozialen Raumes, deren Entfernungen als Parameter z.B. in eine Theorie des Verkehrs- und Siedlungsverhaltens einzugehen vermögen. Angesichts der Vielfalt der Verhaltensweisen wird die Eindeutigkeit der Physik dabei nicht zu erreichen sein. Schon die Frage nach der Einheit bzw. Dimension, in der die Distanzen zu messen wären, führt zu Schwierigkeiten: Länge kann es nicht sein, denn dies verdoppelte lediglich den physikalischen Raum, und Zeit – solange man nur die Reisezeit betrachtet – allein auch nicht, denn dies ignorierte die Kosten. Letztere lassen sich im Sinne der Werttheorie in durchschnittlicher Arbeitzeit ausdrücken. Das führt jedoch zu einem für die Beschleunigungs- bzw. Kompressionsthese paradoxen Resultat: Bezieht man die zurückgelegte Strecke auf die gesamte für die Fortbewegung aufgebrachte durchschnittliche Arbeits- oder gar individuelle Lebenszeit, dann sehen sich die meisten ZeitgenossInnen stark abgebremst. Im Sinne von pro Stunde der Lebenszeit zurückgelegter Entfernung schnell fortbewegen kann sich nur, wer sich fremde Lebenszeit anzueignen vermag. Beschleunigung impliziert verschärfte Ausbeutung.21

Das heutige Regime von Raum und Zeit hat nicht nur seinen Preis in Form der Erfahrung raumzeitlicher Kompression und Zersplitterung, sondern die ihm Unterworfenen müssen seine materiellen Voraussetzungen erarbeiten und dafür einen Teil ihrer Lebenszeit opfern. Effizient im Sinne von – pro Einheit verausgabter Lebenszeit – zurückgelegter Strecke bzw. erzielter Bewegungsfreiheit ist dieses Regime vor allem für eine Mobilitätselite. Die Dispositive des Transports sind auch solche der Macht. Eine soziale Metrik hätte auch die Aufgabe, die Dimension der Polarisierung, die darin liegt, zu explizieren.

Anmerkungen

1) Paul Krugman (Development, geography, and economic theory, Cambridge MA, 1995, 31-65) nimmt hier immerhin eine Lücke wahr.

2) Alan Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn: Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München, 1999

3) David Harvey, Spaces of neoliberalization: towards a theory of uneven geographical development, Hettner-Lecture 2004, Stuttgart, 2005, 93-115

4) Isaac Newton, Mathematical principles of natural philosophy, Berkeley, 1999, Definitions, Scholium

5) Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt, 2006, 29-46; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001, 17-35

6) Ein besonders exaltiertes Beispiel dafür bietet Paul Virilio, Fluchtgeschwindigkeit, München, 1996, 24-29; siehe dazu auch Sokal, Bricmont, a. a. O., 169-199

7) Etwa bei David Harvey, The condition of postmodernity, Oxford, 1990, 266 und Löw, a. a. O., 23

8) Siehe etwa Henri Poincaré (Science and Hypothesis, New York, 1952, 35-88), der bereits viele Einsichten der genetischen Epistemologie vorwegnimmt. Deren Sicht auf die Genese der Raumvorstellung präzisiert Jean Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main, 1973, 50-68

9) So etwa Schroer, a. a. O., 35-40 und Löw, a. a. O., 24-28

10) Newton, a. a. O. Hilary Putnam (An examination of Grünbaum‘s philosophy of geometry, in: ders. Mathematics, matter and method: Philosophical papers; Vol. I. 2. Aufl., Cambridge, 1979, 98-100) weist zu Recht darauf hin, dass Newton als Physiker zwar überholt sei, doch zu seiner Zeit die Theorie entwickelte, die den Tatsachen am konsequentesten Rechnung trug, und als profunder Denker immer noch unseren Respekt verdiene.

11) Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 9. Aufl. 1933, Saarbrücken, 2006, 220-237, 267-271

12) Rafael Ferraro, Einstein’s space-time: an introduction to Special and General Relativity, New York, 2007, 272-277; Max Jammer, Concepts of space: the history of theories of space in physics, 3. Aufl., New York, 1993, 192-199

13) Max Planck, Vom Relativen zum Absoluten, 1924, in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt, 1983, 181

14) Wie z.B. Harvey (Spaces of Neoliberalization, 94) und Schroer (a. a. O., 38, 46) zu glauben scheinen. Newton (a. a. O., Axioms, Corollary 5) widerspricht dem explizit.

15) Eine Gruppe von Transformationen (im algebraischen Sinne) zeichnet sich dadurch aus, dass es unter ihnen eine neutrale gibt (sie entspricht der Null bei der Addition) und dass man sie verknüpfen und umkehren kann.

16) Hermann Weyl (Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, 4. Aufl., Darmstadt 1976, 91-122) bietet eine mit mäßiger mathematischer Vorbildung lesbare Darstellung dieser Methoden.

17) Poincaré, a.a.O., 60-64

18) Rainer Fischbach, Mythos Netz: Kommunikation jenseits von Raum und Zeit, Zürich 2005, 25-29

19) Harvey, The Condition of Postmodernity, 241-242

20) Fischbach, a. a. O., 189-251

21) Ivan Illich (Die sogenannte Energiekrise oder: die Lähmung der Gesellschaft, Reinbek, 1974) gebührt das Verdienst, auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht zu haben.



Rainer Fischbach ist Seniorberater in einem Software- und Beratungshaus und publiziert gelegentlich über Fragen von Naturwissenschaft, Technik und Gesellschaft. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Softwaresysteme und besonders das Datenmanagement für die industrielle Produktentwicklung. Darüber hinaus gilt sein Interesse dem Zusammenhang von Raum und Infrastruktur. Seine Website findet sich unter www.rainer-fischbach.de .

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